Kapitel 1.3: Jurano
Die Jahre zogen ins Land. Siraj hatte mittlerweile 20 Winter erlebt und wie sein Vater Sojas den Beruf des Heilers ergriffen.
Als er an diesem Morgen die Augen aufschlug, bemerkte er wie jeden Tag als erstes, dass Sianna bereits das gemeinsame Bett verlassen hatte. Wie konnte man nur so früh aufstehen?
Mit einem Gähnen rollte Siraj sich herum. Wie spät es wohl war?
In diesem Moment wurde der schwere Fellvorhang, der den Ein- und Ausgang zur Holzhütte, in der beide wohnten, darstellte, beiseite gezogen. Sonnenlicht drang ins Haus hinein und Siraj verschloss genervt die Augen. Anscheinend zu spät.
»Du liegst ja immer noch im Bett!«
Der junge Mann stöhnte und zog das dicke Fell wieder über seinen Kopf.
Sinnlos.
Sogleich wurde ihm seine Decke weggezogen. Kalte Luft drang an die nackte Haut. Er wand sich und öffnete die Augen. »Muss das sein?«, fragte er seine Frau, die ihn tadelnd musterte.
»Offensichtlich ja. Ich würd dich auch lieber schlafen lassen, aber du verpasst ja dein halbes Leben.«
Siraj rieb sich die Augen. »Stimmt gar nicht.«
Sianna schüttelte den Kopf und drehte sich um. Ein geflochtener Korb mit einigen Kräutern wurde auf den Tisch gestellt. »Ruil hat nach dir gefragt«, sagte sie und begann, die Pflanzen zu begutachten.
Langsam wurde er wacher. »Ruil? Was wollte er?«
»Hat gefragt, ob euer Treffen heute noch steht.«
Siraj schreckte hoch. »Treffen?«
Sianna lachte. »Ja. Wolltest du nicht bei der Jagd dabei sein?«
»Scheiße!«, fluchte ihr Mann und stand so überstürzt auf, dass er beinahe aus dem Bett fiel. »Wie spät ist es denn?«
»Mittag. Die Sonne steht schon hoch.«
»Warum weckst du mich nicht früher?«, fragte er und zog sich möglichst schnell sein Fellgewand an.
»Dir kann man es aber auch nicht recht machen. Einmal ist es falsch, dich zu wecken, dann ist es aber auch falsch, dich nicht zu wecken.«
Siraj seufzte. Sianna hatte natürlich Recht. Er verhielt sich unfair.
»Tschuldige, Schatz. Bin ja auch gerade erst aufgestanden.«
Siraj sah, was seine Frau in diesem Moment tat.
»Du warst schon im Wald?«
»Natürlich. Hatte ja genug Zeit.«
Siraj umarmte seine Frau von hinten und faltete die Hände vor ihrem Bauch zusammen. Er hörte, wie sie leise lachte. Sie war dort empfindlich. »Was würde ich bloß ohne dich tun?«, fragte er und legte sein stoppeliges Kinn auf ihre Schulter.
»Wahrscheinlich schlafen«, konterte sie.
Er seufzte, drehte sie langsam um und blickte in ihre großen, braunen Augen. Sie hatte sich seit ihrer Jugend kaum verändert - sie war maximal noch hübscher geworden.
»Guten Morgen«, hauchte er und drückte seine Lippen kurz auf ihre.
Sie grinste. »Mittag.« Und gab ihm ihrerseits einen langen Kuss. »Jetzt geh schnell, sonst zieht Ruil noch ohne dich los«, sagte sie.
Der junge Mann nickte. »Bist du hier, wenn ich zurückkomme?«
»Ich weiß noch nicht, eigentlich wollte ich nachher noch mit Jina was spazieren gehen. Und meine Mutter wollte noch meine Hilfe bei irgendwas.«
»Dann beim Abendessen.«
Seine Frau lächelte. »Klingt gut. Heute bei deinem Vater?«
»Genau. Bis dann!«, rief Siraj, während er schon aus der Hütte rausging.
»Bis dann!«
Tatsächlich war der Mittag schon fortgeschritten. Die Sonne war beinahe in ihrem Zenit. Siraj grüßte zwei alte Frauen, die laut schnatternd an ihrem Haus vorbeiliefen. Die Damen grüßten ihn knapp zurück, bevor sie mit ihrem Gespräch fortfuhren. Jetzt musste er schnell zu Ruil. Die Hütte von Sianna und Siraj lag nicht gerade im Dorfzentrum, im Gegensatz zu Ruil, welcher direkt am Hauptplatz wohnte.
Er ging schnellen Schrittes los, grüßte den ein oder anderen vorbeikommenden Dörfler und genoss die warmen Strahlen der Sonne in der ansonsten eher kühlen Luft. Der Herbst hatte begonnen.
Eine Sammlerin mit einem kleinen Korb voller Himmelsfrüchte lief an ihm vorbei. Wohl die letzten, die man dieses Jahr finden würde. Siraj grüßte im Vorbeigehen die Jägerin Jaira, die gerade ihrem Sohn eine Standpauke auf offener Straße hielt. Wahrscheinlich hatte der Kleine sich wieder geprügelt.
Nach kurzer Zeit war Siraj auf dem Hauptplatz. Dieser war eine größere, mit glatter Erde bedeckte Fläche, auf der unter anderem das Ratsgebäude stand.
Weiter vorne war das Ratshaus; das größte Gebäude des Dorfes. Sein Vater war Mitglied im Rat. Er hielt sich hier aber nur noch auf, wenn es zwingend notwendig war. Das Alter forderte langsam seinen Tribut.
Ein mannshoher, schwarzer Findling war in der Mitte des Platzes. Jedes mal aufs Neue wirkte es auf den jungen Heiler so, als hätte ein Riese ihn dort abgestellt. Er wirkte vollkommen deplatziert - und doch war er genau im Zentrum des Dorfes.
Ein junges Pärchen ging an dem Stein vorbei und beide strichen im Vorbeigehen mit der Hand über den ständig warmen Fels. Angeblich brachte das Glück. Sojas hielt das für Aberglauben, also tat Siraj es auch nicht.
»He, Siraj«, ertönte eine Stimme über dem Platz. Der junge Mann wurde aus seinen Gedanken gerissen.
Ruil kam auf ihn zu. »Sianna meinte, du hast noch geschlafen?« Er grinste.
Der Heiler nickte. Der Jäger schüttelte den Kopf und klopfte ihm auf die Schulter, als er an ihm vorbeiging. »Komm mit.«
Folgsam lief Siraj ihm hinterher.
Ruil strich sich die mittellangen, schwarzen Haare aus dem Gesicht und ging zu seiner Hütte. Eine kleine Bank, bestehend aus einem gespaltenen Holzstamm war davor. Auf dieser lagen einige Pfeile und ein Bogen.
»Ich wollte eigentlich früher weg. Jetzt sind Rajos, Garoj und die anderen schon losgezogen«, murmelte Ruil und ging in die Hütte hinein, um wenige Momente später mit einem Köcher aus Leder wieder hinauszutreten. Er stopfte die Pfeile hinein, band ihn sich um und schulterte den Bogen.
»Bekomm ich keinen Bogen?«, fragte Siraj.
»Klar doch. Damit du auf deiner ersten Jagd nicht nur alle Hirsche und Rehe verscheuchst, sondern auch gleich noch ein paar meiner Pfeile verschießt.«
»Vielleicht treff ich ja?« Siraj blickte seinen Freund herausfordernd an.
»Heute nicht. Vielleicht ein ander mal«, sagte Ruil und blickte zur Sonne. Sie hatte ihren Höhepunkt erreicht.
»Genug geplaudert, wir müssen los.« Mit diesen Worten lief Ruil los, direkt in Richtung Wald.
Siraj folgte ihm. Er ging so oft mit Sianna spazieren, da hatte sich seine Kondition deutlich verbessert. Gegen den athletischen Ruil war das jedoch nichts.
Sie hatten nach kurzer Zeit die letzten Ausläufer Juranos verlassen und liefen noch einige Minuten durch den Wald. Das Laub unter ihren Füßen raschelte, Holz knackte und Siraj keuchte. Ruil hingegen gab kaum einen Ton von sich, während er über Baumstümpfe sprang, bei Unebenheiten seinen Schritt beschleunigte oder verlangsamte und immer wieder nach Siraj schaute, welcher in geringer Entfernung zu ihm vor sich hin schnaufte.
Als Ruil endlich anhielt, stützte sich der Heiler auf seine Knie und versuchte, tief Luft zu holen. Pochendes Seitenstechen machte sich bemerkbar und verhinderte einen klaren Gedanken. Schweiß rann über seine Stirn.
Der Jäger allerdings schien genauso ruhig wie immer zu atmen. Er kniete sich hin und untersuchte den Boden.
»Gerade hinstellen«, murmelte er und wühlte im Laub herum.
Siraj spuckte aus und blickte seinen Freund an. »Was hast du gesagt?«
»Gerade hinstellen. Und Arme nach oben.«
»Warum?«
»Dann kannst du richtig atmen. Hilft gegen das Stechen.«
Siraj folgte der Empfehlung und holte tief Luft, während er bemerkte, dass das unangenehme Gefühl langsam verschwand. Er hielt die Arme weiterhin gen Himmel und beobachtete Ruil. Dieser nahm ein paar Blätter und ließ sie fallen. Sie flogen von ihnen weg.
»Na toll«, seufzte der Jäger, schulterte seinen Bogen erneut.
»Was?«, fragte Siraj.
»Der Wind weht aus der Richtung, aus der wir kommen. Das ist nicht gut.«
»Was heißt das?«
»Dass wir nach links gehen. Dahinten ist eine Böschung. Und da in der Nähe kommt ein Flusslauf. An einer Stelle sind öfter Tiere.« Ruil hatte seinen Vater schon früh zum jagen begleitet. Er kannte den Wald wie kaum ein anderer, selbst hunderte Meter von Jurano entfernt.
Gemeinsam folgten sie den von Ruil beschriebenen Weg - sie bogen scharf links ab und gelangten schnell zu einem kleinen Abhang, dem sie eine Weile folgten. Sie liefen nicht mehr, sondern gingen nur noch. Der Jäger wies Siraj ab da an, darauf zu achten, auf kein Holz zu treten. Bloß keine Beute verscheuchen.
Er hatte den Bogen bereits in der Hand, einen Pfeil locker eingelegt. Anscheinend erwartete er bald Rehe oder ähnliches. Gelegentlich kniete er sich hin und wischte das Laub beiseite, um beim Anblick des Bodens ein leises »Ahh« auszustoßen und dann weiterzugehen.
Er sprach nie viel. Doch auf der Jagd nahm seine Wortkargheit neue Dimensionen an. Erinnerte Siraj an Ruils Vater, Kar. Jener Jäger, den Sojas vor einigen Jahren das Leben gerettet hatte.
»Macht es dir Spaß?«, fragte Ruil, ohne sein Gesicht vom Bach, der in einiger Entfernung leise vor sich hinfloss, abzuwenden.
»Der Spaß hält sich in Grenzen«, seufzte Siraj.
»Glaub mir, es gibt kein besseres Gefühl, als den ganzen Weg mit einem selbst erlegten Tier zurückzulaufen.«
Bald hatten sie die von Ruil angepriesene Stelle am Wasserlauf erreicht. Hier war er großflächiger, blieb aber flach. Er war nur leicht von Bäumen abgeschirmt, sodass ein wenig Sonne das Wasser zum glitzern brachte.
Kein Reh, kein Hirsch, kein größeres Tier weit und breit. Die Enttäuschung stand dem Jäger ins Gesicht geschrieben. Er beobachtete den Bach einige Zeit, aber nichts rührte sich. Siraj setzte sich hin.
Anscheinend brauchte man als Jäger vor allem Geduld.
Allerdings gefiel ihm die Stelle. Hier musste er mal mit Sianna spazieren gehen. Sie fände es bestimmt schön. Hoffentlich würde er hier hin zurückfinden...
Plötzlich wurde Ruil unruhig. Er huschte hin und her, schien etwas sehen zu wollen, spannte mehrmals den Bogen, um dann die Sehne wieder kontrolliert nach vorne ziehen zu lassen.
»Was hast du?«
»Da unten, Siraj. Direkt am Wasser.«
Ruil deutete mit seiner freien Hand in die Richtung unterhalb der Böschung. Sein Begleiter aber sah nur ein paar Sträucher von den hellblauen Wolkentrauben. Die wuchsen fast überall.
»Was ist damit?«
»Such einen Stein. Einen großen«, flüsterte Ruil. Er stand vorsichtig auf und lehnte sich an einen Baum. Der Pfeil war nach wie vor angenockt.
Der Heiler wurde schnell fündig und zeigte es dem Jäger. Ein großer, grauer Stein.
»Wirf ihn ins Gebüsch.«
»Sicher?«
»Total sicher.«
»Jetzt?«
Ruil spannte den Bogen und zielte auf das Gebüsch. »Jetzt.«
Siraj warf, so fest er konnte. Der Stein schlug knapp neben den Beeren ein. In diesem Moment huschten zwei große, braune Fellknäuel aus den Pflanzen. Ruil ließ den Pfeil endlich von der Sehne schnellen, der eines der Wesen erwischte. Das andere hoppelte in Windeseile davon.
»Ein schöner dicker Hase!«, rief Ruil, schulterte die Waffe und lief den Abhang hinunter. Die noch leicht zappelnde Beute wurde mit einem geübten Genickbruch von Ruil endgültig erledigt, bevor sie entkommen konnte.
Mit dem aufgespießten Tier, welches Siraj trug, traten sie den Rückweg an. Ruil war sichtlich zufrieden, er ließ die Arme schlenkern und pfiff fröhlich vor sich hin.
»Was haben die Hasen da gemacht?«, fragte der Heiler nach einer Weile.
»Die müssen uns direkt bemerkt haben. Haben sich versteckt. Himmelsbeeren bieten ein ideales Versteck für so kleine Tiere. Viele Dornen ab einer bestimmten Höhe. Und die Blätter geben Sichtschutz.«
»Und warum sind sie dann raus gekommen, als ich den Stein geworfen hab?«
»Weil sie in Panik geraten sind.«
»Ganz schön blöd.«
Ruil zuckte mit den Schultern. »Sind halt nur Tiere. Deswegen stehen wir an der Spitze der Nahrungskette. Und deswegen kann ich Jina demnächst einen neuen Kissenbezug schenken.«
Siraj grinste. Der Jäger hatte Recht gehabt - wenn alles erledigt war, fühlte man sich tatsächlich gut.
Und er stimmte in das Gepfeife seines Freundes mit ein, bis sie wieder im Dorf waren.
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