Kapitel IX
Kapitel IX
Mittlerweile lebten sie seit sechs Monaten in der neuen, modernen Welt, hatten sich zurechtgefunden und Freundschaften geschlossen. Heute war ein großer Tag für Mia und Sam, sie hatten ihre sogenannte erste Prüfung hinter sich, in der sie auf ihre neugewonnenen Fähigkeiten getestet worden waren. Mia hatte in dem halben Jahr so viel Neues gelernt, erfahren, dass Krankheiten wie Hannah sie hatte, unglaublich normal waren, Sam hatte sich mit Maxim angefreundet und Caldo und Azel hatten einen festen Platz in einer Herde gefunden.
Elliot hatte ihnen versprochen, heute einen Ort zu besuchen, den er selbst liebte und den sie bisher noch nie gesehen hatten. Jeder Neuankömmling besuchte diesen besonderen Ort nach der ersten Prüfung.
Mia und Sam waren im Auto mitgefahren und jetzt hielten sie auf einem Parkplatz. „Wir müssen noch ein Stück laufen", erklärte Elliot, der sich besonders darauf freute, dass Mia ihm im Gegenzug für diesen Ausflug versprochen hatte, ihm das Augenfarben-System zu erklären, dass er bis jetzt noch immer nicht ganz durchschaut hatte.
Sie stiegen alle aus dem Auto und nahmen jeweils einen Korb mit geheimen Dingen, die Sarah und Eva zusammengestellt hatten, die beiden und Maxim allerdings waren nicht mitgekommen – nur Mia, Sam und Elliot, den Mentor, dem sie beide ihr Vertrauen geschenkt hatten.
Sie stiegen einen Hügel hinauf und vor ihnen erstreckte sich eine Weite Ebene, die an einer Stelle weit hinten plötzlich abzubrechen schien.
Sam entfernte sich direkt von Mia und Elliot, er hatte begriffen, dass sie sich unsterblich in den Mentor verliebt hatte und respektierte das. Lieber entfernte er sich von ihr, als sie von ihm. Natürlich war ihm Maxim eine gute Freundin geworden, aber er rechnete nicht damit, dass sie jemals an seine Mia herankam. Sam lief allein über die weite Ebene und genoss einfach nur den Ausblick, konzentrierte sich auf nichts weiter, als auf die frische Brise, die durch sein Haar strich. Firu hätte das gefallen. Sams Herz zog sich zusammen. Er wusste, ihm hätte es gefallen.
Elliot begann zuerst das Gespräch, das er nicht hatte abwarten können: „Du hast mir versprochen, mir euer System, euer perfektes, zerstörtes System zu erklären."
Mia lachte. Ja, das hatte sie ihm versprochen. Also begann sie zu erklären: „Es gibt insgesamt neun Riegen, und diese Riegen sind in mehrere Schichten unterteilt. Keiner spricht es laut aus und eigentlich ist auch niemand benachteiligt, aber ganz ehrlich – die unteren Riegen sind nicht so hoch angesehen wie die oberen. Die oberen beiden Riegen sind Enzian und Magenta, in Enzian sind hauptsächlich Männer und in Magenta hauptsächlich Frauen. Ich weiß nicht warum, es ist einfach so, man wird ja mit der Augenfarbe geboren und natürlich gibt es auch Frauen in Enzian und andersherum, aber ursprünglich ist es so aufgeteilt", Mia schnaufte, das war alles so kompliziert... Hier war alles so viel einfacher, aber sie hatte Elliot – dem wunderschönen, charmanten Elliot – versprochen, ihm alles zu erklären, und genau das tat sie jetzt. „Flieder, Lavendel und Mahagoni sind die mittleren Riegen, ich bin ja eine Flieder und meine Eltern sind Enzian und Magenta. Keine seltene Kombination, aber ich glaube meiner Mutter wäre es lieber gewesen, wenn ich Magenta oder wenigstens Lavendel geworden wäre. Siehst du, selbst in den Riegen untereinander gibt es noch einmal Ordnungen. Ich bin froh, bei euch gelandet zu sein, auch wenn es anfangs Anflugschwierigkeiten gab." Mia sah Elliot gutmütig lächelnd an, woraufhin er nicht anders konnte, als sie in den Arm zu nehmen. Dieses chaotische, liebenswerte Mädchen, die er inzwischen wirklich lieb gewonnen hatte.
Sam drehte sich weg, er betrachtete das Geschehen aus Entfernung, wie konnte das sein? Er kannte Mia seit ihrer Kindheit und doch hatte sie sich für einen anderen entschieden. Vielleicht gerade deswegen. Er, Sam, oder wie ihn seine Schwester Lena immer genannt hatte – Sammy-Boy – war einfach zu langweilig für ein so wunderbares Mädchen. Sie hatte noch immer keine Ahnung von seinen Gefühlen für sie und er zog auch nicht die Möglichkeit in Betracht, es ihr jemals zu sagen. Sie sollte glücklich werden, mit einem anderen, er versuchte einfach, den Schmerz zu überspielen.
„Wie geht das System weiter?", forderte Elliot. Er betrachtete das Mädchen mit den fliederfarbenen Augen, er war sich sicher, es gab kein einziges weiteres fliederfarbenes Augenpaar, das so leuchten konnte, wie ihre es konnten. Sie fuhr sich durch die vom Winde verwehten Haare und begann wieder zu sprechen: „Die untersten Riegen sind Ocker, Anthrazit, Permanent und Zitrone. Sam", sie drehte sich um und sah zu ihrem besten Freund, der noch immer die Aussicht genießen zu schien, „ist Ocker. Darum wollte meine Mutter nicht, dass wir befreundet sind. Weil die unteren Riegen eben unterschätzt werden, aber er ist mehr mein Bruder, als alle meine Geschwister, die ich habe. Wusstest du, dass die Schwester meines Vaters bei seiner Geburt zusammengebrochen ist?", fragte Mia, ohne daran zu denken, dass Elliot das natürlich nicht wissen konnte.
Elliot zog die Augenbrauen ein winziges Stückchen zusammen und legte den Kopf schief: „Nein das wusste ich nicht. Warum?"
„Sie war die Jüngste der Hebammen und somit eine der ersten die seine Augenfarbe erfahren haben. Ihre gesamte Familie ist aus den unteren Riegen und in der Regel entsteht aus einer langen Reihe von unteren Riegen eine obere Riege. Das war, worauf die gesamten Menschen, die zu der Zeit gelebt haben, gewartet hatten. Dass ein Enzian oder eine Magenta aus einem Paar der unteren Riegen hervorgeht.
Wenn ein Paar, bei dem beide Partner zum Beispiel aus der Flieder-Riege kommen, ein Kind bekommen, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass das Kind auch Flieder wird, aber das muss nicht sein, ich kenne eine Familie, in denen beide Eltern aus Zitrone kommen und sie haben sechs Kinder, die alle in verschiedenen Riegen sind. Ist das nicht witzig?", sie grinste und in ihren Wangen bildeten sich winzige Grübchen, „wenn die Eltern aus verschiedenen Riegen kommen, ist es genauso, wie bei mir, auch dann ist es unbestimmt, in welche Riege das Kind kommt, bis die Gelehrten es untersuchen. Das Kind wird von Geburt an, sobald es etwas wahrnehmen kann in die ihm zugeteilte Riege hineintrainiert."
„Und wie kommen die Zahlen zustande?", fragte Elliot, der jetzt zwar verstanden hatte, wie die Farben zustande kamen, das hätte er sich allerdings auch denken können, aber die Zahlen...
„Mhmm, die Zahlen... Die erste Zahl steht dafür, in welchem Jahr seit der Gründung der Riege das Kind geboren wurde. Meine Zahl ist 269, das heißt, ich wurde geboren, als die Flieder-Riege schon 269 Jahre bestand. Die zweite Zahl ist bei mir die 163, der Tag in dem Jahr aus der ersten Zahl. Ich heiße also Flieder-269-163. Die unteren Riegen wurden erst später gegründet, als die oberen, also die Augenfarben wurden später entdeckt. Deshalb hat jemand, der im gleichen Jahr geboren wurde wie ich vielleicht eine höhere oder niedrigere erste Zahl als ich, je nach Riege. Eigentlich ganz einfach, oder?"
„Ähm...", Elliot brauchte einen Moment um das zu verinnerlichen, „ja, klar", er lächelte. Er würde auf jeden Fall länger als die paar Sekunden brauchen, die Mia ihm gegeben hatte, um dieses System zu verstehen.
„Schau mal, wir sind fast da", der Weg war eigentlich nicht so weit gewesen, aber da sie zwischenzeitlich einfach stehen geblieben waren, aufgrund von Mias Ausführungen, hatten sie deutlich länger gebraucht, als Sam, der bereits dort stand, wo Elliot hin wollte.
Sam drehte sich zu ihnen um: „Was ist das?", fragte er entgeistert. Vor ihm hatte sich ein riesiger Abgrund aufgetan, an dessen unteren Ende, welches er nur von oben betrachten konnte, schaumiges, blaues Wasser leckte.
„Ist es nicht wunderschön?", fragte Elliot, „Das, meine lieben Freunde, ist das Meer. Hört dem Rauschen zu und atmet die salzige Luft ein und genießt die Sonne, die in ein paar Minuten untergeht."
„Das ist tatsächlich wunderschön", stellte Mia ungläubig fest. Nie hätte sie gedacht, dass etwas in diesen Ausmaßen existieren könnte. Das glitzernde Wasser mit den kleinen Schaumkronen und der Sonne im Hintergrund sah einfach nur atemberaubend aus.
Wieder begann Sam, sich zurückzuziehen. Er wollte Mia diesen Moment mit Elliot genießen lassen. Er wusste, dass eigentlich er es war, der es verdient hatte, sie jetzt bei sich zu haben, aber war eben nicht dazu geschaffen, sie für sich zu gewinnen. Er war der verschlossene beste Freund, der einfach nur nach Ihrer Pfeife tanzte. Er ging ein ganzes Stück, die Klippe verlief in einem Bogen, auf der einen Seite standen nun Mia und Elliot und auf der anderen Seite der verschlossene beste Freund. Er musste grinsen, denn genauso war es auch. Er stand auf der einen Seite und die beiden auf der anderen Seite.
Er drehte sich um, sodass die Sonne in seinen Rücken schien und breitete die Arme aus.
Mia und Elliot standen sich gegenüber, sie blickte in seine Augen, und sie wusste: sie hatte sich in ihn verliebt. Sie musste lächeln, noch nie hatte sie sich so etwas Derartiges eingestanden.
„Warum lächelst du?", fragte Elliot.
„Keine Ahnung", sagte sie, beugte sich nach vorn und küsste ihn. Einfach so.
Sam ging ein paar Schritte zurück, schloss die Augen, seine ockerfarbenen Augen, die er so sehr verachtete. Und plötzlich fiel er, hatte nicht mit dem Abgrund gerechnet und das letzte was er dachte, war nicht etwa "Mia" oder "Firu", nein, er dachte Was für eine Ironie.
Sam fand sich in seiner Kindheit wieder, er war vier Jahre alt. Vor drei Monaten waren seine Drillings-geschwister Diabolo, Desiree und Dally zur Welt gekommen. Seine Eltern waren mit ihm und seinen neuen Geschwistern an den Fluss gegangen, zum Baden. Sein ältester Bruder war auch mitgekommen um auf die vier Kleineren aufzupassen. Noch während die Eltern alles was sie mitgebracht hatten, aufbauten, packte Sam die kleine Dally und zerrte sie mit in den Fluss. Er hatte früh gelernt, zu schwimmen und war sich sicher, sie würde es auch lernen. Er lachte.
„Na los, Dally, du schaffst es! Sieh mal, ich zeig' dir, wie man schwimmt!" Er ließ sie los und begann zu schwimmen. Dally schrie. „Ach Dally, nicht weinen", enttäuscht sah er sie an. Sie sollte doch bloß schwimmen! Er zog sie tiefer mit ins Wasser, sah verstohlen zu den Eltern. Sie waren damit beschäftigt, seinen Bruder zu schelten, aber Sam verstand nicht, warum. Das war seine Chance!
„Komm, Dally! Wir schwimmen jetzt!", wieder packte er sie unter den Armen und verfrachtete sie ein Stück weiter in den Fluss. Dally schrie und schrie und Sam begriff langsam, dass sie nicht aus Vergnügen plärrte. Er versuchte, seine kleine Schwester zu greifen, doch die Strömung war schneller. Sam begann selbst zu weinen, brüllte nach seinen Eltern, doch sie waren zu weit entfernt getrieben. Er sah nur noch seinen Vater, der sich suchend umsah.
Dally hatte den Ausflug nicht überlebt, Sam war gescholten worden und er konnte monatelang seinen Eltern nicht in die Augen sehen.
Darum hatte er eine solche Angst vor dem Wasser. Er hatte es nie verkraftet, seine Schwester umgebracht zu haben.
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