Kapitel 4
„Schatz es tut mir so leid, dass ich gestern Abend nicht da war. Erzähl, wie war dein erster Tag als Schönheit in der Schule?"
Seitdem ich abgenommen hatte, blühte meine Mutter vollkommen auf. Auf einmal zeigte sie Interesse für mein Leben. Es war als hätte sie endlich die Tochter, die sie sich immer gewünscht hatte.
„War okay", murrte ich.
Sie legte ihren Kopf schief. „Okay? Das kann doch nicht alles gewesen sein? Du bist doch ein komplett neuer Mensch. Was haben deine Mitschüler und die Lehrer gesagt?"
Ein komplett neuer Mensch? Ich konnte mir bei diesen Worten nur verwundert die Augen reiben. Auch wenn ich anders aussah, war ich noch immer der gleiche Mensch.
„Sie haben mich nicht wiedererkannt."
Meine Mutter begann fröhlich zu lachen und steckte sich dann eine Karotte in den Mund. „Kein Wunder. Mit dem dicken Kind von früher hast du ja auch nichts mehr zu tun."
Meine Mutter schien nicht zu begreifen, wie sehr mir das wehtat. Sie gab mir das Gefühl, dass ich früher die reinste Enttäuschung gewesen war. Machten ein paar Kilo mehr oder weniger wirklich so einen Unterschied für sie?
„Ich kann es kaum erwarten bis du endlich deinen ersten Freund mitbringst. Jetzt hast du ja auch richtig gute Chancen und kannst einen guten Fang machen, der vorzeigbar ist."
So oberflächlich wie meine Mutter sprach, war sie auch. Sie selbst zählte jede Kalorie, die sie zu sich nahm und führte akribisch Buch über ihr Gewicht. Das Ergebnis war, dass sie noch immer den Körper eines Teenies hatte, auch wenn man dem Gesicht die 40 Jahre schon deutlich ansehen konnte. Während jedoch die Ärsche von anderen Müttern denen von verschrumpelten Apfelsinen glichen, konnte meine Mutter einen ziemlich knackigen Apfelhintern vorweisen. Das musste man ihr lassen.
„Vielleicht will ich ja auch einfach nur einen netten Freund, der mich gut behandelt", gab ich schnippisch von mir. "Und keinen, der sein Spiegelbild mehr liebt als mich."
Mum verdrehte die Augen.
„Jetzt stell mich nicht so dar, als würde für mich nur das Äußere zählen. So war das nicht gemeint."
Wem genau wollte sie gerade etwas vormachen? Wir beide wussten, dass sie mein Aussehen nie gemocht hatte. Es war ihr peinlich mich ihren Arbeitskollegen vorzustellen, denn niemand würde erwarten, dass so ein zartes Persönchen, wie meine Mutter es war, einen solchen Klops als Tochter haben könnte.
Auch wenn Mum es nie ausgesprochen hatte, so wusste sie ganz genau wie sie mir zeigen konnte, dass sie mit meiner Figur nicht zufrieden war.
„Hat sich aber so angehört", maulte ich und nahm mir ebenfalls einen Karotten-Stick.
Ich hatte schon seit Wochen keine Süßigkeiten mehr gegessen, was jeden Tag ein Höchstmaß an Disziplin erforderte. Ich war nie der Fast Food Menschen gewesen, dafür hatte ich aber eine riesige Schwäche für Süßigkeiten. Alles, was bunt war, klebte und einen hohen Zuckergehalt hatte, stopfte ich gerne in mich hinein. Doch damit war Schluss. Mittlerweile war nur noch der Gemüseteller bunt. Zucker suchte ich vergebens, was auch daran lag, dass Mum alles aus dem Haus verbannt hatte, was sich irgendwie auf meinen Hüften absetzen könnte.
„Wollen wir heute noch joggen gehen und danach ein bisschen Workout machen?", erkundigte sich Mum bei mir und schien voller Energie.
Ich hatte das Gefühl, dass sie ständig meine Figur beobachtete und darauf achtete, dass ich ja nicht wieder zunahm und der Jojo-Effekt einsetzte.
„Ich war heute Morgen schon joggen", informierte ich sie. „Ich wollte noch zu Dad." Er wohnte in der gleichen Straße, was für mich äußerst praktisch war.
Mum nickte mit abwertenden Gesichtsausdruck. Meine Eltern sprachen nur noch das Nötigste. Es war mir ein Rätsel, wie sie innerhalb von so kurzer Zeit zu Todfeinden geworden waren.
„Okay, aber lass dich von ihm nicht vollstopfen. Du weißt, wie er ist. Die Verführungen sind überall, aber du bist stark, verstanden?" Sie küsste mich auf die Stirn und lächelte. „Du siehst so unfassbar hübsch aus."
„Und früher war ich eine fette Qualle oder was?", sprach ich meinen Gedanken offen aus. Ich hatte die Schnauze voll davon, dass sie ständig so tat, als wäre ich früher wie Quasimodo rumgelaufen. Ich war zwar dick gewesen, aber deshalb doch nicht potthässlich.
„Nein", sagte sie zögerlich. „Du hast deine Schönheit nur versteckt."
„Na vielen Dank auch", zickte ich beleidigt. „Ich geh dann besser mal zu Dad."
„Ach Schatz, jetzt spiel doch nicht die beleidigte Leberwurst", rief Mum mir noch hinterher, doch da war ich schon längst in meine Schuhe geschlüpft und hatte meine Tasche gegriffen. Mit einem lauten Knall schmiss ich die Tür zu. Es sollte ruhig jeder wissen, dass ich sauer war.
Bis zu Dad lief ich keine zwei Minuten. Als er mir die Tür aufmachte, musterte er meinen Körper. Das war in letzter Zeit die übliche Begrüßung gewesen, wenn ich auf Menschen traf. Je nachdem wie lange ich sie nicht mehr gesehen hatte, stellten sie fest, dass ich abgenommen hatte oder kontrollierten, ob ich mein Gewicht gehalten hatte.
„Du wirst ja immer dünner!", begrüßte er mich und gab mir einen Wangenkuss. „Findest du nicht, dass du es langsam übertreibst. An dir ist ja kaum noch etwas dran." Er seufzte. „Wollen wir zum Italiener gehen?"
Dad war das absolute Gegenteil von Mum, was mein Gewicht betraf.
„Dad", sagte ich streng. „weil wir zu oft beim Italiener waren, habe ich erst die 100 Kilo-Marke knacken können."
Als ich den dreistelligen Wert auf der Waage gesehen hatte, war ich erst in eine Schockstarre gefallen und hatte dann begonnen all mein Naschzeug in den Müll zu schmeißen. Es war mein Weckruf gewesen, dass es nicht so weitergehen konnte. Seit diesem Tag waren die Kilos gepurzelt.
„Naja, nun gib mal nicht nur mir die Schuld", wehrte er sich. "Wer hat denn sein gesamtes Taschengeld immer heimlich für Süßigkeiten ausgegeben und dann die Beute unter dem Bett versteckt? Das warst du schon ganz alleine."
Musste er mich daran jetzt erinnern?
„Lässt du mich rein oder nicht?", forderte ich genervt.
Ich hasste es, dass ständig mein Gewicht zum Thema gemacht wurde. Ganz egal, ob es um meine dicke oder meine dünne Zeit ging.
Er grinste. „Na klar. Komm rein, Schatz."
Seine Wohnung war noch das reinste Chaos. Nur die wenigstens Umzugskartons waren ausgepackt.
„Hattest du einen guten Start in der Schule?"
Das war das Nervige daran, dass meine Eltern jetzt getrennt waren. Ich musste alles zweimal erzählen.
„War okay."
„Okay?", wiederholte er meine Worte, wie es auch schon meine Mutter getan hatte. „Das hört sich nicht sonderlich positiv an. Hat jemand etwas zu deinem Aussehen gesagt?"
Ich schüttelte den Kopf und versuchte geduldig zu sein. Dad konnte schließlich auch nichts dafür, dass ich das alles eben schon Mum erzählt hatte.
„Sie haben mich nicht erkannt."
Er zog beide Augenbrauen hoch und grinste schief. „Was haben sie gesagt, als sie herausgefunden haben, wer du bist?"
Ich begann auf meiner Unterlippe herumzukauen. Sollte ich ihm die Wahrheit sagen?
„Also um ehrlich zu sein, habe ich sie nicht aufgeklärt."
Dad seufzte erneut. Ich hatte diese Reaktion erwartet. Mum hätte meine Entscheidung mit Sicherheit verstanden, doch Dad war anders.
„Lina, du solltest deine Vergangenheit nicht verstecken. Das warst schließlich auch du und es ist Teil deines Lebens. Es hört sich vielleicht komisch an, aber auch auf diese Zeit solltest du stolz sein, denn ich weiß, dass du wegen deines Gewichts viel durchgemacht hast, aber du warst stark und hast dich davon nicht unterkriegen lassen."
Nicht unterkriegen lassen? Naja, ich hatte mir meinen Schmerz in Form von Schokoriegeln in den Mund geschoben und Nächte lang durchgeweint, weil ich das Klopskind an der Schule war und sich alle vor mir geekelt hatten.
„Ich weiß, aber sie fanden mich cool und ich habe das irgendwie genossen."
Nun runzelte er die Stirn. „Du gehörst jetzt also zu den coolen Leuten? Die Leute, die dich vorher gedemütigt haben? Ist das nicht irgendwie Verrat an dir selbst?"
Ich verzog das Gesicht, während ich mich auf seine Couch fallen ließ. Federleicht plumpste ich auf ein Kissen. Früher hätte es wohl ein Erdbeben in der Nachbarschaft gegeben, wenn ich mich mit so viel Schwung auf das Sofa geworfen hätte.
„Ich will mit denen ja auch gar nicht befreundet sein", verteidigte ich mich sofort. „Es war nur ein bisschen Neugierde."
Ich würde einen Teufel tun und Dad von meiner Mission als Racheengel erzählen.
„Okay, ganz wie du meinst, aber bitte verspreche mir, dass du so bleibst wie du bist. Ich weiß, dass deine Mutter dir gerne einredet, dass du erst jetzt richtig perfekt bist. Doch das ist nicht wahr. Du bist immer meine perfekte Tochter gewesen, die ein Herz so groß wie die Eitelkeit deiner Mutter hat." Wir beide mussten darüber lachen. "Daran hat sich nichts geändert und ich will, dass das auch so bleibt. Identifiziere dich nicht über dein Aussehen, okay?"
Er sah mich nun eindringlich an und ich spürte, wie ernst er es meinte.
„Keine Angst, Dad. Ich habe nur Fett abgenommen, aber nicht Gehirnmasse. Ich bleibe so wie ich bin."
Er lächelte.
„Das wollte ich hören." Er räumte ein paar Sachen zur Seite, um sich neben mich auf die Couch setzen zu können. „Ob du eine heiße Schokolade haben willst, brauche ich dich nicht zu fragen, oder?"
„Nein."
„Zu viele Kalorien?"
„Ja!"
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