Kapitel 1.4: Jurano

Als Ruil und Siraj wieder in Jurano ankamen, ging die Sonne langsam unter. Die meisten Jäger waren mittlerweile zurückgekehrt, auch die Sammler waren fertig mit ihrer Arbeit. Um diese Zeit war in dem kleinen Dorf besonders viel los.

Siraj hatte den Hasen ebenfalls einige Minuten getragen. Er war wirklich schwer. Ruil drängte jedoch darauf, schnell zurück nach Jurano zu kommen. Sie gingen zügig ins Zentrum des Dorfes und von dort aus zum äußeren Rand. Hier war die Trockenhütte; ein großes Gebäude mit mehreren Öffnungen von allen Seiten. Als einziges Haus im Dorf hatte dieses keinen Fellvorhang am Eingang.

Ruil grüßte einen Jäger mit Handschlag, der mit blutverschmierten Händen und Armen soeben aus der Hütte trat. Siraj hielt sich im Hintergrund. »Und, wie siehts aus?«

»Ich glaube, wir sind gut versorgt«, sagte der Mann mit dem schütteren Haar und beugte sich zu einem Trog voll hellrot gefärbtem Wasser. Er befeuchtete seine Hände und Arme und wusch dann die getrocknete, rote Flüssigkeit mit seinen Fingern ab.

Siraj hatte den Geruch des Fleisches, welches hier hing, noch nie so intensiv wahrgenommen. Es roch metallisch nach Blut, nach Tod. Er rümpfte die Nase.

Sein Freund blickte zu ihm. »Du gewöhnst dich dran«, sagte Ruil und grinste.

»Erste Jagd?«, fragte der Andere.

Siraj nickte.

»Und dann direkt so nen fetten Klops? Dein Glück möchte ich haben...« Mit diesen Worten stand der Jäger vom Trog auf und ging ins Innere des Dorfes.

Ruil zuckte mit den Achseln. »Komm, wir gehen rein.«

Innerhalb der Trockenhütte war eine Menge Nahrung in unterschiedlichsten Stadien. Mehrere regal-artige Konstrukte mit diversen Ebenen und in Streifen geschnittenem Fleisch, welches auf langen, dünnen Fassungen hing, füllten den Raum. An den Seiten befanden sich einige Tische, an denen die erlegten Tiere weiterverarbeitet wurden. Ein Mann schnitt soeben einem gehäutetem Reh mit einem Messer mehrmals in die Flanke, bevor er die Ergebnisse seiner Arbeit sorgsam bei den Holzkonstrukten aufhing.

»Bekommt man gleich Hunger, was?«, fragte Ruil und grüßte den Fleischer.

Dieser nickte beiden zu, wischte sich mit der blutverschmierten Hand den Schweiß von der Stirn und fuhr mit seiner Tätigkeit fort.

Siraj wurde weiter durch den Raum geführt, zu den hinteren Regalen. Hier war das Fleisch bereits dunkel und starr, es wirkte im Gegensatz zum Rest nicht mehr frisch.

»Fast perfekt«, sagte Ruil und nahm einen der harten, dunkelbraunen Streifen ab.

»Willst du auch was?«, fragte er und bot Siraj die Hälfte an. Dieser stimmte zu.

Das Fleisch war alles andere als zart, schmeckte dafür aber leicht würzig und war gut zu kauen.

»Hirsch. Hat Rajos gejagt«, sagte Ruil und biss ein weiteres mal von seinem Stück ab.

Als beide fertig waren, machte sich Ruil unverzüglich an die Arbeit.

»Wir müssen ihn zuerst häuten«, sagte er. Siraj trat näher. Das hatte er noch nie von nahem gesehen.

Der Jäger nahm eines der herumliegenden Messer aus Feuerstein, wischte Blut und Hautfetzen an der Platte eines Tisches ab und fuhr einmal mit der Klinge um das Knie des erlegten Tieres.
»Bei Hasen ist das eigentlich ziemlich einfach. Einmal am Knie...« Ruil wiederholte die Prozedur beim anderen Lauf.

»Und dann runterziehen. Kinderleicht.« Er griff vorsichtig in die geöffneten Stellen hinein und zog das Fell hinunter. Es schien sich erstaunlich leicht vom blutigen, rosa Fleisch zu lösen.

»Und hier das hier weg.« Mit einem präzisen Schnitt trennte Sirajs Freund den kleinen Schwanzknochen des Hasen ab, der sonst das weitere Häuten behindert hätte.

Der Heiler war überrascht - für den Jäger erschien diese Arbeit so alltäglich wie anderen das Essen und Schlafen.

»Jetzt musst du ihn halten.« Ruil packte den Hasen an den Hinterläufen und reichte ihn Siraj.
Dieser nahm das tote Tier und hielt es kopfüber. Das bereits abgetrennte Fell hing vom Fleisch hinab und der Jäger zog es weiter über den Körper. Seine Hände waren schnell blutverschmiert. Dem Heiler wurde flau im Magen. Irgendwie kam es ihm barbarisch vor, so mit einer Leiche umzugehen - auch wenn es nur ein Tier war.

»He Ruil!«, dröhnte eine laute Stimme durch die Trockenhütte.

Der Jäger ließ von der Beute ab und drehte sich um.

Ein kräftiger Mann Anfang vierzig, mit langem, buschigem Bart und Halbglatze kam auf sie zu. Rajos. Neben Ruils Vater Kar wohl der erfolgreichste Jäger von Jurano.

»Was gibts?«, rief Ruil und bedeutete Siraj mit einer knappen Geste, den Hasen auf den Tisch zu legen. Der Heiler folgte der Aufforderung.

»Hast du Garoj gesehen?«, fragte der Ältere, während er näherkam.

»Das letzte mal heute morgen, als ihr losgezogen seid. Wart ihr nicht zusammen unterwegs?«

»Toll«, knurrte Rajos. Er ließ die Frage unbeantwortet.

»Warum fragst du?«

»Jorklara geht mir auf die Nerven. Anscheinend hat es der Trottel noch nicht nach Hause geschafft und es wird bald dunkel. Hab ihr gesagt, ich hör mich mal um. Aber bis jetzt sagt mir jeder dasselbe.«

»Ihr seid doch schon vormittags los, oder?«

»Ja. Das verstehe ich eben auch nicht.« Rajos seufzte. »Nachher liegt der Dummkopf noch bei irgendeiner anderen Frau.«

»Glaubst du echt, Garoj würde so etwas machen?«

Der Jäger mit dem langen Bart lachte. »Wohl eher nicht. Ich würde aber, wenn ich so ein Weibsbild wie Jorklara ertragen müsste.« Dann musterte er den jungen Heiler, der etwas abseits stand.

»Siraj, was machst du denn hier?«

»Ich habe ihn auf die Jagd mitgenommen.«

»Und, wart ihr erfolgreich?«

»Waren gerade am zerlegen.« Ruil lächelte.

»Ich seh es. Keine schlechte Arbeit. Siraj, richte deinem Vater meinen Dank aus. Meiner Schulter geht es schon viel besser.« Probeweise ließ der Jäger seinen rechten Arm zweimal kreisen und grinste. »Perfekt.«

Der Heiler nickte. »Er wird sich freuen, das zu hören.«

»Hoffentlich bleibt er uns noch lang erhalten.« Rajos warf Siraj einen seltsam abschätzigen Blick zu, den dieser nicht richtig einordnen konnte, bevor er sich verabschiedete und wieder aus der Hütte trat. Von draußen drang die aufgebrachte Stimme von Jorklara hinein.

Ruil zuckte mit den Achseln und häutete das Tier mit Sirajs Unterstützung weiter.

»Was meinst du, wo Garoj ist?«, fragte Siraj, als der Jäger gerade das gebrochene Genick des Hasen ausnutzte, um mit einer ruppigen Bewegung den Rest zur Gänze abzuziehen.

Sein Freund schaute auf.

»Ich weiß es nicht. Kann mir vorstellen, dass er sich verlaufen hat. Oder dass er bisher noch nichts gefunden hat. Seine Frau und er streiten sich ständig, wenn er nichts nach Hause bringt.«
Während er sprach, hatte Ruil das Fell vollständig abgezogen. »Sehr schön, oder?«, grinste er und hielt die Trophäe hoch.

Siraj dachte nicht weiter darüber nach und half Ruil beim weiteren verarbeiten der Beute. Der Hase wurde zerlegt, ausgeweidet und anschließend ebenso wie die anderen Fleischstücke hier in Streifen geschnitten und nacheinander aufgehängt. All dies dauerte seine Zeit, so mussten sie aufgrund der Dunkelheit eine Fackel in der Trockenhütte entzünden und traten erst hinaus, als die Sonne schon lange hinter dem Horizont aus endlosen Baumkronen versunken war.

Siraj beeilte sich, zu Sianna zu kommen, welche ihn bereits erwartet hatte. Gemeinsam speisten sie mit Sojas. Es gab recht frisches, weichgekochtes Rehfleisch, dazu einige Karamsbeeren und essbare Kräuter, die durch die deftige Note ein bisschen Abwechslung im Geschmack anbieten sollten.

Sein Vater hatte sich mal wieder selbst übertroffen - es schmeckte vorzüglich.

Als die drei am Tisch saßen, erzählte Siraj von dem Tag mit Ruil, von der Jagd, der anschließenden Arbeit beim Verwerten des Hasen, Rajos Genesung und dem Verschwinden von Garoj.

Als er geendet hatte, streichelte Sianna langsam seine Hand. »Gut, dass du kein Jäger bist.«

»Warum?«

»Damit ich mir keine Sorgen machen muss. Ich mag Jorklara nicht besonders, aber das wünsche ich keiner Frau.«

»Und heute? Da war ich doch auch jagen, oder?«, grinste Siraj.

Sianna zuckte mit den Achseln. »Ja, aber du warst nicht alleine. Ruil weiß, was er tut.«

»Was sagst du dazu, Vater?«, fragte der Heiler. Sojas starrte gedankenverloren auf die tönerne Schale mit den Essensresten.

»Vater?«

Er blickte auf. »Ich mache mir Sorgen um Garoj. Ich kenne ihn schon lange. Und wenn jemandem etwas zustößt, dann am ehesten den Jägern, die alleine losziehen.«

Sianna nickte. »Du meinst, so wie Ruils Vater damals?«

Siraj dachte an den Vorfall zurück. Sah Kar vor sich, wie er versuchte, das in seiner Kehle angesammelte Blut auszuhusten. Er schüttelte den Gedanken schnell ab.

»Das war eine Ausnahme. Nein, es gab schon mal einen Jäger, der verschwunden ist«, sagte Sojas und puhlte eine einzelne Beere vom Tisch, die er nachdenklich zwischen seinem Zeigefinger und Daumen hin- und her rollte.

»Ein Jäger ist verschwunden? Einfach so?«, fragte Sianna.

Sojas nickte. »Genau wie bei Garoj. Er ging auf die Jagd und kehrte nicht nach Hause zurück. Da war ich in eurem Alter und gerade mit deiner Mutter zusammen, Siraj.«

Sojas wurde immer schwermütig, wenn er von seiner Frau Jia erzählte. Siraj wusste nach zwanzig Jahren immer noch nicht, wie er sich dann verhalten sollte. Für ihn existierte diese Person nur in den zahlreichen Erzählungen seines alternden Vaters.

»Die Familie des Jägers bat den Rat um Hilfe und es wurden viele Suchmannschaften losgeschickt. Jeden Tag streiften dutzende durch den Wald und suchten. Er blieb aber weiterhin wie vom Erdboden verschluckt. Man ging davon aus, dass er sich bei der Jagd verlaufen haben musste. Als der Winter einbrach, war klar, dass er es nicht überlebt hatte. Diese Temperaturen ohne Unterschlupf und ohne Vorräte... man verbrannte ein paar seiner Habseligkeiten, damit er wenigstens die Chance haben konnte, ein Teil des ewigen Himmels zu werden.«

Sianna und Siraj schwiegen. Für sie war es unvorstellbar. In Jurano verstarb jeder im Kreis seiner Geliebten. Aber dort draußen allein im Wald - geplagt von Hunger und Kälte...

Siraj dachte noch darüber nach, als Sianna und er wenige Stunden später im Bett lagen.

Mittlerweile war es tiefste Nacht. Die letzten Geräusche des Dorfes verklangen, auch die schwierigsten und aufmüpfigsten Kinder schliefen bereits. Nur noch vereinzelte Stimmen waren zu hören.

Und er lag wach und starrte an die Decke. Irgendwie ließen ihn seine Gedanken nicht los.
Sianna neben ihm drehte sich um und blickte ihn an.

»Du bist ja auch noch wach«, flüsterte sie und streichelte mit einer Hand sanft seine Wange.

Siraj musste bei ihrer Berührung lächeln.

»Ich fühl mich noch gar nicht müde, weißt du?«, sagte er leise, nahm ihre Hand von seinem Gesicht und küsste die Innenfläche.

Sie lachte leise. »Ich hab eine Idee...«, sagte sie.

»Was denn?«

Sianna richtete sich auf und grinste den Heiler an. Ihre braunen Augen blitzten vergnügt auf.
»Wir gehen spazieren.«

»Jetzt?«

»Ja, genau jetzt.«

Siraj sah nicht wirklich einen Grund, dagegen zu reden - er war ja ohnehin wach. Außerdem kannte er Sianna nur zu gut: Im Zweifel würde sie alleine gehen. Wenn sie sich einmal was in den Kopf gesetzt hatte, war sie nicht davon abzubringen.

Die Beiden kleideten sich warm an und verließen ihre Hütte. Kalte Luft umschlang sie. Die Nächte waren mittlerweile eisig. Sianna ging munter voran, zog Siraj teilweise an der Hand und lief mit traumwandlerischer Sicherheit durch den Wald. Schon nach wenigen Minuten lagen die dunklen Hütten Juranos hinter ihnen. Der Halbmond hatte nur selten die Kraft, das Blätterdach der Baumkronen zu durchdringen, dementsprechend dunkel war es am Boden.

Als Sianna und Siraj bei der Stelle am Bach ankamen, die sie ihm schon in seiner Jugend gezeigt hatte, fand er es einfach nur unglaublich schön. Das langsam fließende Wasser leuchtete hell auf, gleich mehrere Mondglocken, die sich erst unter dem nächtlichen, fahlen Licht vollständig entfalteten und zu glühen schienen sowie einige Sträucher und kleinere Geäste, welche sich sanft im aufkommenden Wind wiegten. Die Natur verabschiedete sich gebührend von ihrer sommerlichen Schönheit.

Die Sammlerin drehte sich wortlos zu Siraj um und lächelte, bevor sie ihm einen langen, leidenschaftlichen Kuss aufdrückte. Er fühlte sich wie in einem Traum. Die zarten, weichen Lippen von Sianna und ihre Hände, die ihn noch mehr an sie pressten, ließen ihn alle Sorgen vergessen. Die Gedanken an Garoj verschwanden, ebenso die vorher langsam an seinem Körper hoch kriechende Kälte. Er wollte mehr.

Er packte Sianna am Kopf und küsste sie ebenfalls voller Elan, voller Verlangen. Der junge Mann ging ein paar Schritte, während er abwechselnd über ihre Lippen und ihren Hals fuhr und drückte sie dann an einen Baum. Sianna blickte ihn gierig an.

»Hier?«, fragte sie atemlos. Ihre Stimme zitterte vor Aufregung und ihre großen Augen machten mehr als deutlich, dass die Frage obligatorisch war.

Siraj umschlang sie zur Antwort mit seinen Armen und saugte an ihrem warmen Hals. Sie stöhnte auf. Plötzlich ertönte ein lautes, kehliges Geräusch. Es riss Siraj aus seiner Traumwelt, trieb die gerade aufgebaute Erotik hinfort und ließ die Kälte wieder in seine Glieder steigen.
Er ließ von seiner Frau ab.

»Was war das?«, fragte sie. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Siraj setzte zur Antwort an, da ertönte es wieder. Länger. Lauter. Näher.

Es klang ähnlich tief wie das Röhren eines mächtigen Hirsches, nur viel bedrohlicher. Seine Nackenhaare stellten sich auf. In geringer Entfernung zu ihnen knackte Holz, dann raschelte Laub. Lautes Schnüffeln ertönte. Wieder das hallende Brechen von Ästen. Was auch immer es war, es war groß. Wirklich groß.

»Siraj... Ich habe Angst...«, hauchte Sianna.

Er konnte nicht antworten. Ein dicker Kloß hatte sich in seinem Hals gebildet. Seine Beine zitterten. Und auch die sonst so lebendige Sianna war erstarrt und lauschte.

Das Wesen stieß ein weiteres jener brummenden Geräusche aus, bevor es offensichtlich in Richtung des großen Hügels stapfte, den der Heiler und die Sammlerin in ihrer Jugend bestiegen hatten. Das Knacken des Holzes entfernte sich stetig. Doch erst, als es kaum noch wahrnehmbar war, wagten beide wieder, normal zu atmen.

»Was war das?«, fragte sie leise.

»Ich weiß es nicht...« Siraj wusste nur, dass er hier auf keinen Fall bleiben wollte.
Sie waren ungewöhnlich schnell wieder im mittlerweile vollkommen menschenleeren Dorf angelangt und lagen kurz darauf wieder im Bett.

Sianna streichelte über Sirajs Brust. »Meinst du, wir sollten das jemandem sagen?«

»Aber ja.«

»Jetzt?«

Der Heiler schüttelte den Kopf.

»Wir warten damit bis zum Morgen. Dann sollen sich die Jäger das mal anschauen. War wahrscheinlich einfach nur ein großer Waldwächter oder so.« Siraj hoffte, dass Sianna nicht erkannte, dass er das nur zu ihrer Beruhigung sagte.

Sie nickte langsam und legte ihren Kopf auf seine Brust. Er hoffte, sie bemerkte nicht sein schnell schlagendes Herz. Das unheimliche Gefühl, welches er im Wald verspürt hatte, war ihm noch viel zu präsent.

Er strich gedankenverloren durch ihre Haare. Jetzt konnte er noch viel weniger schlafen. Die allgegenwärtige Dunkelheit des Waldes, der Jurano umspannte, erschien ihm zum allerersten mal in seinem Leben bedrohlich.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top