Kapitel 2.3: Spuren
Siraj lief und lief. Lief vorbei an mehreren Dorfbewohnern, die ihm verwundert hinterher blickten. An diversen Hütten, am allgemeinen geschäftigen Treiben um diese Tageszeit. Vorbei an der Hütte von Rajos.
Fast da.
In seinem Verstand war nur dieser eine Satz: Sianna war verschwunden und es war seine Schuld.
Er wusste es, er wusste es einfach. Er hätte sie niemals gehen lassen sollen. Sie war weg, für immer.
Als er endlich am gemeinsamen Zuhause ankam und durch den Fellvorhang stürzte - traf es ihn wie ein Schlag. Hier war niemand. Sianna war noch nicht zurückgekommen.
Das war ungewöhnlich. Normalerweise war sie um diese Zeit schon lange fertig mit dem Sammeln.
Sirajs Herz begann schneller zu schlagen und seine Beine fühlten sich wacklig an. »Ganz ruhig... ganz ruhig...«, sagte er leise.
Wo könnte Sianna sein? Oder anders: Wer könnte wissen, wo sie ist?
Siraj hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da war er auch schon auf dem Weg zu Jina, Ruils Frau. Sie war eine gute Freundin von Sianna und die beiden gingen oftmals zusammen in den Wald. Er suchte die Brünette zunächst beim Haus seines Freundes, fand sie dort aber nicht vor, weswegen er mehrere Dörfler in der Nähe fragte, ob sie sie gesehen haben. Ihm war in diesem Moment egal, wie komisch seine Suche auf die anderen Bewohner Juranos wirken musste. Er wollte einfach nur Sianna sehen.
Ein jüngerer Sammler erzählte ihm, dass Jina noch mit einer Freundin spazieren war, irgendwo in Richtung des Schwarzen Steins. Eine Freundin? Das musste sie sein!
Siraj beeilte sich, zu dem Hauptplatz zu gelangen, von dem er vor einigen Minuten erst zu seinem Haus gelaufen war. Er entdeckte Jina recht schnell - sie unterhielt sich mit einer blonden Frau. Also nicht Sianna.
Der Heiler entschloss sich, dennoch zu Ruils Freundin zu gehen. Jina bemerkte ihn schon von weitem und winkte ihm gut gelaunt zu.
»Hallo Siraj!«, grüßte sie ihn freundlich. »Ist Ruil schon wieder zuhause?«
Der Heiler schüttelte den Kopf und begrüßte die Blondine, eine großgewachsene Frau namens Sara, mit einem knappen Kopfnicken. »Nein... er ist noch unterwegs. Wegen dem Rat.«
»Wegen dem Rat? Was war denn?«
»Es gab eine Besprechung. Man darf nicht mehr in den Wald.«
Sara und Jina schauten sich überrascht an. »Warum das denn? Wir waren doch eben noch da.«
»Ja, aber jetzt darf man nicht mehr. Ist nur für einen Tag, denke ich«, antwortete Siraj. Er wollte nicht unhöflich sein, aber musste er den beiden das wirklich alles erklären? Er wollte doch nur wissen, wo Sianna ist!
»Aber warum denn? Weißt du den Grund?«, fragte Sara.
»Ich... wir haben keine genaue... Es geht um ein Tier.« Siraj wurde rot. Sollte er schon Details bekanntgeben?
»Um was für ein Tier?«
»Um... naja... ein gro... großes Tier.« Der Heiler schluckte. Er war sich unsicher. Besser zu wenig sagen als zu viel.
»Ein großes Tier? Wie groß muss das denn sein?« Jina warf ihre langen, dunkelbraunen Haare mit einer knappen Kopfbewegung nach hinten.
»Sehr... groß.«
»Aha«, murmelte Sara. Sie blickte Ruils Freundin vielsagend an.
»Wisst ihr... also du, wo Jina... äh... Sianna ist?«, fragte Siraj.
»Sianna? Die müsste bei euch zuhause sein.«
Der Magen des Heilers zog sich schmerzhaft zusammen. »Aber... ich war vorhin da...«
Seine Gedanken rasten. War sie doch noch allein in den Wald gegangen? Hatte ihre Neugier gesiegt? Was sollte er tun?
»Ach nein, wir hatten uns nur festgequatscht. Die ist eben erst losgegangen.«
Siraj atmete auf. Am liebsten wäre er Jina um den Hals gefallen, beschränkte sich aber auf ein »Gut, dann weiß ich Bescheid. Vielen Dank!«, bevor er sich schnellen Schrittes in Richtung der gemeinsamen Hütte aufmachte. Als er einen Blick zurückwarf, bemerkte er, dass die beiden Frauen tuschelten - sollten sie nur. Ihm war das egal. Hauptsache, Sianna war da.
Als er erneut durch den Fellvorhang trat und ihn der heimische Geruch umfing, der ungewöhnlich würzig duftete, nahm er sofort Sianna wahr, welche soeben an einem Tisch arbeitete.
Sie begrüßte ihn mit einem Lächeln auf den wundervollen Lippen. »Wie war dein Tag?«, fragte sie, während sie einen großen Strunk Thymian bearbeitete. Mit flinken Fingern zupfte sie die Blätter vom Stängel und legte diese in eine tönerne Schüssel.
Siraj atmete tief durch. Eine große Last schien von ihm abzufallen.
Wortlos trat er an Sianna heran, beugte sich zu ihr und umarmte sie.
Sie kicherte und versuchte, weiterzuarbeiten, was ihr durch die kräftige Umarmung allerdings deutlich erschwert wurde.
»Bin froh, dass du da bist«, flüsterte Siraj.
»Ich merks«, lachte seine Frau und wand sich aus der Umklammerung. Sie stand auf, grinste ihn an und drückte ihm einen Kuss auf.
»Also, wie wars mit Ruil? Seid ihr fündig geworden?«
Siraj nickte. Und erzählte ihr die ganze Geschichte, von der Suche im Wald mit Kar und seinem Sohn, von dem Besuch bei Sojas und der anschließenden Ratssitzung. Nur den Teil, wo er sie gesucht hatte, ließ er bewusst aus. Sianna unterbrach ihn nur am Anfang gelegentlich, hörte dann aufmerksam zu und schien am Ende etwas aufgelöst zu sein.
»So ein großes Tier? Nur ein paar Minuten von Jurano entfernt? Im Wald? Direkt an unserem Platz?«
Der Heiler nickte.
»Und wir waren eben noch sorglos in der Nähe Kräuter sammeln... Ich dachte wirklich, wir hatten uns das gestern nur eingebildet. Ich war mir heute morgen nicht einmal sicher, ob das nicht ein Traum gewesen war. Erst, als du mich darauf angesprochen hast, kams mir wieder in den Sinn, aber irgendwie hatte ich das nicht mehr so im Kopf. Als wären wir einfach ängstlich gewesen...«
»Waren wir auch. Zurecht.«
»Und wann will der Jagdtrupp los?«
»Ich denke, bis morgen sollte das erledigt sein. So lange will der Rat bestimmt nicht den Wald verbieten, wir müssen schließlich Vorräte sammeln.«
»Richtig«, stimmte seine Frau zu.
Kurzes Schweigen, in dem beide ihren Gedanken nachhingen. Ob alle schon Bescheid wussten? Oder gab es noch Jäger, die einsam im Wald umherstreiften?
»Was meinst du, ist mit Garoj passiert?«, fragte Sianna.
»Wieso?«
»Na, denkst du, er ist diesem Wesen begegnet?«
»Vielleicht...«, murmelte der Heiler.
»Ihr solltet schnell losgehen. Vielleicht ist er verletzt und braucht eure Hilfe.«
Siraj nickte. »Dann sollte ich mitgehen.«
Seine Frau blickte ihn überrascht an. »Du bist kein Jäger, Siraj.«
»Aber was, wenn du recht hast? Was, wenn Garoj verwundet ist und wir ihn finden?«
»Dann wird er schon ins Dorf getragen werden.«
»Ich finde, ich sollte trotzdem dabei sein.«
Sianna schüttelte den Kopf. »Lass das die anderen besser machen.«
»Was, wenn beim Kampf noch mehr verletzt werden? Vielleicht kann ich dort Leben retten!«
»Ich glaube, du übertreibst Siraj.«
»Und ich glaube, du denkst, dass ich nicht auf mich aufpassen kann.«
Sianna legte den Kopf schief. »Ja, ganz recht. Du sollst hier bei mir bleiben.«
»Ich gehe mit. Nur wegen uns geht dieser Jagdtrupp überhaupt los, dann sollte ich schon dabei sein, wenn dieses Wesen erledigt wird. Je mehr, desto besser.«
Sianna blickte ihn lange an. Sie kannte ihren Mann. Bei so etwas konnte er ein wahrer Sturkopf sein. Diskutieren war jetzt sinnlos.
Sie stand auf und nahm ihn in den Arm, was Siraj, der sich nun auf eine Diskussion eingestellt hatte, überrascht erwiderte.
»Pass einfach auf dich auf...« flüsterte sie und presste ihn fest an sich.
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