Kapitel 7

Nach diesem, zugegeben, ziemlich verwirrenden Gespräch war ich direkt nach Hause gegangen. Irgendwelchen Schulstoff konnte mein Hirn definitiv nicht mehr verarbeiten.

Ich musste sowieso noch für den Ausflug mit Philipp und Klaudia packen. Auf einmal kamen Zweifel auf. Was wenn ich plötzlich wieder mit Blitzen um mich schieße und meine beiden Freunde verletzt werden... oder noch schlimmer? Sollte ich den Ausflug absagen?

Aber dann kam mir das Versprechen wieder in den Sinn, welches ich Matthias gegeben habe.
Ein Versprechen in so einer Situation, das bricht man nicht!

Am nächsten Morgen holten mich die beiden sehr früh ab, da wir eine lange Fahrt vor uns hatten. Die Stimmung im Auto war ganz anders als sonst.

Unser vierer Team ergänzte sich normalerweise perfekt. Klaudia war die Organisatorin und fand auf Satellitenbildern, im Netz oder sonst wo immer die vergessenen Orte. Philipp war die Sportskanone und Matthias war der neugierige Entdecker, der sich in jeden Schacht zwängte. Ich fand irgendwie immer die idealen Wege und konnte mich in unübersichtlichen Gebieten bestens orientieren.

Vielleicht hat das irgendwas mit dem Feenzeug zu tun?

Nachdem wir ewiglang auf der Autobahn und anschließend durch kleine Dörfer gefahren sind, fuhren wir auf einer Landstraße durch den Wald. Als ich den grossen See sah, in dessen Nähe sich das stillgelegte Hotel befinden soll, kramte ich sofort die Digitalkamera hervor und machte Fotos für Matthias.
Ich vermisste ihn sehr. Es war so einsam, so alleine auf der Rückbank.

Wir stellten das Auto bei einem Wanderparkplatz ab, schulterten unsere Rucksäcke und liefen los. Da mein GPS Gerät kaputt war, übernahm Philipp die Navigation. Er schien aber etwas aus der Übung zu sein, den prompt verpassten wir eine Abzweigung und mussten nochmals zurück laufen.

Dann ging es tief in den Wald, abseits jeglicher Wege. Auf einmal stiessen wir auf bemoosten Asphalt. Ein Indiz dafür, dass es nicht mehr weit war. Dann konnten wir schemenhaft zwischen den Bäumen etwas erkennen. Anhand der Efeuranken hätte man zuerst gar nicht vermutet, dass das ein anschauliches Gebäude ist.
Oder zumindest mal gewesen war...

Die abblätternde Fasade ließ erahnen, dass das Gebäude seit mehr als 50 Jahren sich selber überlassen wurde. Moos quoll aus dem Putz in der Wand, die Witterungs- und Sonneneinstrahlung hatten die einstige Farbe das Hauses unkenntlich gemacht und Efeuranken schlangen ihre Zweige bis fast hoch zum Dach, als würden sie das Haus zum Frühstück essen.
Es faszinierte mich immer wieder, wie die Natur ihre Fläche im Laufe der Zeit zurückholt.

Wir liefen am verrosteten Zaun entlang und quetschten uns durch eine Lücke. Im Vorgarten des Hotels zogen wir unsere Schutzhelme und Handschuhe an und kletterten durch ein eingeschlagenes Fenster im Erdgeschoss. Zum Glück hatte ich heute morgen noch Schmerzmittel genommen. Sonst hätte ich meinen Körper nicht durch das Loch in der Scheibe ziehen können. Aber so blieb ich fit.

Andere lösten ein teures Abo im Fittnescenter, ich machte hier Sport gratis. Okay, ganz so kostenlos war es auch wieder nicht, denn wenn wir von der Polizei erwischt werden würden, konnte das richtig teuer werden. Hausfriedensbruch und so.
Aber das war der Nervenkitzel am Ganzen.
Ein bisschen wie Detektiv spielen und dem Geheimnis hier auf den Grund gehen ohne vom Bösewicht erwischt zu werden.

Ich weiss, das wiederspricht sich dem aus der Schule, dass die langweilige Julia doch nicht ganz so lam war und sogar was illegales macht...
Es war ein geheimes Hobby, von dem die wenigsten in der Gesellschaft wussten und das war auch gut so!

Ausserdem würde die Schüler es niemals verstehen.
Das sind Großstadtkinder! Okay, ich auch, aber die rennen vor einem Regenwurm schreiend weg! Ich liebte einfach in der Natur das Spiel mit den Elementen. Ein Lagerfeuer an einem fröhlich plätschernden Bach zu machen, auf einem grossen Stein sitzend dem Wind zu zu höhren, wie er durch die Blätter raschelt.
Niemals würde ich das in der Schule sagen.
Alleine schon weil sie wussten, dass ich Wandern gehe, wurde ich als Urmensch und Neandertaler bezeichnet.
Und ich hatte sowieso Angst, dass diese verborgenen Plätze nichtmehr so Geheim waren und für illegale Partys, Drogengeschäfte oder was weiss ich missbraucht wurden.

Wie ein Sack Kartoffeln plumpste ich auf den bräunlich verfärbten, gefliesten Boden. Dank meiner dicht gepolsterten, dunkelblauer Regenjacke wurde der Sturz wie ein Kissen etwas abgefedert.
Ich war definitiv schon eleganter durch ein Fenster geklettert.

"Alles okay?" fragte Philipp und reichte mir die Hand. "Ja..." käuchte ich, weil es mich doch mehr angestrengt hatte, nahm dankbar seine Hand und wollte mich soeben aufrichten, als er plötzlich "Pass auf, die Scherben!" rief. Wie versteinert hielt ich inne. Mit dem Fuss wischte der grosse Mann die scharfkanntigen Splitter, die um mich herum lagen, zur Seite. Das hätte böse ausgehen können! Als die Verletzungsgefahr gebannt war, half er mir auf zu stehen. "Danke, die hab ich gar nicht gesehen" - "Klar! Möchte dich doch nicht als Papierfetzen nach Hause bringen" zwinkerte er mir mit einem verschmitzten Grinsen zu.

Ich schaute mich um, wärend der Mann seiner Freundin half.
Sogleich viel mir als erstes die verunstaltete Graffitiwand auf. Es versetzte mir einen Stich. Kein schönes Bild oder Schrift, sondern einfach nur hässliches Gekafel! Es macht mich immer wieder traurig wie manche Menschen mit solchen historischen Gebäuden umgingen. So Respektlos! Als würden sie ein Grab mit Füssen treten! Dabei hatte so ein altes Haus auch seine Würde, die man respektieren sollte.
Wie ein Verstorbener, den man auf dem Friedhof ebenfalls mit Kerzen und Blumen ehrt. Aber ein ganzes Haus konnte man nicht bestatten.

Es hatte auch seine Geschichte und Erlebnisse aus der Vergangenheit. Oft stellte ich mir vor was das für Menschen gewesen waren, die hier gelebt hatten. Was sie so gemacht hatten. Hach, könnten die Mauern nur ihre Geschichten erzählen...

Wir befanden uns in einer Art Küche. Herd, Kühlschrank und Spühlmaschine waren herausgerissen und von Anderen mitgenommen worden, aber die Kochinsel und Arbeitsfläche waren nocht da. Wie so häufig bei Lost Places. Wir gehören zu den richtigen Urban Explorer, die nichts mitnahmen, ausser ein paar selbstgeschossene Fotos.

Vorsichtig gingen wir weiter und prüfen bei jedem Schritt, ob der Boden nachgibt. In der ehemaligen Lobby fiel das Sonnenlicht besonders schön durch die Fenster, sodass ich super Fotos machen konnte. Das Lichterspiel wirkte fast schon magisch...

Nachdem ich meinen Blick endlich losreissen konnte, gingen wir langsam, einer nach dem andern, die Treppe hoch, damit die maroden Stufen bei überbelastung nicht nachgaben. Ich ging voraus. Oben angekommen schaltete ich die Stirnlampe an und lief direkt auf eines der Zimmer zu... als ob es mich wie ein Magnet anzieht. In dem Zimmer war ein verstaubtes Bett.

Aber meine Aufmerksamkeit galt der grossen, wunderschönen Waldmalerei eines Schmetterlings. Die verschnörkelten Flügel waren in verschiedenen Farben bemalt, die ineinander übergehen. Bei genauerer Betrachtung hatte ich das Gefühl, die Flügel würden sich leicht bewegen.

Ich erschreckte mich, als ich plötzlich eine Bewegung hinter mir warnahm und drehte mich ruckartig um, aber es war nur Klaudia, die mir nachgekommen war.
"Huch" sie erschreckte sich ebenfalls und wir schauten uns an.
Ich sah von ihrer hellen Lampe kurz alles weiss. Die Zeit schien für einen Moment still zu stehen. Als hielte sie ebenso gespannt den Atem an.

"Entschuldige meine Lampe ist wohl zu hell" sie schraubte an der Lampe herum und senkte die Helligkeit "Deine Augen haben das Licht regelrecht reflektieren." murmelte sie. Oh weia! "Nicht, dass du wegen mir blind wirst" sie machte einen schuldbewusten Gesichtsausdruck. Erleichtert atmete ich aus.

Leuchtende Augen muss wohl auch so ein Feending sein. Erinnert mich ein bisschen wie an den Avatar-Zustand aus meiner Lieblingsfernsehserie. Energisch schüttelte ich den Kopf um die Gedanken zu vertreiben. Heute wollte ich nicht daran denken.

Einfach nur ICH sein und die ganzen Sorgen vergessen! Nur für einen Moment! Weder an meine Mitschüler in der Schule, das verwirrende Feenzauber-Zeug, noch an Matthias im Krankenhaus denken! ...Matthias
Schluss!!!

Da viel auch Klaudias Blick auf den Schmetterling an der Wand "Ein warer Künstler hat das geschaffen" flüsterte sie und strich ehrfürchtig über die Kontour der Flügel.

"Ey Leute, das müsst ihr euch ansehen" kam es dumpf aus dem Treppenhaus. Sofort schreckte ich aus meinem inneren Gedankenkampf. Eilig liefen wir ganz nach oben, wo Philipp's Stimme her gekommen war.
Als wir oben angekommen waren, war es als wären wir in einer anderen Welt.

Wir standen auf dem Flachdach des Hotels und vor uns erstreckte sich der malerische See, indessen sich die Sonnenstrahlen spiegelten. Links und rechts grüner Wald und in weiter Ferne die Berge. Es sah aus wie auf einer Postkarte.

Für einen Augenblick vergass ich alle Sorgen um mich herum und das erste mal seit einer Woche lachte ich. Ein feiner weißer Schleier legte sich um mein Gesichtsfeld und ich breitete die Arme aus. Wind kam auf und strich mir durchs Haar und kleine mini Blitze hüpften über meine Arme, als würden sie Tanzen. Es war ein unbeschreibliches Gefühl.

"Ich wünschte Matthias könnte das sehen" auf einmal wurde ich traurig, und der Wind hörte auf meine Wangen zu streicheln. "Wir auch" meine beiden Begleiter kamen zu mir und nahmen mich beide in den Arm.

So standen wir drei eine ganze Weile und ließen unsere Gedanken in die Ferne treiben.

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