Kapitel VI
Kapitel VI
Noch einige Tage blieben die beiden an Firus Grabstätte rasten. Das Regenwasser hatten sie aufgefangen, solange bis der Regen wieder aussetzte. Der Schmerz und die Trauer waren lange nicht verflogen, doch sie hatten sich wieder etwas beruhigt. Mia hatte Sam nachts weinen gehört und irgendwann beschlossen, sich neben seinen gebeugten Rücken zu setzen und sachte darüber zu streicheln.
Die Nächte waren klar gewesen und manchmal hatte Sam einfach nur Sterne gezählt. Es schien ihn zu beruhigen, dass einer der Sterne immer etwas heller leuchtete, als die anderen. Er wusste genau, wer dieser Stern war.
Am vierten Tag nach Firus Tod, beschlossen sie, sich wieder auf den Weg zu machen. Es schien ihnen die beste Lösung, die Gepäckstücke auf Caldo und Azel zu verteilen und selbst zu laufen. Einmal am Tag musste Mia mit Caldo galoppieren, da sie einfach zu ungestüm war und zickig wurde.
Irgendwie hatten sie es geschafft, sich, was Essen anging, über Wasser zu halten. Sie redeten nicht viel miteinander, auch um die Psyche des anderen in Ruhe zu lassen. Sam dachte zu viel und zu lange über Firu nach und durch seinen Verlust wurde Mia langsam bewusst, welches Ausmaß ihr überstürztes Vorhaben wirklich hatte. Sie war davon ausgegangen, immer genug von allem zu haben und nichts zu verlieren. Irgendwann anzukommen. Doch darin hatte sie sich getäuscht. Wahrscheinlich war Sam dies von Anfang an klar gewesen, so wie er irgendwie immer alles voraussah. Warum hatte er nichts gesagt? Hatte sie ihm wirklich so wenig Zeit zum nachfragen gegeben?
„Sam? Willst du was wissen?", fragte sie vorsichtig. Er schreckte aus seinen Gedanken hoch. Anscheinend wechselten sie die Rollen. Nun war er es, der gefangen war in der Welt der Gedanken.
„Wenn du es nicht für dich behalten möchtest", antwortete er.
„Ich hab' dir doch gesagt, dass meine Eltern sich mit Namen angesprochen haben, weißt du das noch? Als du gefragt hast, warum ich weg will."
„Ja... ja, das weiß ich noch. Was ist damit?"
„Sie haben sich vorher nie mit ihren... also mit den Zeit-Namen angesprochen. Warum ausgerechnet jetzt? Ich wusste nicht mal, dass sie so heißen! Deswegen wollte ich diese Reise machen. Ich wollte herausfinden, ob Mia mein richtiger Name ist. Oder ob unser Sein einen Sinn hat. Oder ob man überhaupt etwas lernen kann, oder wissen wir schon alles, nur eben nicht bewusst? Kannst du mir Antworten geben? Ich hasse es, Fragen zu haben!"
Träge wandte er seinen Kopf zu ihr um. Sie bemerkte seine dunklen Augenringe. Das konnte nicht gesund sein!
„Ich weiß es nicht, Mia. Wenn unser Sein einen Sinn hätte, warum stirbt man dann? Warum wird man erst geboren um dann zu sterben? Ist das sinnvoll? Oder ist es sinnvoll etwas zu lernen, egal ob man dieses Wissen schon vorher hatte oder nicht, wenn man danach stirbt? Weißt du, was Lena mal gesagt hat?" Lena war Sams sechsjährige Schwester. Sie machte sich über einiges in der Welt Gedanken und ähnelte Mia auf ihre eigene, verwirrende Weise.
„Sie redet die ganze Zeit vor sich hin. Ich kann mir nicht alles merken, was sie je gesagt hat."
„Der Tod ist die Mutter der Schönheit", hauchte Sam monoton.
„Das hat sie gesagt? Wie kommt sie nur auf so etwas?"
„Hör auf damit! Lass diese Fragen! Erkläre lieber, warum wir Firu gehen lassen mussten!"
„Ich kann es dir nicht erklären! Ich weiß auch nicht, warum er sich hat fallen lassen! Ich weiß... ich weiß nichts. Nichts! Das ist schrecklich!"
„Hör auf, so über dich zu reden. Du bist zu neugierig, um nichts zu wissen. Du bist zu offen, um nichts zu wissen." Mia antwortete nicht.
Auf einmal blieb Mia stehen. „Sieh dir das an! Schau doch!" Sam hob den Blick. Ihm kam es so vor, als sei das Gras grüner geworden. Und er hörte Frösche. Wie...?
„Wie ist das möglich?", fragte er entgeistert.
„Das muss heißen... Was denkst du?"
„Schau nach. Du bist die, die nicht rät."
So stapfte Mia dorthin, von wo sie die Frösche hörte. Es wunderte sie, warum auf einmal so viel mehr Leben an dieser Stelle war, als bisher auf ihrer Reise.
Und plötzlich sah sie ihn. Der Rivulus zog sich, genau wie beim ersten Mal als sie ihn entdeckten, wie ein silbernes Band durch die Landschaft. Sie konnte es nicht glauben. Die späte Nachmittagssonne ließ ihn in einem Farbton erstrahlen, den sie so vorher nie gesehen hatte. Eine Mischung aus silbern und golden, blau und grün, ein wenig braun und ein bisschen mehr schwarz von den Schatten, die darauf fielen.
Sie atmete aus, hatte nicht bemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte, und schrie vor Freude. Tanzte, bis ihr schwindelig wurde, lies sich in den Fluss fallen, schluckte Wasser, prustete, lachte und rannte das Ufer hinauf. „Du errätst es niemals!", brüllte sie Sam entgegen, dieser jedoch hatte längst ihre Freudenschreie gehört und das Platschen des Wassers. Doch er konnte sich nicht so richtig darüber freuen. Wegen diesem Fluss hatte er sein Pferd verloren. Vielleicht sollte er sich einfach darüber freuen und seine Trauer für eine Sekunde vergessen. Doch das konnte er nicht. Wie denn auch? Firu war... Ach, er wusste nicht, was Firu war.
„Sam?", Mia schnippste vor seinem Gesicht herum. „Du solltest wirklich mal hinein gehen. Ich weiß, deine Beziehung zu Wasser steht nicht unter dem besten Stern, aber..."
„Ich weiß, ich weiß." Er atmete tief durch und ging auf das Ufer zu, Caldo und Azel hinter sich her ziehend. Um möglichst viel Zeit heraus zu zögern, bevor er das kalte Nass berühren musste, zog er sich langsam aus, war jedoch prüde genug, um sich nicht komplett zu entblößen. Mit den Zehenspitzen tastete er sich langsam nach vorne, überwand seine Hemmungen, so wie jedes Mal, wenn er sich wusch.
„Los. Du schaffst das. Ich weiß es!", redete Mia ihm zu. Er konnte es nicht leiden, wenn sie so etwas sagte, hielt sie aber nicht davon ab. Er rieb sich über die Arme, Beine, wusch den Dreck der Tage, die Sorgen der Nächte und die Ängste der Zeit von sich ab. Ein eiskalter Schauer überfuhr ihn, als er den schmalen Fluss wieder verließ. Seine Wäsche zog er wieder an und beobachtete Mia, wie sich im Wasser geradezu suhlte. Auch die Pferde waren, nachdem er ihnen die Last vom Rücken genommen hatte, in den Fluss gestiegen und wateten darin herum. Ihnen schien es Spaß zu machen. Er verstand es, auch wenn er sich niemals wieder dafür würde begeistern können.
„Ich habe dir erklärt, warum wir jetzt hier sind. Warum also bist du so verklemmt, was Wasser angeht?", begann Mia wieder damit.
„Ich bin nicht verklemmt!", versuchte er abzulenken.
„Natürlich bist du verklemmt! Ich erinnere mich noch genau daran, als du partout den Tisch in die rechte Ecke des Zimmers stellen wolltest, wo doch sonnenklar war, dass er in die Mitte gehörte!"
„Der Tisch hat sich prima in der Ecke gemacht, und außerdem bist du noch viel schlimmer verklemmt als ich, schließlich hast du deinen Willen durchgesetzt und seitdem steht der Tisch in der Mitte", gedanklich fügte er noch ein „wiedermal" dazu, sagte es allerdings nicht laut.
„Wie lange wollen wir hier bleiben?", wechselte sie das Thema.
„So lang, wie nötig. Es ist schön hier. Eine Bucht, geschützt von Bäumen und Büschen. Was sollte uns davon abhalten, weg zu gehen?"
„Regen", konterte Mia, „wenn der Fluss Hochwasser führt, werden wir uns verziehen müssen."
„Gehen wir davon aus, es regnet nicht allzu stark. Warum sollten wir dann gehen?"
„Tja... Lass uns etwas beschließen. Wir bleiben nicht länger als fünf Tage am selben Platz. So kommen wir weiter, können uns aber doch ausruhen."
„Diese Idee ist... total bescheuert. Ich meine, es wird so oder so nicht funktionieren, wenn uns eine Stelle besser gefällt, bleiben wir dort länger und wenn nicht, dann eben nicht", entgegnete Sam.
„Ich den-", abrupt stoppte Mia. Sie hatte ein Rascheln gehört. „Hast du das gehört?", wisperte sie.
Sam antwortete nicht, nickte nur und blickte hellwach in Richtung des Geräusches.
„Zu groß für eine Maus oder einen Vogel. Zu klein für einen Bären. Wolf? Luchs?", analysierte Sam. Kaum hatte er dies gesagt, brach das Tier aus dem Unterholz hervor. Es war kein Luchs. Vielmehr eine Art zahmer Wolf, auch wenn er nicht dessen Aussehen hatte.
„Ein Hund?", kommentierte Mia das unerwartete Erscheinen des Tieres. „Was macht ein Hund hier?"
Derweilen beschnupperte der Hund Sam, der auf dem weichen Sand des Flussufers saß. Kritisch beäugte Mia das Geschehen mit dunklen Augen. Auch Azel hatte in seiner Neugier das Saufen unterbrochen und den Kopf gehoben.
Der Hund hatte begonnen, über Sams Gesicht zu lecken, was diesem nicht besonders gefiel. Er stand auf und schnippte dem Tier gegen dessen Ohr. Mia lachte. „Er scheint nicht bösartig zu sein. Aber wir müssen trotzdem vorsichtig sein. Denkst du er hat irgendeine Krankheit?", fragte sie.
„Sehe ich aus, wie ein Gelehrter? Das Vieh soll sich bloß von mir fern halten!" Genervt fuchtelte er an seinem eigenen Bein herum, der Hund hatte begonnen, sich daran zu reiben.
„Vielleicht will er uns etwas zeigen?", mutmaßte Mia.
„Er will uns nichts zeigen, sondern einfach nur etwas fressen. Ich habe nichts für ihn, also kann er gerne wieder gehen!"
„Ich denke, wir sollten versuchen, ihm zu entlocken, was er sagen möchte." Mia kam aus dem Fluss und begann, sich abzutrocknen. „Er wird wohl kaum hier sein, für nichts."
„Du kannst ihm gern folgen. Sieh was passiert, und staune darüber, dass er nichts weiter möchte, als fressen."
„Ach Sam, lass es uns testen. Was wird schon dabei heraus kommen? Los, sattle die Pferde und dann folgen wir dem Hund."
Tatsächlich liefen sie eine ganze Weile, bis der Hund, dem sie den Namen Ajax gegeben hatten, plötzlich stehen blieb. Es schien nichts Besonderes an diesem Ort, der Fluss war noch immer neben ihnen und die Landschaft hatte sich zu einem lichten Wald gewandelt.
Ajax bellte. Einmal, laut und durchdringend. Kurz darauf regte sich etwas im Unterholz, man konnte Stimmen vernehmen und leises Rascheln. Ein junger Mann trat auf dem gegenüberliegenden Ufer zwischen den Bäumen hervor. Hinter ihm eine Frau und zwei weitere Männer.
„Ah, wir hatten euch erwartet", ließ der Erste sie wissen.
Mia richtete sich auf. „Wer seid ihr?", fragte sie fordernd.
„Mein Name ist Phil. Das ist Kara und diese beiden sind Nero und Luca", entgegnete der erste, Phil, freundlich aber bestimmt.
Sam rollte mit den Augen. „Zahl?", fragte er unhöflich.
„Ts ts ts", machte Phil nur, „nicht so stürmisch. Nero?"
„Phil?", grollte der große schwarzhaarige.
„Bring sie hier rüber. Luca, du nimmst die Pferde."
Mia wurde etwas bang, sie ließ sich allerdings nichts anmerken. Ihr Blick huschte zu Sam, der genauso unbeweglich dastand, wie sie es tat. Nero und Luca wateten durch das seichte Wasser des Flusses, ohne Rücksicht auf ihre nassen Klamotten.
„Ich würde lieber... Also...", Sam stockte.
„Er bevorzugt es, auf dem Trockenen zu bleiben", behalf Mia ihrem besten Freund.
Phil lächelte und sagte dann schlicht: „Er kann doch reiten, nicht wahr?"
Die beiden überfuhr ein eiskalter Schauer. Phils Stimme war scharf wie eine Klinge.
Sam schwang sich also auf Caldos Rücken und ließ sich von dem braunhaarigen, Luca, durch das Wasser führen. Auf der anderen Seite angekommen warteten sie einen Moment auf Mia, bis Phil sich schließlich wieder zu Wort meldete. „Seht uns in die Augen. Was erkennt ihr?"
„Soll uns das ablenken? Wollt ihr uns ein Messer in den Rücken jagen?"
„Wir haben andere Methoden", Phils Mundwinkel zogen sich süffisant nach oben. „Also. Was seht ihr in... beispielsweise in Karas Augen?"
„Das ist eine sehr eigenartige Augenfarbe. Nicht Enzian, nicht Magenta, nicht Flieder, nicht Lavendel und auch keine der anderen Riegen-Farben", analysierte Mia. Sie besah sich Phils und Neros und auch Lucas Augenfarben. Nur Nero kam ansatzweise an eine der Riegen-Farben heran, doch keiner der vier hatte Augen, wie die, die sie kannten.
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