Karan ist tot Teil 2

Leyna legte ihre Beine auf den Tisch ab. Das Gespräch mit Color zog an ihrem inneren Auge noch einmal vorbei. Diese kalte Fassade, die er in wenigen Wimpernschlägen errichten oder zum Einsturz bringen konnte, war erstaunlich. Genau so etwas brauchten die Agenten dieser Agentur.

Gefühle zu verbergen, war das A und O, um nicht während einer Mission überrumpelt zu werden.
Die Blätter wehten leicht im Windzug, der durch das Schließen der Tür entstand. „Hast du schon Ersatz für Thunder gefunden?", fragte Leander, der mit seinen Leuten hereinkam, trocken und sah sie bitter an.

Entnervt warf Leyna ihre Hände in die Luft. „Dein Ernst? Wir haben größere Probleme!"
„Ja. Zum Beispiel Personalmangel. Woran das wohl liegt?"

Sie fixierte ihn wütend und ließ ihre Beine von dem Tisch herunter gleiten. Warum mussten ihre Agenten auch so respektlos zu ihr sein? Colors Grinsen, das in ihrem Kopf feststecke, vernebelte ihre Gedanken und sie stand auf, ertrug es nicht, dass noch länger auf sie herab gestarrt wurde.

„Wen habt ihr denn da aufgegabelt?", umging sie Leanders Frechheiten und musterte den alten Mann. Niemals konnte er Luzifer über den Weg gelaufen sein. Dieser hätte mit dem Greis kurzen Prozess gemacht. Schließlich tat er dies sogar mit Leuten, die darauf ausgebildet wurden, ihn zu töten. Da Leander wohl wenig Lust hatte, auf die Antwort seiner Chefin zu antworten, was Leyna mit einem frustrierten Blick in seine Richtung quittierte, trat eine Frau vor.

„Er behauptet, Luzifer bei seiner Flucht, nachdem dieser das Haus in Brand gesteckt hatte, begegnet zu sein. Etwa zehn Minuten bevor er Menas und Abanos Gruppe begegnete.", antwortete sie und sah Leyna beim letzten Satz mitfühlend an. Doch die Leiterin der UJG wischte ihre Gefühle eiskalt beiseite. „Unmöglich. Luzifer hätte ihn einfach getötet."

„Aber wenn er auf der Flucht war, vielleicht nicht.", mischte sich Leander nun doch ein und sah Leyna kalt an. „Er ist nie auf der Flucht! Er ist immer der Jäger!", keifte Leyna ihn an und ballte ihre Fäuste.
„Ihm ist doch sowieso alles egal! Diese Agentur, das Leben von Menschen, seine Familie, sein Heimatdorf! Du denkst er ist wie die anderen, aber da hast du dich verdammt nochmal geirrt! Du kennst ihn gar nicht!", brüllte sie ihn so laut an, dass er sogar einen Schritt zurück machte.

„Du scheinst ihn nicht besser zu kennen, wenn du denkst, er sei nie der gejagte.", meinte der Wahrsager plötzlich.
Alles Köpfe wandten sich zu ihm um. Augenblicklich verblasste Leynas Wut und räuspernd wischte sie sich imaginären Staub von ihrer Kleidung.

„Ich denke, ich kenne ihn besser, als Sie es jemals werden, aber teilen Sie uns doch mit, wieso sie das denken.", bat sie. „Ich denke es nicht. Ich weiß es."
Warum musste gerade jeder Leyna aufregen? Dumpf sog sie die Luft ein und schüttelte nur den Kopf, wusste selbst nicht, was diese Geste bedeuten sollte.

„Wann? Wann war er jemals die Beute? Hm?", fragte sie und ließ sich gereizt auf ihren Stuhl fallen, ehe sie ihre Agenten an maulte, dass diese sie nicht so anglotzen sollen.
„Er war es nie." Der Wahrsager gähnte und sah sie aus seinen runden Augen an. Sie biss ihre Zähne zusammen.

„Warum behaupten Sie das dann?", seufzte sie und knetete ihre Hände. Wer hätte gedacht, dass ein Greis so ätzend sein konnte? „Habe ich nie."
„Sehr wohl."
„Nein" Der Mann schüttelte den Kopf, als würde Leyna seine Aussage sonst nicht verstehen. „Ich habe nie behauptete, dass er je Beute war."
Leyna sah ihn verwirrt an und musste feststellen, dass er in diesem Punkt recht hatte.

„Sie wollen mir also sagen, dass..." Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Nein, das war eine Lüge. Das gehörte zu seinem Job. Schauspielen, lügen, tricksen.
„Ja. Er war es nie, wird es aber sein.", vollendete der Wahrsager ihren Satz und sah sie ernst an.
So als meinte er das Ernst. So als könnte er wirklich in die Zukunft blicken. Als besäße er die Allmacht, das Schicksal aller zu sehen, bevor es passierte.

Nein, das wäre zu mächtig. Er versuchte einfach nur glaubwürdig zu sein, mogelte hier und da etwas, um seinen Bluff Nachdruck zu verleihen.
„Er wird der gejagte sein und es wissen. Denn er ist nicht dumm. Ihm fehlt aber vielleicht etwas an Schlauheit.", kommentierte der Mann seine Meinung. Immer noch mit diesem todernstem Gesicht. Leynas Blick hing an ihm, während sie leicht ihren Kopf von links nach rechts bewegte. Wie ein Kopfschütteln nur in Zeitlupe.

Es war einfach nicht möglich! Niemand konnte in die Zukunft sehen. Weder sie, noch der Mann, noch konnten es Umbritor. Dabei waren diese die mächtigsten Wesen dieser Welt.
„Ich kann ihnen gerne noch mehr erzählen.", schlug der Wahrsager vor. Im Augenwinkel sah Leyna, wie Leander mit seinen Augen von links nach rechts wanderte.
Auch dies glich einem Kopfschütteln.

Rein aus Protest, um ihn zu beweisen, dass er doch gar nichts zu sagen hatte, nahm sie das Angebot an.
Leander stöhnte auf, seine Kumpel warfen ihm warnende Blicke zu, während die Frau, dessen Namen Leyna nicht einfiel und ihr im Moment auch egal war, ihre Chefin jedoch aufmunternd an sah.

„Sie verstehen aber sicher, dass ich dafür etwas Geld verlangen muss, nicht? Man muss eben sehen, wie man über die Runden kommt.", lächelte der Wahrsager einladend, was überhaupt nicht zu seiner Aussage passen wollte. „Ja klar.", seufzte Leyna und lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück.
Er war angenehm bequem. „Wie viel wollen sie denn?"
„Pro Aussage fünf Taler." Dies war im Gegensatz zu Colors Forderungen wenigstens machbar. „Leander!", befahl sie grinsend.

„Was? Du willst doch nicht, dass ich das bezahle?", fragte der Agent entsetzt und sah hilfesuchend zu seinen Freunden, die ihn aber im Stich ließen und die Decke musterten, als wäre darauf ein hübsches Gemälde.
„Doch. Genau das will ich. Du verdienst am meisten von uns allen. Außerdem protestiert niemand. Scheint also gerecht zu sein." Leyna grinste immer noch spitz und nickte Leander auffordern zu.

„Kommt schon, Leute!", flehte er die anderen Agenten im Raum an. Mehr als einen entschuldigenden Blick bekam er aber nicht.
„Du bist doch Chefin hier! Ist das nicht dein Job?". Seine braune Augen trafen ihre. Unbeirrt legte sie ihr Kinn auf ihrer Hand ab. „Meine Aufgabe ist es, Befehle zu erteilen und das tue ich gerade."

Hilfesuchend warf Leander einen letzten Blick zu seinen Kameraden, die aus dem Fenster blickten, als gäbe es dort etwas interessanteres als einen Garten, mehr als ein Stillleben, zu sehen.
Zähneknirschend gab er auf und kramte in seiner Tasche.
Leyna machte sich nicht die Mühe, ihre Schadenfreude zu verbergen. Dies würde ihrem Agenten hoffentlich Respekt lehren. Er dachte auch, ihr Job wäre einfach!

Murrend überreichte Leander dem Wahrsager fünf Münzen, die im hereinfallenden Licht glitzerten. Der Mann legte schützend seine Finger um die Taler, als würde Leander sie ihm im nächsten Moment wieder wegnehmen.
Als ob seine müden Knochen gegen den kräftigen Blonden ankommen würden. Sie hielt inne. Hatte Luzifer so auch über Ferry gedacht?
Der Wahrsager schob die Münzen vorsichtig in die Taschen seiner zerfledderten Kleidung. Verbissen trat Leander dann zurück, drückte die Daumen, dass sich das Geld wenigstens gelohnt hatte.

Als der alte Mann dann seinen Mund öffnete, hingen alle Blicke erwartungsvoll an seinen Lippen. Leyna hörte das Klopfen ihres Herzen.
Was würde der Greis prophezeien? Einen Weg, um ihren Bruder endlich zu besiegen? Seinen Standort?
Oder etwas viel Komplizierteres? Die ausgefallenste Strategie, um gleich beiden Umbritor den Garaus zu machen? Es gab so viele Möglichkeiten!
Dieser Mann könnte der Schlüssel zum Frieden, die Lösung aller ihrer Probleme sein. Die Welt wäre endlich sicher, endlich frei.

Vor Anspannung krallten sich ihre Hände um die Tischkante, nur um zusehen, dass der Wahrsager seinen Mund schloss, ohne ein einziges Wort gesprochen zu haben. Es war, als würde die Luft aus dem Raum weichen.
Alles Hoffnungen verblassten. Wie ein Ballon, in den man hinein stach, zerplatzten Leynas Visionen, von einem schönen, kampflosen Leben. Also hatte der Mann doch nur geblufft.
Benommen schloss sie ihre Augen, ihr Magen war ganz flau.

Mit langsamen Bewegungen, als wäre Zeit nichts, dass einem davon lief, wie eine Katze, die ausgebrochen war, zog sie zwei Zettel aus der Schublade ihres Schreibtischs. Während sie die Blätter auf dem Tisch legte, wartete sie darauf, dass der Wahrsager abhaute. Leander würde vermutlich hinterher sprinten.
Wie ein Wolf auf Jagd.
Sie begann die Lücken des Dokuments stumm auszufüllen, warf jedem, der einen Blick darauf erhaschen wollte, einen Blick zu, der die Person schnell zum wegsehen brachte.

Dies hob die miese Stimmung, die durch das Schweigen des Greis in Gang gesetzt worden war, nicht wirklich.
„Er wird sterben."
Alle sahen den Wahrsager an, selbst Leyna wurde aus ihrer Starre gerissen. Ihr rutschte der Stift aus der Hand und sie brauchte mehrere Sekunden, um die Verbindung der eben gesagten Worte zu denen, die zuvor gesagt wurden, zu knüpfen.

„Luzifer?", wagte einer der Agenten zu fragen. Sein schwarzes Haar ging ihm bis zur Schulter, seine blauen Augen sahen den alten Mann erstaunt an.
„Nein.", meinte dieser knapp und alle seufzten. Wer stattdessen sterben würde, wollte keiner wissen.

Auch Leyna nicht, weswegen sie sich wieder ihren Dokumenten zuwandte und steif weiter schrieb.
„Nicht Luzifer, Karan." Sie sah auf. Zwar verstand sie nicht, wieso der Mann es betonte, dass Karan sterben würde, doch am Ende war es das Gleiche. Also würden sie doch siegen!
Leyna legte den Stift weg und hatte das Gefühl, ein ganzes Haus fiel von ihren Schultern herunter.
„Wer ist das?", fragte die Frau und sah Leyna fragend an.

Diese setzte sich lächelnd auf. „Mein Bruder. Sein echter Name. Aber den verdient er nicht. Er hat diesen schließlich von seinen Eltern bekommen und die hat er kaltblütig ermordet.", erklärte Leyna und sie war selbst erstaunt, wie ruhig die Worte über ihre Lippen kamen. „Das wissen wir doch schon!", rief Leander dazwischen und warf die Hände in die Luft.

„Natürlich werden wir ihn besiegen! Wir sind eine Agentur bestehend aus den erfahrensten Agenten. Wir haben fast alle Umbritor gefunden und vernichtet! Erzähl uns was gescheites!" Seine nächsten Worte waren vorhersehbar: „Sonst will ich mein Geld zurück."

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top