Kapitel 4
Den Rest des Schultages bekam ich gar nicht mehr mit. Jetzt stand ich an der Bushaltestelle und wartete. Die Meisten Schüler hatten sich schon in den vorherigen Bus gequetscht. Wie sehr ich das Gedränge und die laute Geräuschkulisse im Bus immer hasse. Darum nahm ich meistens den Bus zu Randzeiten 20 min nach Schulschluss.
Ich gehe Mittags nach Schulschluss meistens in den nahegelegenen Park und aß auf einer Bank das mitgebrachte Sandwich. Heute hatte ich aber keinen Hunger und nach einem Spaziergang war mir auch nicht mehr zu Mute.
So stand ich etwas Abseits der Bushaltestelle und beobachtete die vorbeifahrenden Autos. Die Schüler an der Haltestelle machten mich noch mehr wütend, wie respektlos sie miteinander umgehen, sich pöbeln, schupsen und beschimpfen. Was daran lustig sein soll, werde ich wohl nie verstehen.
Zum Glück war ich jetzt alleine. Ich schaute auf die Uhr. 12:22. Noch zwei Minuten bis MEIN Bus kommt.
Ich ging nach vorne zur Haltelinie um bei der vordersten Tür einsteigen zu können.
Schon von weitem konnte ich das grosse gelbe Ungetüm zwischen den Bäumen erkennen.
Als ich den Fahrer erblickte, machte mein Herz einen kleinen Hüpfer. Ich hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen, weil er in letzter Zeit die Linien in der Innenstadt fahren und oft am Wochenende Arbeiten musste. Daher konnte er in letzter Zeit nicht oft mit zu Wanderungen und Exkursion kommen.
Er lächelte, als er mich erkannte und betätigte zwei mal die Lichthupe. Ein stiller Gruss an mich gerichtet.
Er brachte den Bus mit der Vordertür direkt vor mir zum Stehen, sodass ich ohne Umwege einsteigen konnte. "Hey" begrüßte er mich, wärend sich die Tür öffnete und ich den Bus betrat, doch gleich darauf verfinsterte sich seine Miene "Oh weia, was ist den jetzt wieder passiert?" Der junge Mann betrachtete mich besorgt von oben bis unten.
"Frag nicht" mit einem seufzen setze ich mich auf den vordersten Sitzplatz, direkt neben dem Fahrer. Mit kritischem Blick sah Matthias in den Rückspiegel und beobachtete wie die letzten Schüler im hinteren Teil des Busses einstiegen.
Auch er hasste es, den Kurs direkt nach Schulschluss zu fahren. Aus demselben Grund wie ich, nur musste er sich dabei noch konzentrieren um die Fahrgäste sicher von A nach B zu bringen.
Mit einem Klick auf einen der Schalter wurden die Türen geschlossen, der Fahrer betätigte den Blinker, sah in den Seitenspiegel und fuhr los.
Ich erzählte ihm was in der Schule passiert war. Matthias hörte einfach schweigend wärend dem fahren zu. Genau das mochte ich an ihm.
Als ich zu der Stelle kam, als mein GPS aus dem Fenster geworfen wurde, trat er bei einer roten Ampel etwas zu hart auf die Bremse. Auch die Art und Weise wie verkrampft er jetzt das Lenkrad umklammerte zeigte auch ohne Worte wie sehr ihn das Ganze ebenfalls emotional mitnahm.
Ich kramte das Navitationsgerät aus dem Rucksack und wartete, bis wir die nächste Haltestelle erreichten. Ich reichte es ihm und er drehte es hin und her. "Puh, da haben die wirklich ganze Arbeit geleistet." kam er zum Schluss. "Es geht mir nicht um das Gerät, sondern um die Daten darauf, die jetzt futsch sind" jammerte ich. "Ach, das ist das kleinste Problem. Die SD Karte ist im Gehäuse gut geschützt und sollte normalerweise noch funktionieren. Und selbst wenn nicht, Philipp hat die Wegpunkte sicher noch gespeichert und kann dir eine Kopie machen." versuchte mich der Fahrer zu beruhigen. Er gab mir das Gerät zurück, rückte das schwarze Capi mit dem silbern eingestickten geschwungenen Logo des Busunternehmens zurecht und fuhr wieder weiter.
Ich schaute aus dem Fenster hinaus und hing meinen Gedanken nach. Das Ganze wühlte mich innerlich ziemlich auf. Aber es hatte gut getan mit jemand neutralem darüber zu sprechen. Obwohl mein Freund nicht viel ausrichten konnte, half mir schon ein verständnisvolles, offenes Ohr.
Der Bus fuhr auf einen Kreisverkehr zu. Als er einspurte um die zweite Ausfahrt nehmen wollte, krachte es plötzlich und ich wurde von der Wucht das Aufpralls nach vorne geschleudert. Ein stechender Schmerz breitete sich in mir aus.
Menschen schrieen. Selber gelang es mir nicht. Die Luft war so knapp wie auf einem hohen Berg. Alles war auf dem Kopf gedreht.
Ich lehnte bäuchlings über der vordersten Stange. Mein Bauch schmerzte und weiße Punkte tanzten vor meinen Augen. Oh nein, bloß nicht das Bewusstsein verlieren!
Krampfhaft starrte ich den Boden an. Hoffte, dass er nicht auf mich zu rasen würde. Wie ein Chamäleon zwang ich die Augen offen zu halte, weil ich fürchtete, sie beim nächsten Blinzeln nicht mehr auf zu bekommen, weil die Dunkelheit es ihnen verbot.
Die letzten Kräfte mobilisierend, versuchte ich mich mühsam von der Stange hochzuziehen. Mit einem schmerzhaften Keuchen entwich die steckengebliebene Luft aus meiner in Flammen stehenden Lunge, wärend ich die Finger krampfhaft in das mittlerweile warme Matall der Stange bohrte. Nach kurzer Zeit beschwerten sich die Finger mit einem unangenehm Kribbeln. Das gesamte Gewicht von 52 Kilo auf den Schultern lastend aus einer misslichen Lage hoch zu stemmen. Für die 10 kleinen Glieder eine Herkulesaufgabe!
Ich konnte förmlich spüren, wie das ganze Blut, welches eigentlich in den Armen und Fingern gebraucht wurde, hoch in den Kopf floss. Mein Gesicht musste wohl nicht nur vor Anstrengung aussehen wie eine Tomate. Erst als die Spitze meines linken Turnschuhs etwas Hartes berührte, realisierte ich erfreut, dass sich meine Bemühungen gelohnt hatten. Erleichtert streckte ich die linke Hand nach der roten senkrechten Haltestange aus, um meinen Körper weiter zu stabilisieren. Doch genau in diesem Augenblick kippte der Bus zur Seite. Ich verlor den Halt und griff ins Leere.
Plötzlich schien alles zu schwebe und mein Sturz verlangsamte sich. Kleine Blitze zuckten in der Luft... aber vielleicht habe ich mir das nur eingebildet.
Ich fiel in den Gang und der Bus kam zum Stillstand.
Plötzlich öffneten sich alle Türen. Hatte jemand die Notentriegelung betätigt? Ich hatte keine Zeit darüber nachzudenken. Schnell rappelte ich mich auf. Ignorierte den Schmerz, der kläglich daran scheiterte mich von jeglicher Bewegung abhalten zu wollen.
Meine einzige Aufmerksamkeit galt dem Fahrer, der regungslos, zusammengesunken in seinem Sitz hing. "Matthias?" meine Stimme zitterte. Keine Antwort. Vorsichtig berührte ich seine Wangen und sein Kopf kippte augenblicklich schlaff auf seine Brustkorp. Jegliche Farbe war ihm aus dem Gesicht gewichen.
"MATTHIAS!" ich rüttelte an dem schlaffen Körper. Als sein Kopf zur Seite kippte, zuckte ich erschrocken zurück und mir wurde schlecht. Seine ganze linke Gesichtsseite war voller Blut!
Er brauchte sofort ärztliche Hilfe.
Ich drehte mich um "Hallo! Ist hier irgend jemand Artzt oder arbeitet im Gesundheitswesen?" Doch die Fahrgäste waren alle mit sich selbst beschäftigt und halfen sich gegenseitig aus dem umgekippten Bus. Da fiel mein Blick auf den Boardcomputer. Zum Glück hatte mir Matthias einmal einige Tasten und Funktionen erklärt.
Ich drückte auf das rote Dreieck auf den Display, welches ein Notsignal an die Leitstelle schickt. An mein Handy habe ich in diesem Augenblick ehrlich gesagt gar nicht mehr gedacht.
Das Gerät piepte "Leitstelle Keller" meldete sich die Leitstelle per Funk "Matthias was ist los?" Meine Stimme zitterte als ich mich nach vorne beugte und ins Mikrofon sprach "Es gab einen Unfall beim Kreisverkehr kurz vor der Augustinerstrasse. Busfahrer Matthias ist verletzt und nicht ansprechbar! Ich wiederhole: Busfahrt verletzt und nicht bei Bewustsein, braucht ärztliche Hilfe!" Meine Stimme brach. Wenn ihm etwas passiert... Er war einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben! Er war wie ein Onkel für mich.
"Ich wiederhole: Unfall beim Kreisverkehr vor der Augustinerstrasse. Fahrer verletzt. Bitte bestätigen." wiederholte die Leitstelle. Ich räusperte mich "Ja, stimmt so" - "Okay wir kontaktieren die Polizei und bieten einen Rettungswagen auf. Sind sonstige Fahrgäste auch noch verletzt?" Ich schaute mich um. Die meisten Fahrgäste waren aus dem Bus geklettert und standen oder sassen im Gras auf dem Kreisverkehr. "Ich bin nicht sicher" gab ich zu "Wir schicken zur Sicherheit noch einen weiteren"
Was der Typ von der Leitstelle sonst noch gesagt hatte, wusste ich nicht mehr. Meine Hand war während des Gesprächs automatisch zu der von Matthias gewandert und drückte sie, wie bei einer bettlägrigen Oma um zu zeigen, dass man noch da war. Die Hand war kalt.
Ich drückte fester zu und eine grausame Vorahnung ereilte mich. "Shit" Panisch krämpelte ich seinen Ärmel hoch und umklammerte ganz fest seinen Unterarm. Kein Puls!
"Scheisse man, bitte tu mir das nicht an!" Mit der einen Hand hielt ich den Arm umklammert, mit der Andern drückte ich auf seine linke Brust. Kein Herzschlag!
"NEIN! Nein,nein,nein!" mir war, als wurde mir der Boden unter meinen Füssen weggezogen und ich stürze in ein schwarzes Loch. "Bitte geh nicht! Ich brauche dich doch noch." schluchzte ich.
Alles in meinem Innern schrie. Mein Verstand setzte aus. Wie von Sinnen drückte ich auf seinen Brustkorb. Keine Ahnung wie eine Herzdruckmasage geht, aber ich konnte nicht einfach nur rumsitzen und nichts tun bis der Notarzt kommt.
Ich drückte weiter und weiter, wie im Wahn. Ich durfte ihn nicht verlieren. ICH DURFTE IHN NICHT VERLIEREN!
Ich sah nur noch verschwommen vor lauter Tränen. Da zuckte der Körper unter meinen Händen plötzlich. Ich drückte wieder den Brustkorb nach unten und wieder bäumte sich der Körper auf. Ich starrte auf meine Hande. Kleine Blitze zuckten darüber. Als ich die Hände langsam näher zusammenführte, verbanden sich auch die Blitze.
Es war faszinierend und beängstigend zugleich.
Instinktiv wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich legte beide Hände aufeinander und mit einem lauten Schrei drückte ich so fest ich nur konnte auf den Brustkorb des Busfahrers. Es war als würde ein Blitz direkt mitten in den Bus einschlagen. Die Elektronik der Fahrerkabine funkte und die Scheiben brachen klirrend in 1000 Scherben. Alles um mich herum sah ich weiss.
Da sah ich plötzlich wieder klarer und die Blitze hörten auf. Ich atmete schwer. Auf einmal fühlte ich etwas unter meinen Händen. Etwas regte sich. Schwach, aber ein regelmäßiger Rhythmus war leicht erkennbar. Als sich der Brustkorb mit einem Atemzug anhob, brachen mir die Beine weg und ich sank entkräftet zu Boden.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top