Kapitel 2.1: Spuren

Ruil seufzte und beugte sich nach vorne.

»Damit ich das richtig verstehe, Siraj: Du und Sianna macht einen Spaziergang. Nachts. Warum auch immer.«

Der Heiler nickte langsam.

»Und dabei trefft ihr auf ein... großes... Tier? Mit komischen Geräuschen?«

Erneutes Nicken.

»Und was soll ich da machen?«

Siraj blickte seinen Freund entgeistert an. »Es klang groß, Ruil. Wirklich groß. Und gefährlich.«

»Du willst wissen, was das war.«

»Ja. Ganz genau.«

Ruil lehnte sich wieder zurück. »Zeig mir die Spuren und ich sag dir, was das war.«

Siraj nickte dankbar. »Ja, klingt gut.«

Der Jäger erhob sich. »Gib mir eine Stunde, dann treffen wir uns hier an deinem Haus.« Mit nachdenklichem Gesicht entfernte er sich von der behelfsmäßigen Bank, auf der beide Platz genommen hatten.

Der Heiler war glücklich, dass sein Freund sich der Sache annehmen wollte. Er glaubte, etwas beruhigt zu sein. Aber als sich Sianna kurze Zeit später verabschiedete, um noch etwas in den Wald zu gehen und einige Feuerknospen zu sammeln, wurde ihm erneut mulmig zumute.
»Kannst du nicht auch später gehen?«, fragte er, als seine Frau hochmotiviert mit dem geflochtenen Korb unterm Arm an ihm vorbei schlenderte.

»Warum? Du bist doch auch gleich mit Ruil weg, oder?«

»Und was, wenn dir was passiert?«

Sie blickte ihn verständnislos an. »Was soll mir denn passieren?«

Siraj druckste herum. Anscheinend machte sie sich gar keine Sorgen um das gestrige Ereignis.

»Ist es wegen gestern?«, fragte sie.

Er seufzte. Er konnte ihr eh nichts verheimlichen. »Ja. Ich will einfach wissen, was das war. Ob es sicher ist.«

Seine Frau grinste. »Du bist so fürsorglich.« Sie ließ den Korb zu Boden sinken, stellte ihn vorsichtig ab und kam auf ihn zu. Ein langer, zärtlicher Kuss später hauchte sie ihm ein »Ich pass auf mich auf, versprochen«, ins Ohr und ging dann wieder in Richtung Wald. Siraj, dem der Kuss viel zu kurz gedauert hatte, starrte ihr noch eine Weile nach, auch, als sie bereits hinter den Häusern verschwunden war.

Er schalt sich einen Narren.

Wahrscheinlich hatte Sianna Recht! Wer weiß, ob das Tier ihm in seiner Müdigkeit und der Dunkelheit des Waldes nicht einfach nur größer vorgekommen war? Ob die Geräusche nur der nächtlichen Stille wegen so laut und gefährlich erschienen?

Sein Vater hatte ihm von allen Gefahren erzählt, die im Wald lauerten. Er berichtete gerne von den Tragödien, die Jurano bisher widerfahren waren.

Sojas Großvater beispielsweise hatte immer wieder erzählt, dass ein wild gewordener Waldwächter einen jungen Jäger tief im Wald biss, wodurch dieser wahnsinnig und krank wurde. Seine Familie, die ihn pflegte und sich um ihn sorgte, erlag bald ebenfalls dem Wahnsinn. Sie gebärdeten sich wie wilde Tiere und schienen kaum noch menschlich zu sein. Angeblich hatten sie sogar Schaum vor dem Mund, als der Heiler nach ihnen sah.

Aus Angst vor der Familie schloss man sie in ihrem Haus ein und brannte es nieder. Die Schreie und das Poltern am verbarrikadierten Eingang war nur von kurzer Dauer, bevor als einziges Geräusch das Knistern der Flammen verblieb.

Eine weitere Geschichte handelte von zwei unachtsamen Jägern, die auf der Jagd einem Elchkalb begegneten. Sie versuchten, es in die Enge zu treiben und verletzten es auch. Plötzlich brach ein mächtiger Elch aus dem Wald und verletzte einen der Jäger schwer, indem er ihn mit seinem Geweih gegen einen Stamm schleuderte. Es verfolgte den anderen, doch dieser konnte sich gerade so auf einen Baum retten. Die Tiere verschwanden danach, der verwundete Jäger verstarb bald darauf an seinen Wunden, bevor die Beiden es zurück ins Dorf schafften.

Sojas versprach Siraj aber, dass ihm nie etwas passieren würde, wenn er umsichtig wäre, sich nicht zu weit vom Dorf entfernen würde und niemals alleine wäre. Zu Tieren sollte er stets respektvollen Abstand wahren.

Als er sich dies alles ins Gedächtnis rief, war es ihm fast schon peinlich, wie er sich gegenüber Ruil aufgeführt hatte. Wahrscheinlich war im Wald nichts Gefährliches.

Entsprechend beruhigt war er, als sein Freund eine halbe Stunde später durch seinen Fellvorhang kam.

»Bereit?«, fragte er. Er hatte einen Bogen und einige Pfeile dabei.

Siraj nickte.

Als sie gemeinsam aus dem Haus traten, grüßte eine tiefe Stimme den Heiler, was diesen zusammenzucken ließ.

»Achja... und mein Vater wollte mit«, sagte Ruil leise und griff sich an den Nacken, als er ebenfalls heraustrat.

Die langen braunen Haare und der opulente Bart rahmten das faltige Gesicht des Mannes ein, dem Sirajs Vater vor einigen Jahren das Leben gerettet hatte. Der große und breit gebaute Jäger hatte einen Speer dabei.

Kar streckte ihm die Hand hin. Siraj ergriff die Rechte des älteren Jägers, die dieser kräftig zusammendrückte.

»Mein Sohn hat mir berichtet, was du erzählt hast. Ich dachte mir, es kann nicht schaden, wenn ich mitkomme.«

»Das musst du aber nicht...«, sagte Siraj leise. Er warf einen Blick zu seinem Freund, welcher genervt mit den Augen rollte.

Kar schüttelte den Kopf. »Tu ich aber.«

Ruil seufzte, woraufhin ihm sein Vater einen langen Blick zuwarf.

»Dann gehen wir mal besser«, murmelte Siraj und trabte los. Die beiden Jäger folgten ihm in einem kurzen Abstand, wobei es Kar merklich vergnügte, seinem Sohn Unbehagen zu bereiten. So fragte er ihn in absurder Ausführlichkeit darüber aus, wann seine Stieftochter Jina denn endlich schwanger wäre, worauf Ruil sehr einsilbig und ausweichend antwortete.

Siraj versuchte, es zu ignorieren, musste aber gelegentlich grinsen, wenn sein eigentlich so souveräner Freund diffuse Erwiderungen auf viel zu intime Fragen vor sich hin stammelte.
Der Wald schien nun am Tag alle Bedrohlichkeit, alle Gefahr verloren zu haben. Blätter raschelten sanft im Wind, ein Eichhörnchen huschte durchs Geäst, als sie sich näherten, einige Bienen schwirrten friedlich um Bleichwächse.

Es waren nur wenige Wolken am Himmel. Dementsprechend hell strahlte die Sonne auf den Boden, wenn sie es durch das mal mehr mal weniger dichte Blätterdach schaffte. Dafür, dass der Sommer vorbei war, war es relativ warm.

Siraj führte Ruil und Kar zu der Stelle, an der er letzte Nacht mit Sianna gewesen war.

Er war in Gedanken bei seiner Frau,achtete gar nicht auf seine Umgebung. Bis Kar schnellen Schrittes an ihm vorbeimarschierte. Ruil direkt dahinter. »Was ist?«, fragte der Heiler, bis er es auch sah.

Sie waren angekommen. Der Bach floß wie immer leise plätschernd vor sich hin. Doch der Rest des Ortes war... verändert.

»Bei allen schwarzen Steinen, Siraj...«, murmelte Kar und ging ein paar Schritte näher an den Bach.

Einige der großen und dicht gedrängten Bäume, die hier standen, waren umgeknickt oder gänzlich gestürzt. Holzsplitter lagen auf dem Boden, mehrere Äste baumelten lose vor sich hin. Eine Handvoll Baumkronen lagen auf dem Erdboden. Eine Schneise der Verwüstung, die vorne am Bach begann und sich noch einige Meter Richtung Hügel weiterzog, bevor die Bäume weniger dicht wurden.

»Wo standen du und Sianna?«, fragte Ruil, nachdem er alles eine Weile in Augenschein genommen hatte.

Siraj fiel es schwer, sich zu orientieren. Er suchte ein wenig, ließ sich von seinem Gefühl leiten, bis er an eine großen Eiche gelangte. »Genau hier.«

Ihm lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Nur ein paar Meter weiter lagen die umgeknickten Bäume. Was wäre gewesen, wenn sie dort gestanden hätten? Oder am Bach?
»Was denkst du, Vater?«, fragte sein Freund.

Kar schüttelte langsam den Kopf, ging zu einem der umgebrochenen Stämme hin und tastete die Abbruchstelle ab. Dann musterte er den Boden. »Unglaublich.«

»Hast du ne Ahnung, was das war?«

Der alte Jäger kratzte sich am langen Bart. »Kommt her, dann seht ihr es.«

Sein Sohn und der Heiler kamen herbeigelaufen, wobei sie über einen der umgefallenen Baumstämme klettern mussten. Bei Kar angekommen sahen sie es sofort: Spuren.

Ein großer, fast dreieckiger Abdruck, der sich tief ins Erdreich geschoben hatte, direkt davor fünf kleinere Abdrücke mit kleinen Scharten davor.

»Was ist das?«, fragte Siraj.

Kar legte den Kopf schief. »Keine Ahnung. Aber es ist verdammt groß. Verdammt, verdammt groß.«

Etwas über einen halber Meter war die Länge der größten Fährten. Die Spuren eines Waldwächters waren laut Kar nicht einmal ein Zehntel davon.

Dieser betrachtete sie noch eine ganze Weile, maß sie mit seinen Händen immer wieder ab und flüsterte leise vor sich hin, während Ruil und Siraj die Umgebung absuchten. Die Spuren waren alles andere als schwer zu finden.

Die massiven Abdrücke waren überall in die Erde gestanzt worden und zogen sich genau durch die Schneise, die die Kreatur hinterlassen hatte. »Sie bewegt sich auf allen Vieren«, sagte Kar und zeigte auf eine Reihe der großen Fußstapfen, die sich in Anbetracht der Größe dieser in recht geringem Abstand zueinander befanden.

»Ich erkenns nicht...«, sagte Siraj leise. Er hatte sich nie mit Spurensuche auseinandergesetzt
Ruil winkte ab. »Egal, ganz sicher. Läuft so ähnlich wie ein Waldwächter. Scheint nur keinen Schwanz zu haben.«

Dem Heiler wurde mulmig zumute. Er hatte die schüchternen, nachtaktiven Tiere, die man in Jurano Waldwächter nannte, bisher kaum gesehen, aber ihr Gebiss fand er durchaus respekteinflößend. Wenn eine dieser Kreaturen wirklich zehnmal so groß geworden war... Dann konnte es einen erwachsenen Menschen wahrscheinlich mit einem Biss töten.

Der Heiler ging auf ein Knie und fuhr mit einem Finger einer Spur nach. »Was ist das hier vorne eigentlich?«, fragte er und fuhr sanft durch die fünf Rillen direkt vor der Spur.

Ruil kam näher, guckte sich das Gezeigte kurz an, bevor er sich erhob. »Klauen.«

»Klauen?«

»Ja, bei Waldwächtern sieht das ähnlich aus.«

»Dann sind das aber verdammt lange Klauen.«

»Ist ja auch ein verdammt großes Tier.«

Siraj schluckte. Die Vorstellung, dass ein so mächtiges Wesen mit so langen Krallen dicht an Sianna und ihm vorbei gestapft war, ließ kalte Schauer über seinen Rücken fahren.
Kar kam zu den beiden, wobei er die Überreste einer auf dem Boden liegenden Baumkrone umgehen musste. Sie blickten ihn erwartungsvoll an. Er war kaum bei ihnen angekommen, als er begann:

»Also was immer das war, ist vermutlich noch deutlich größer als Basfas. Läuft auf allen vieren, wiegt mindestens fünfmal so viel wie ich, lange Krallen...« Der Alte hielt ein kleines Büschel Haare hoch. »Und braunes Fell. Hing da vorne an nem Ast.«

Siraj nickte anerkennend, Ruil wirkte nachdenklich.

»Was machen wir jetzt?«

»Wir haben zwei Möglichkeiten«, sagte sein Vater.

»Entweder wir folgen den Spuren und schauen uns das Vieh mal an. Oder wir gehen zurück ins Dorf und informieren den Rat.« Ruil stimmte zu.

Kar blickte den Heiler an. »Was würdest du machen, Siraj?«

»Ich bin neugierig... aber wer weiß, was das für eine Kreatur ist. Wir sollten nichts überstürzen.«

Der Alte lachte auf. »Weise, wie dein Vater. Würde ich auch sagen. Wir sollten uns sputen, bevor es dunkel wird.«

Und so traten die Drei schnellen Schrittes die Rückreise an.

Siraj allerdings ging nicht nur so schnell, um den Rat schnellstmöglich einzuberufen. Sondern auch, um den Ort, wo sich das riesige Tier aufgehalten hatte, unverzüglich zu verlassen. Um in die Sicherheit des Dorfes zurückzukehren.

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