Kapitel 3.2: Jagd
Sianna blickte dem Jagdtrupp hinterher, bis auch der Letzte im dichter werdenden Geäst des endlosen Waldes verschwand. Kurz darauf waren keine Stimmen mehr zu hören, lediglich das Getuschel der anderen Dörfler.
Die Versammlung zum Abschied löste sich schnell auf.
Die Sammlerin aber stand noch länger dort.
Sie hatte ein schlechtes Gefühl bei der Sache. Was, wenn Siraj was passieren würde? Was, wenn ihrem Vater was passieren würde? Oder sogar beiden? Wenn einfach niemand zurückkehrte?
Bei der Vorstellung drehte sich ihr Magen um. Leichter Schwindel erfasste sie.
»Alles in Ordnung?«, fragte eine angenehm liebliche Stimme. Sianna blickte auf Jina, die sie besorgt musterte.
»Nein... ja, meine ich. Ja, es ist alles in Ordnung«, antwortete sie mit festem Ton. Sie schüttelte leicht den Kopf, als würde sie die bösen Gedanken damit loswerden können.
»Ich mach mir auch Sorgen«, sagte Jina.
»Um Ruil?«
»Ja. Ich weiß nicht, eigentlich hab ich das nie. Aber er wirkte so... unruhig.«
»Wie meinst du das?«
»Ich weiß es nicht. Sonst ist er so sicher bei allem. Diesmal war er es nicht.«
Sianna nickte. »Siraj war da ganz anders. Er ist mit einem Grinsen rausgegangen.«
»Ich glaube, er freut sich einfach nur, dabei sein zu können.«
»Wie meinst du das?«
Jina lächelte. »Na ja, er steht im Schatten von Sojas. Schon immer. Natürlich will er bei sowas dabei sein.«
»Ja... Das stimmt.«
»Und Kar hat mir erzählt, dass das wohl der größte Jagdtrupp ist, der jemals ausgeschickt wurde. Jeder, der etwas auf sich hält, ist dabei.«
Jina hatte Recht - wie so oft.
Die beiden Frauen beschlossen, ein wenig im Dorf spazieren zu gehen. Keine von ihnen wollte alleine nach Hause zurückkehren und dort für sich den unheilvollen Gedanken über den Verbleib des Trupps nachhängen, sie mussten irgendwie Zeit totschlagen.
Sie sprachen über ihre Männer, die Arbeit, das Wetter, bevor Jina auf die Idee kam, Jorklara einen Besuch abzustatten.
Sianna war dafür. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie die Frau des vermissten Jägers Garoj gar nicht bei Jischias Rede gesehen hatte. Wie es ihr wohl ging?
Die beiden Frauen machten sich auf den Weg zu der kleinen Hütte, die der Jäger und seine Frau gemeinsam bewohnten.
Sie kamen nach kurzer Zeit an und traten vorsichtig durch den Fellvorhang.
»Jorklara?«, fragte Jina, die vorangegangen war.
Keine Antwort.
Es war recht dunkel im Inneren, daher bemerkte Sianna die zusammengesunkene Gestalt auf dem Bett erst, als sie eingetreten war.
Die langen, braunen Haare hingen der etwas älteren Frau wild ins Gesicht, die Augen weit aufgerissen.
»Wir wollten dich besuchen kommen«, sagte Sianna und lächelte.
Jorklara rührte sich nicht. Sie saß auf dem Bett, ihre Hände hielten die Kante fest umklammert. Die Schultern hingen kraftlos hinab, die Augen fixierten einen Punkt im Nichts. Hätte sie nicht ab und zu geblinzelt, wären sich die beiden nicht sicher gewesen, dass wirklich ein Mensch vor ihnen sitzt.
Sianna war es unangenehm, hier zu sein und es wurde nicht besser, als sich Jina wortlos neben die traurige Gestalt setzte und langsam über ihren Rücken strich. Sie selber wagte es nicht.
»Meinst du...«, fing Jorklara an und verstummte.
»Was meine ich? Du kannst ruhig mit mir reden«, sagte Jina.
»Meinst du, dass... sie ihn finden?«
»Ich... ich denke schon. Es sind die besten Jäger des Dorfes dabei. Die finden jede Fährte.«
Jorklara nickte langsam. Sie hatte ihre Augen nicht abgewandt, sie blickte weiterhin starr in die Dunkelheit.
»Und Siraj ist dabei. Falls Garoj verletzt ist«, fügte Sianna aufmunternd hinzu.
»Glaubst du, dass er noch lebt?«
»Ja. Ich glaube, sobald der Jagdtrupp wieder da ist, wird alles vorbei sein.«
Die ältere Frau schloss die Augen. »Ich glaube das nicht. Mein Garoj... ich habe von ihm geträumt. Die Sonne ist versunken und aufgegangen, ohne dass er neben mir lag. Und ich bin mir sicher, dass sie wieder versinken wird, ohne dass er das Bett mit mir teilt.«
»Und ich bin mir sicher, dass ihr heute Nacht wieder zusammen voneinander träumen könnt«, sagte Jina.
Jorklara blickte sie an. Eine Träne fuhr langsam ihre Wange hinab. Mit einem leisen Schluchzen umarmte sie die junge Frau.
Sianna hatte Jorklara nie besonders gemocht. Wenn man dem Dorftratsch Glauben schenkte, war sie recht biestig zu Garoj, behandelte ihn schlecht und hatte ihn nur genommen, weil es keinen besseren gab. Und ihr gegenüber war sie immer kühl und abweisend gewesen.
Aber jetzt tat es ihr leid. Nun sah sie sie, so unglaublich verletzlich, so sehr in Sorge um ihren Mann, voll ehrlicher Gefühle für jemanden, mit dem sie einen Großteil ihres Lebens verbracht hatte. Sianna musste an Siraj denken. Wahrscheinlich würde es ihr nicht anders gehen, wenn er an Garojs Stelle wäre. Ihr wurde bei dem Gedanken ganz flau im Magen.
»Komm, wir gehen spazieren«, unterbrach Jinas Stimme ihre dunklen Vorstellungen.
Jorklara war zunächst dagegen, aber Ruils Frau duldete keinen Widerspruch.
Die drei Frauen gingen kurz darauf Richtung Marktplatz. Die Wolken zogen sich langsam zusammen, die Sonne wurde immer wieder verdeckt, bevor sie mit immer weiter schwindender Kraft erneut ihr Licht auf die Erde sandte.
In Sichtweite des schwarzen Findlings bemerkten sie eine Menschentraube in der Nähe von diesem. Jorklara schien sie meiden zu wollen, allerdings kam sie nicht gegen die Neugier von ihren Begleiterinnen an.
Als sie dort ankamen, sah Sianna sofort den Grund für die kleine Versammlung - Mina, das älteste Ratsmitglied, erzählte mal wieder Geschichten.
Mehrere Kinder saßen im Halbkreis um die Frau mit dem weißen Haar, welche trotz ihres sichtbaren Alters und der gebeugten Haltung eine charismatische Ausstrahlung auf Sianna hatte. Mehrere ältere Männer und Frauen hörten ebenfalls dazu, größenteils waren aber Kinder und Jugendliche das Publikum der Alten.
Die drei Frauen setzten sich ebenfalls dazu, während alle gebannt zuhörten.
Mina hatte stets viele Begebenheiten zum besten zu geben. Soeben war sie dabei, die Begebenheit der Sammlerin Sina zu berichten - eine junge Frau, die auf der Suche nach Heilung für ihren schwer fieberkranken Mann tief in den Wald von Jurano geht, allen Widerständen auf der tagelangen Reise trotzt, schließlich das äußerst seltene Pfeilkraut findet und mit den heilbringenden Blüten so schnell wie möglich zu ihrem Gatten zurückkehrt, um ihm das Leben zu retten. Als Mina die Erzählung damit beendete, dass Sina und ihr Mann noch ihr ganzes restliches Dasein in Glück zusammen verbrachten, klatschten einige Kinder begeistert und riefen: »Noch eine! Noch eine!«
Die mittlerweile deutlich angewachsene Zuhörerschaft, die sich dicht gedrängt am schwarzen Stein eingefunden hatte, bekräftigte diesen Wunsch.
Die Alte lächelte.
»Dann erzähle ich euch die Geschichte der Entstehung der Welt.«
Sianna freute sich. Ihre Lieblingsgeschichte.
Mina beugte sich ein Stück nach vorne, verstellte ihre Stimme ein wenig, damit sie tiefer klang und begann mit abwechslungsreicher Intonation zu sprechen:
»Am Anfang gab es nur den endlosen Wald. Bäume und Gebüsche, Sträucher und Kräuter soweit das Auge reichte. Man hätte Tage, Wochen, Jahre in irgendeine Richtung gehen können und die Umgebung hätte sich nicht verändert. Es ging ewig weiter. Flaches Land mit Pflanzen, mehr gab es nicht. Alles war von einer dichten Wolkendecke umhüllt, eine graue, kalte Landschaft, die weder Tag noch Nacht, weder Sommer noch Winter, weder Wärme noch Farbe kannte. Die Tage flossen ineinander über, die Welt schien still zu stehen. Nichts lebte.
Kein Tier, kein Mensch, nicht einmal eine einzige Ameise bewegte sich über dem Erdboden.
Bis die Sonne kam. Sie kam aus den endlosen Weiten der Wolken, kämpfte sich mit aller Macht hindurch, um schließlich den endlosen Wald sehen zu können. Sie vertrieb die düsteren Wolken nach und nach.
Licht berührte das erste Mal die Erde, sengend heiß an manchen Stellen. Die meisten Pflanzen hielten stand, einige aber wurden von den grellen Strahlen verbrannt. So entstanden die Lichtungen.
Der Sonnenschein war wohltuend für den kalten Boden und machte ihn gut und gesund. Die Erde wurde überschwänglich und bewegte sich an einigen Stellen Richtung Sonne, um ihr näher zu sein, um noch mehr Wärme abzubekommen. So entstanden die Hügel und die Berge.
Das Aufreißen der Wolkendecke hatte noch mehr zur Folge - kaum war die dichte graue Decke verflogen, strömten die Vögel auf die Erde. Sie hatten den Boden gesucht, ihn ohne die Sonne aber nie gefunden. Als sie ihn dann sahen, flogen sie zu tausenden durch die tristen Baumkronen. Gelb, blau, rot - in allen Farben schillerten die ersten Lebewesen, die den Wald bewohnten.
Und so kehrte die Farbe ein - Pflanzen wurden grün, Baumstämme braun, Beeren rot, Blumen hielten Einzug durch die Vögel und übernahmen die vielen Farben. Die Welt wurde bunt. Nur die Steine, die ohne Leben und tot waren, blieben so grau wie der Wald vorher war.
Durch die warmen Sonnenstrahlen passierte noch mehr. Die Wärme und die Farbe sorgte bald für jede Menge Leben. Insekten bevölkerten den Boden, krochen auf die Bäume und dienten den Vögeln als Nahrung. Eichhörnchen und Hasen, die vorher nie durch den harten und kalten Boden kamen, sprangen überall aus der Erde, fraßen die Beeren, Kräuter und Sträucher auf und vermehrten sich. Rehe und Hirsche, damals nicht größer als ein Vogel, kamen ebenfalls hindurch und wuchsen in der Sonne bald teilweise auf Mannshöhe an.
Die Sonne begutachtete die lebendige und bunte Landschaft und war zufrieden. Die Wolken jedoch waren wütend. Sie forderten ihren Platz zurück. Es kam zu ausgedehnten Kämpfen, in denen die Sonne alle Kraft aufbieten musste, um die Kälte fernzuhalten. Die Wolken aber waren zu mächtig.
Die Sonne wurde bald wieder verdunkelt und konnte sich nur mit Mühe zurückkämpfen. Sie verhandelte mit ihren Gegnern. Diesen gefiel die bunte Welt auch besser, aber sie wollten ihren Platz nicht vollends aufgeben. Die Sonne war aber klug und wusste, dass sie auf Dauer keine Chance hätte. Die ständige Wärme strengte sie an. So schlossen Wolken und Sonne einen Pakt. Die Sonne erfand den Tag, die Wolken erhielten die Nacht. Zusammen erschufen sie den Mond, welcher die Nacht erhellen sollte, sodass kein Grau den Weg zurück in den endlosen Wald finden konnte.
Die Sonne ging jeden Abend unter, der Mond ging jeden Abend auf.
Zusätzlich sagte die Sonne, die Wolken könnten immer mal wieder für lange Zeit den Himmel beherrschen, während sie sich ausruht, aber dableibt. Alle waren einverstanden - so wurden Sommer und Winter erschaffen. Die ehemaligen Gegner der Sonne wollten ihren Teil zum Leben beitragen und ließen es immer mal wieder regnen, anfangs stürmisch und heftig, später geruhsamer und seltener. So entstanden die Bäche und Quellen, gespeist durch den Regen der Wolken.
Doch auch wenn am Himmel endlich Frieden herrschte, der Wald war erneut in Gefahr. Die Hasen und Eichhörnchen vermehrten sich und bedrohten die Pflanzen, die sie alle wegfraßen. Die Sonne und der Mond berieten sich und schickten graue Steine auf die Erde, in ihnen rote schnelle Vierbeiner mit langem, buschigem Schwanz. Sie wurden Füchse genannt oder...«
»Waldwächter!«, rief ein Kind und lachte freudig auf, als Mina es angrinste und nickte.
»Genau. Die Füchse hielten die Hasen und Eichhörnchen in Schach, kamen aber gegen die mittlerweile zu großen Rehe und Hirsche nicht an. Auch diese vermehrten sich sehr schnell. So wagte der Himmel etwas nie dagewesenes, sie gaben ihre Intelligenz dem Wesen, dass sie nun in den endlosen Wald sandten. Es war zerbrechlich, daher musste ein schwarzer Stein, gehärtet von der Hitze der Sonne und der Kühle des Mondes, es schützen.
Dutzende schwarzer Steine wurden ausgeschickt, viele überlebten nicht, doch aus einigen traten Menschen heraus. Sie wussten bald, ihre Umwelt zu nutzen, bauten Häuser, Werkzeuge und gingen auf die Jagd. Sie vermehrten sich rasch und schlossen sich alsbald zusammen, um Jurano zu erschaffen.
Es gibt noch viele schwarze Steine wie diesen hier«, Mina strich über den Findling, neben dem sie stand, »und eines Tages werden wir auch diese Gesandten der Gestirne finden. Dann werden wir uns zu einem großen Dorf vereinen und der Plan der Sonne, des Mondes und der Wolken ist endlich aufgegangen.«
Lautes Klatschen und Stampfen ertönte, als Mina die Geschichte beendete. Einige der Kinder konnten nicht mehr still sitzen, sprangen aufgeregt auf und spielten lachend die gerade gehörte Erzählung nach. Die Erwachsenen waren guter Dinge und beobachteten den Nachwuchs.
Sianna lächelte und merkte, dass Jorklara es ihr gleichtat.
Diese Geschichte wurde schon seit Generationen erzählt. Sie klärte viele Fragen der Dörfler, doch der Sammlerin ging es vor allem um den letzten Teil: Sie waren nicht allein in diesem endlosen Wald.
Es gab noch mehr zu entdecken, noch mehr zu sehen. Das Leben bot mehr als das, was sie kannten. Und irgendwann würde sie es in seiner vollen Pracht kennenlernen, da war sie sich sicher.
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