Kapitel 22
Ein erschreckter Schrei war zu höhren, gefolgt von einem scharfen "Was zum Henker macht ihr da?"
Der Mann und die Frau waren von ihren Klappstühlen aufgestanden. Zwei grosse Gläser Latte ma
mcchiato standen unberührt auf dem klapprigen Bistrotisch. Nichteinmal die mini Kekse auf dem kleinen Teller, auf welchem das Getränk serviert worden war, hatten sie angefasst.
Wir mussten aber auch ein echt schräges Bild abgeben. Ein Mann mittleren Alters trägt eine dreckige Uniform des städtischen Busunternehmens, kriecht mit einer Jugendlichen in Outdoorkleidung aus einem Loch und steht jetzt mit ihr mitten im Bach.
Bevor die beiden die Polizei rufen könnten, wegen Verdacht auf sexuellen Missbrauch an Minderjährigen, rief ihnen Matthias schnell ein hastiges "Geocaching!" zu.
"Bitte was... Biotester?"
Würde mir die Kälte vom Stollen und die vergangenen Erlebnis nicht noch in den Glieder stecken, hätte ich so einen Lachflash bekommen.
"Nein, GEOCACHING! Moderne Schatzsuche..." Mein Begleiter deutete auf das Handy in meiner Hand, auf welchem noch immer die Akku fressende Lampe eingeschaltet war. Wie konnte er nur so Ruhig eine Ausrede finden?
"Ähm... da drinn!?" ungläubig zeigte der Mann mit dem Finger auf den Ausgang des unterirdischen Baches. Wie auf Knopfdruck nickten wir.
"Ihr seht beide aus als hättet ihr einen Geist gesehen!" bemerkte die bisher schweigsame Frau mit argwöhnischem Unterton. Matthias und ich sahen uns beide an als würden wir uns stumm fragen Sehen wir wirklich so schlimm aus?
"Der... der war echt grusslig! Mit so Spinnen aus Plastik, die... die einem beim Öffnen der Kiste entgegenspringen und so..." versuchte ich mühsam die Geschichte weiter zu spinnen. "Also besser nicht nachsehen!" fügte ich hastig hinzu. Die Frau hatte wärend des Gesprächs dem Mann einen warnenden Blick zu geworfen, als dieser interessiert zum Tunnelausgang geschaut hatte.
Zumal da unten gar nichts versteckt war. Ausser natürlich echte Spinnen...
Die Beiden setzten sich wieder. Erleichtert atmete ich aus.
Froh darüber ein Problem weniger zu haben, watete ich in Richtung Ufer.
Wir kletterten die rutschige Böschung hinauf und schwangen uns über die Stange das Geländers.
"Danke" flüsterte ich Matthias erleichtert zu. Er winkte ab "Ach, kein Ding"
Matthias atmete noch einmal tief durch, eher er die nächsten Worte sprach. "Eigentlich müsste ich mich bei dir bedanken. Immerhin hast du mir jetzt schon zwei mal das Leben gerettet."
Ich warf meiner Begleitung einen Seitenblick zu.
Spinnweben hingen an seinem schwarzen Capy, welches dem ünifarbenen Kleidungsstücke ein spezielles Muster verlieh. Das hellblaue Hemd und die schwarze Hose wiesen Löcher und Schlammspuren auf.
Schweigend waren wir durch die dunkle Röhre gekrochen. Nur das Schaben der Kleidung und angestrengte Käuchen war zu höhren gewesen.
Jeder schien seinen Gedanken nach gehangen zu haben um das gerade Erlebte zu verarbeiten.
Wäre ich nicht gewesen, hätte ich weder ihn noch Philippe oder Klaudia in Lebensgefahr gebracht.
"Ich weiss du möchtest nicht darüber reden. Das ist völlig okay. Egal was passiert ist, ich verurteile dich nicht!
Du bist eine wunderbare Person, der ich immer zuhören werde, egal wann und wo.
Daran wird sich so schnell nichts ändern."
Er schien seine Worte sorgfältig ausgewählt zu haben. Er kannte mich mittlerweile so gut, dass er wusste, dass er mich nicht bedrängen und unter druck setzen durfte.
Wir steuerten auf die alte Steinbrücke zu, welche die Altstadt mit dem neuen Stadtteil verband.
Schon von weitem sah man das 17 stöckige Hochhaus der Bank, in welcher Philipp arbeitete. Beim Gedanke an ihn zog sich mein Magen zusammen.
"Wir waren gemeinsam unterwegs..." begann ich langsam zu erzählen. Es passierte einfach.
Meine Begleitung nickte. "Ich weiss. Sie haben es mir gesagt."
Ich hielt inne. Hielt die Worte zurück, die sich auf meiner Zunge anstauten und drohten wie eine Lavine heraus zu brechen.
Wie viel konnte ich erzählen?
So gerne würde ich ihm alles sagen. Berichten, was in den letzten Monaten passiert war. Von der Feenschule Alfea. Über die Sache mit dem Avatar. Alles, was sich angestauht hatte, einfach mal raus lassen.
Aber das ging nicht...
Je mehr er wusste, umso mehr brachte ich ihn noch mehr in Gefahr!
"Philipp und Klaudia ist etwas schlimmes passiert..." Erschrocken riss mein Freund die Augen auf. "Wiso, was ist mit ihnen?" fragte Matthias, sichtlich betroffen, nach. Ich schluckte. Philipp und Klaudia waren auch seine Freunde. Die Drei hatten sich schon gekannt, bevor ich in ihr Team gekommen war. Er verdiente die Warheit. Zumindest die Hälfte.
"Sie sind weg..." - "Wie weg?" Der Busfahrer blieb stehen. Er hielt mich an der Schulter fest und zwang mich ebenfalls stehen zu bleiben.
"Sind sie verunglückt?" Er schaute sich verstolen um, ehe er sich näher zu mir beugte und "oder hat es etwas mit diesen Superkräften zu tun?" zuflüsterte.
"Es... Es ging alles so schnell. Ich... ich konnte ihnen nicht helfen... Es ist m... meine Schuld! Ich hätte..."
Er unterbrach meinen wirren Redefluß, indem er mich in eine enge Umarmung zog.
"Es tut mir leid" brachte ich mit erstickter Stimme hervor.
Die Vorstellung was ihnen jetzt gerade angetan wurde...
Was sie meinetwegen erleiden mussten...
Eine Schlinge legte sich um meinen Hals. Ich rang nach Luft.
"Hey, hey, alles Gut. Wir kriegen das hin!" er legte eine Hand auf meine Schulter. Zuversicht spiegelte sich in den blaugrauen Augen wieder. "Es gibt immer eine Lösung!"
Matthias schaute Gedankenverloren über das Wasser, welches wir soeben überquerten.
"Wenn ich daran denke, was du mir alles erzählt hast, was in der Schule so passiert ist. Tagtäglich bei all den belastenden Dingen die Lebensfreude nicht zu verlieren... Das hätte ich nicht geschafft. Du bist echt Stark, Julia!"
Wenn er wüsste...
Ich hatte diese grosse Macht in mir. Und trotzdem fühlte ich mich so schwach.
"Du bist nicht allein, Julia. Auch wenn es sich jetzt so anfühlt. Es gibt immer jemand der dir helfen wird. Gemeinsam ist man stärker. Vergiss das niemals!" Die beruhigende Stimme, seine stetige Zuversicht, hatte ich so schrecklich vermisst. Nur mit Mühe konnte ich eine Träne zurückhalten.
Ein ohrenbetäubender Knall ertönte plötzlich.
Ich stolperte. Reflexartig fing mich Matthias auf. Erschrocken drehten wir uns um. Mein Augen weiteten sich vor entsetzen.
Die uralte, frisch restaurierte Brücke über die wir eben noch gelaufen waren, war fort.
Dort wo eben noch Strasse und Bürgersteig gewesen war, klaffte eine meterbreite Schlucht.
Die Zeit schien eingefroren. Alles verlief in Zeitlupe. Dumpf drangen Schreie in die Ohren. Wie Menschen an mir vorbei rannten bekam ich kaum mit.
Ich wollte helfen. Die Menschen retten! Wie es Aang und Korra getan hatten. Der Avatar sein!
Aber ich war gefangen in einer endlosen Zeitschleife. Bewegungsunfähig!
Ein Video in Slomo, welches immer wieder auf Pause gedrückt wurde.
Mit quitschenden Reifen kam ein Bus nur eine Handbreite vor dem Abhang zum Stehen. Die schweren, angeknaxten Steine der denkmalgeschützten Brücke begannen unter dem Gewicht des Fahrzeugs zu bröckeln.
"KARSTEN!" Der panische Schrei meines besten Freundes war wie die Tröte zum Startschuss beim 100 Meter Lauf. Endlich spürte ich meinen Körper und die Umgebung wieder. Ich rannte los!
Mit grossen Schritten stieg ich über eine Holzbank auf die Mauer der Aussichtsplatform und sprang die gut 8 Meter in die Tiefe. Wasser kam mir entgegen, fing mich auf wie eine fürsorgliche Mutter, die ihr Kind umschmiegt.
Eine weitere Welle erhob sich, fing den Sturz des senkrecht fallenden Buses ab und trieb ihn kurz vors Ufer. Ein Fingerschnipsen reichte aus um die Türmechanik zu entriegeln.
Erleichterung machte sich breit als ich sah, dass niemand schwer verletzt war.
Matthias kam herbei geeilt und zog seinen Kollegen an Land.
Ich wollte das Selbe mit den übrigen Menschen im Wasser tun, als es plötzlich einen weiteren Knall in der Ferne gab. Eine grosse schwarze Rauchsäule stieg über den Dächern in den Himmel.
Das Hochhaus kippte langsam zur Seite!
Wie ein Baum der abgesägt wurde.
"Hilf den Leuten aus dem Wasser!" schrie ich meinem Freund zu und sprang wieder auf die Wasseroberfläche. Wie ein Surfer sauste ich auf einer kleinen Welle zur Unglücksstelle.
Wenn ich nicht handelte, würden dutzende Menschen jetzt sterben!
Meine Stadt, die ich eigentlich gemocht hatte und bis dato mein Zuhause nannte, würde zerstört werden.
Vorort sammelte ich so viele Wellen wie möglich und ließ sie gegen die Fassade des fallenden Gebäudes schnellen.
Die Kraft des Wasser bremste das kippende Gebäude. Doch zum Aufrichten reicht es nicht.
Das war egal. Es durfte nur nicht auf die umliegenden Häuser fallen!
Das wäre eine Tragödie!
Immer wieder schickte ich mit schöpfenden, schlagenden Armbewegungen neues Wasser nach. Ich machte weiter, immer weiter. Ohne Pause.
Mit jeder neuen Bewegung begannen meine Arme vor Erschöpfung mehr zu schmerzen.
Ich musste die Menschen im einstürzenden Hochaus irgendwie retten und gleichzeitig die Umgebung schützen.
Meine Kraft ließ nach. Doch ich durfte nicht aufhören. Nicht aufgeben!
Die Fasade begann zu bröckeln. Nicht mehr lange und das Gebäude würde wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen.
Wenn ich jetzt aufhöre würde es wieder kippen.
Was konnte ich nur tun?
Aus dem Nichts wanden sich plötzlich Ranken um die Fasade des Gebäudes. Verwundert riss ich meinen Blick vom Wasserstrudel los.
Hinter mir standen die Winx!
Nie war ich so froh gewesen sie zu sehen wie jetzt.
Ohne zu zögern halfen sie mit das Gebäude zu stabilisieren.
Als die Rettungskräfte eintrafen um die Menschen aus dem Gebäude zu holen, nahmen mich die Winx und Spezialisten zur Seite.
Sie löcherten mich mit Fragen, machten mir vermutlich auch Vorwürfe. Doch ich hörte ihnen gar nicht zu.
Meine Gedanken fingen an Kreise zu ziehen. Wie es so weit kommen konnte. Und warum?
Plötzlich fiel mir ein, dass ich Matthias alleine zurückgelassen habe. Den einzig Vertrauen, der mir noch geblieben war.
Wie der Blitz rannte ich ohne Vorwarnung los.
Atemlos kam ich bei der eingestürzt Brücke an. Sofort lief ich zu der Stelle wo ich meinen Kumpel zurückgelassen hatte.
Doch Matthias war nirgends zu sehen. Ich rief seinen Namen, bekam jedoch keine Antwort.
Im Getümmel entdeckte ich Karsten, seinen Busfahrerkollegen.
"Wo ist er?" Der Angesprochene reagierte nicht. Er starrte auf den Boden. Ein Feilchen zierte sein rechtes Auge, welches er vorhin noch nicht hatte. Ich wiederholte meine Frage. Als er erneut nicht antwortete, gingen mir die Sicherungen durch. Grob packte und schüttelte ich ihn. "Wo ist Matthias!" schrie ich ihn an. Panik stieg in mir auf.
Endlich schaute er zu mir auf. Seine Augen schienen durch mich durch zu schauen. Als stünde er unter Schock.
"Drei Frauen sind gekommen..." brachte der Mann mühsam hervor.
In diesem Augenblick zerbrach die letzte Lampe der Hoffnung.
Ich hatte den Hexen in die Hände gespielt. Sie hatten mich durchschaut. Die Psycho-Bitch kannte mich besser als ich mich selber. Sie hatte gewusst, dass ich den Menschen helfen würde, wenn hunderte Leben in Gefahr wären. Meine Gutherzigkeit schamlos ausgenutzt.
Ihr Plan war aufgegangen!
Ich hatte versagt!
Die Erkenntnis traf mich wie ein Faustschlag in den Magen.
Die Farben der Umgebung verblassten. Alles wurde grau.
Ich hatte alles verloren...
Der Boden brach unter meinen Füssen weg. Kraftlos gaben die Knie nach. Ich sackte in die Tiefe.
Ein schriller Schrei war zu hören, der die Scheiben der umliegenden Geschäfte zum Zerspringen brachte.
Das wütende Tosen und Schäumen des Wassers vermischte sich mit einem undefinierbaren Knirschen über mir.
Mein ganzer Körper begann zu zittern.
Starke Arme hielten mich fest. Umschlangen die Schutzhülle meiner selbst, die jetzt keine mehr war. Drückte mich haltesuchend an diesen warmen Körper. Vergrub die Hände in seinem wuscheligem Haar.
Die Maske fiel, der Staudamm brach und ließ den Fluss meiner Tränen freien lauf.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top