Kapitel IV
Kapitel IV
Sie waren bereits eine Weile geritten, als sie auf einen Bach stießen. Jemand hatte mal behauptet, dass der Alveolus hinter den Felder natürliche Ausläufer hatte und dass der größte von ihnen Rivulus hieße. Das musste er sein.
„Sieh mal, Sam", schrie Mia, „Wasser! Ich dachte schon die ganze Zeit, Durst gehabt zu haben. Du auch?"
Manchmal kam sich Sam vor, wie ein riesiger Vogel und Mia war das Küken, dass um ihn herum schwirrte und ihm Dinge zeigte, die für sie so faszinierend schienen, für die sie dankbar war und über deren Selbstverständlichkeit er nur selten nachdachte. Doch trotz der Tatsache, dass Sam sich für beschränkt hielt, sandte er ein Stoßgebet zu jemandem von dessen Existenz oder Präsenz er nie etwas gehört hatte.
Auch er schwang sich von seinem Pferd und stürmte den Hang hinab. Erst jetzt wurde ihm wirklich bewusst, was sie vergessen hatten: Essen und Getränke. Das wichtigste überhaupt und sie hatten es nicht eingepackt. Dieses Himmelfahrtskommando startete ja durchweg positiv. Kein Essen, nichts zum Trinken. Sie würden sich selbst etwas beschaffen müssen. Sam hatte gelernt, Fische, Vögel und Kaninchen zu fangen und Mia wusste wie man kocht. Wenigstens hatten sie überhaupt diese Voraussetzungen, denn er dachte nicht, dass jemand ohne diese Fähigkeiten in der Lage war, mehr als drei Tage zu überleben.
Wie immer hatte Mia direkt die tiefste Stelle entdeckt und trieb nun im Wasser.
„Sam! Ich wusste, dass du wieder nicht rein kommen würdest! Was ist nur los mit dir? Das Wasser ist wundervoll!"
„Ich hab es nicht so mit Wasser, wie du weißt. Jeden Tag waschen reicht, mehr schwimmen brauch' ich nicht!", ließ er sie wissen.
„Du bist so eine Spaßbremse!", wie immer gab Mia nicht auf, ihn zum Schwimmen zu zwingen.
Während ihres Schlagabtauschs waren die drei Pferde hinzu gekommen und tranken.
„Na?", fragte Sam, „klappt's?", fügte er hinzu und klopfte Azel den Hals. Dieser blickte nicht einmal auf sondern machte sich daran, zu grasen.
„Wir sollten hier Pause machen. So wie es aussieht ist es bereits Mittag und wir haben noch nichts gegessen, genauso wenig wie die hier", sagte Mia und deutete auf die hungrigen Tiere.
„Allerdings", seufzte Sam, „mir kommt es jetzt schon wie Wochen vor, dabei sind wir gerademal heute Nacht losgeritten. Was denkst du, wo wir ankommen werden?"
„Also entweder nirgends oder... Vielleicht bei diesen... wie hat Mara das noch gleich gesagt? Sie sagte doch, dass es noch andere gibt. Ähnliche wie wir. Und die erzählen sich Dinge über Wesen. Vielleicht kommen wir ja bei den Wesen raus."
„Du meinst die... ach, wie hat sie immer gesagt? Feenwesen? Das müsste es sein."
„Ja, genau! Wir kommen bei den Feenwesen raus! Was glaubst du wie sie aussehen?"
„Wahrscheinlich haben sie ganz schrumpelige Haut und hässlich grüne Augen. Stell dir vor, der gesamte Augapfel ist grün! Oder eine andere Farbe, rot oder weiß! Das fände ich am ekligsten", brachte Sam seine Abscheu zum Ausdruck.
„Nein! Was geht nur in deinem Kopf vor? Selbstverständlich sind sie wunderhübsch mit langen, bunten Haaren und Sommersprossen. Fee, das hört sich doch nicht wie grüne Augäpfel an!"
„Doch. Doch ich glaube, dass Feenwesen nicht besonders schön sind." Nicht so wie du, dachte Sam. Aber er sprach es nicht aus. Würde er nie. „Mit spitzen Zähnen und schwarzen Krallen. Und ich habe das Gefühl, dass ihr Blut eine seltsame Farbe hat. Vielleicht blau? Denk doch mal, wenn sie sich verletzen und dann eine blaue Flüssigkeit aus ihnen heraus fließt. Meinst du nicht, dass das widerlich ist?"
„Du bist widerlich!", trötete Mia, kam aus dem Bach heraus und nahm einen ganzen Schwapp Wasser mit heraus. „Was denkst du dir eigentlich, andere so bloßzustellen?"
„Ich habe niemanden bloßgestellt. Ich habe nur gesagt, wie ich denke, dass sie aussehen. Wo ist das Problem?"
„Das Problem ist, dass du viel zu voreingenommen bist! Was ist, wenn sie wirklich so aussehen, wie du es beschreibst? Und dann sind sie total nett. Das Aussehen wird nichts an ihrem Charakter verändern, nur wie du sie siehst!", Mia rastete völlig aus.
„Mia! Mia, Mia, Mia! Sollten wir auf Feenwesen treffen und sie sehen aus, wie ich sie beschreibe, dann wirst du die erste sein, die geschockt ist! Weil du nicht darauf vorbereitet warst. Ich dagegen muss mir keine Gedanken machen. Vielleicht solltest du etwas mehr auf das Schlechte in der Welt achten und dann das Gute herausfiltern. So bekommst du viel mehr mit von allem. Achte auf alles und suche dir die schönen Dinge heraus. Bei meinen Feenwesen ist das Aussehen das Hässliche und der Charakter das Schöne. Aber bei deinen Feenwesen ist das Aussehen das Schöne, also muss irgendetwas das Hässliche sein. Was denkst du was das dann ist?"
„Der Charakter", gab Mia nach. „Sam... du hast recht. Du hast wie immer recht."
„Nein. Ich habe nicht immer recht. Nur dann, wenn du es einsiehst."
Mit zusammengekniffenen Augen sah sie ihn an.
„Dreh dich um. Ich will mir etwas anderes anziehen. Schließlich will ich nicht in nassen Klamotten weiter reiten." Wie immer musste Mia das letzte Wort haben. Sie konnte es nicht akzeptieren, dass Sam sie übertrumpft hatte.
Sie wechselte was sie trug, wrang die Hose und das Oberteil aus und setzte sich auf Caldo.
„Diesmal reite ich vorn. Gib mir Azels Strick."
„Er wird nicht mit Caldo mitkommen können. Sie ist zu schnell. Außerdem bist du noch nie mit einem zweiten Pferd an der Seite geritten. Ich denke, ich sollte ihn nehmen", erwiderte Sam.
„Mit Firu ist er auch prima mitgekommen. Gib mir seinen Strick!"
„Firu ist –" „Halt den Mund!", schnitt sie ihm das Wort ab. Er verzog kritisch die Miene, reichte Mia aber was sie verlangt hatte.
„Na gut", murmelte er, „willkommen in meinem Satz. Caldo wird ihm die Halswirbel kaputt galoppieren", doch das hörte sie nicht mehr. Mit Mühe folgte Sam auf seinem Wallach. Wenn Mia in diesem Tempo weitermachte, würden die Pferde eingehen. Nach dieser Pause waren sie zwar wieder fast bei ihren alten Leistungen, allerdings würde dies nicht auf Dauer so weiter gehen können. Schließlich wurden die Tiere an einem normalen Tag höchstens vier Stunden geritten. Wie sollten sie mehrere Tage lang mehrere Stunden am Stück überstehen? Das würden die drei niemals mitmachen. Darüber hatte er vorher nicht nachgedacht.
„Mia! Warte!", brüllte er ihr hinterher. Er trieb Firu schneller, doch Caldo war zu flott unterwegs. Der Abstand zwischen ihnen wurde immer größer.
„Ach, scheiße", fluchte Sam, „dieses Mädel macht mich wahnsinnig! Los, Firu, die holen wir ein!"
Gehorsam wie der Wallach gegenüber Sam war, legte er noch einmal an Tempo zu und langsam wurde der Abstand wieder weniger.
„Mia, verdammt! Was machst du für einen Schwachsinn?", fuhr er sie an, als er sie eingeholt hatte. Mittlerweile waren sie stehengeblieben, die Pferde alle drei schwer schnaufend.
Doch Mia lachte nur. „Hach, es war herrlich! Wir sollten das öfter machen!"
„Bist du jetzt völlig durchgedreht? Wir sind nicht mal einen Tag unterwegs und schon flippst du aus? Ich glaub' ich spinne!"
„Was regst du dich so auf? Schau, dort drüben stehen ein paar Bäume, dort können wir übernachten, uns waschen, schließlich sind wir an einem Fluss!"
„Apropos Fluss, wo ist der eigentlich? Ich sehe ihn nämlich nicht!"
„Der Rivulus... er muss hier irgendwo sein. Vielleicht ist er einfach nur kleiner geworden. Komm, wir sehen nach."
Sam lenkte Firu nach rechts, wo er den Bach vermutete. „Ich sehe ihn nicht! Du?"
„Nein...", langsam machte sich Verzweiflung in ihnen beiden breit. „Sam... wir können nicht zurück. Ich kann nicht zurück. Dann sind wir wieder näher an ihnen dran, das will ich einfach nicht. Außerdem sollten wir etwas essen. Wir haben heute noch gar nichts gegessen!", machte Mia auf ihren Hunger aufmerksam.
Sam seufzte. „Ich werde sehen, was sich machen lässt. Aber du suchst weiter den Bach!"
„Ja, ist in Ordnung. Wir treffen uns in einer halben Stunde wieder hier."
Während Sam Fallen aufstellte und nach Beeren suchte, band Mia Firu und Azel an einem der Bäume an und machte sich zusammen mit Caldo auf die Suche nach dem kleinen Fluss. Warum machte Sam so einen Stress? Der Rivulus würde schon wieder auftauchen. So weit waren sie ja nicht geritten. Wenn sie nur wüsste, wo sie den Bach verloren hatten!
Ihre Beine fühlten sich schrecklich aufgescheuert an. Vielleicht hätten sie in der Nacht doch an Sättel denken sollen. Jetzt war es zu spät. Sie würde sich weigern noch einmal zurück zu reiten!
Über Mia schwebte ein riesiger Vogel. Würde sie doch nur fliegen können! Die Federn, die Flügel, der Schnabel, diese Eleganz. All das faszinierte sie ungemein. Und auf einmal ließ sich der Vogel fallen, stürzte sich auf etwas das zwischen den Bäumen war, doch er kam nicht wieder. Wo war dieses wunderhübsche Tier? Es muss in die andere Richtung davon geflogen sein.
Was tat sie hier eigentlich? Warum saß sie hier auf Caldo und guckte in der Gegend herum?
Hatte sie nicht einen Auftrag? Sie blinzelte sich in die Realität zurück.
„Sam?", rief sie.
„Ja? Hast du den Bach gefunden?"
„Sollte ich das denn?"
Scharf atmete er ein. „Ja, verdammt, das solltest du! Ich frage mich wirklich, was in deinem Kopf ist! Vielleicht Stroh? Oder Holz? Du scheinst mir nämlich ein rechter Holzkopf zu sein!"
„Ich... habe Hunger?", gab sie dreist zurück.
„Du - ! Ich habe keine Worte dafür!", Sam raufte sich die Haare, „dafür habe ich aber was gefangen", sagte er versöhnlich. Darum kam er so mit ihr klar. Er verzieh viel zu schnell, trotz der Groll immer noch in ihm brodelte.
„Danke", lächelte Mia ihn an. Sie liebte ihn gerade deswegen. Er war mehr ihr Bruder als alle ihre Geschwister zusammen.
„Sieh mal. Er wollte gerade eine Maus fangen, aber er hat nicht mit mir gerechnet", sagte Sam stolz.
Es war der Vogel. Darum kam er nicht zurück. Sam hatte ihn gefangen.
„Du hast dieses wunderschöne Tier getötet?"
„Es... wir müssen doch was essen!"
„Ich werde das nicht anrühren! Du kannst es meinetwegen essen, ich nicht!"
„Aber jetzt ist es doch so oder so schon tot. Von deiner Essensverweigerung wird es nicht wieder lebendig", enttäuscht, dass Mia den Vogel verweigerte sah Sam sie an.
„Nun... Du wirst ihn doch wohl noch über einem Feuer garen?"
„Natürlich! Rohfleisch ist nicht gerade das, was ich bevorzuge."
„In der Zeit kann ich mir überlegen, ob ich ihn anrühre. Aber wir müssen ihn kühl halten, schon bald werden Fliegen kommen."
„Tja... Das ist ein Problem. Aber da wir ja vom Fluss abgekommen sind, wird sich das mit der Kühlung wohl als schwierig herausstellen."
Da ihnen nichts anderes übrig blieb, nahmen sie das Fliegen-Problem in Kauf bis die Glut heiß genug geworden war und Sam den Vogel, auf zwei Ästen aufgespießt, über das Feuer hielt. Er hatte Mia dazu bringen können, ein wenig davon zu verzehren, betrachtete sie allerdings immer noch skeptisch, da sich langsam dunkle Ringe unter ihren Augen abzeichneten. Wahrscheinlich sah er selbst nicht anders aus.
Aber auch die Pferde waren ausgelaugt. Firu knabberte müde an einem Ast, Caldo döste und Azel graste. Erst jetzt fiel Sam auf, dass sie vergessen hatten, Azel das Gepäck vom Rücken zu nehmen. Schleunigst stand er auf und begann damit, die Gurte zu lösen. Innerlich verfluchte er seine Unachtsamkeit als er den verschwitzten Pferderücken begutachtete.
„Mia?"
„Mhmm?", murrte sie.
„Erinnerst du mich nächstes Mal daran, Azel zu entlasten? Der arme Kerl verreckt uns noch."
„Wenn ich daran denke...", antwortete sie verträumt. Sam bemerkte, dass sie ihn kaum wahrnahm und rollte genervt mit den Augen. Niemand war so unnahbar wie Mia. Vielleicht hatte er sich deshalb in sie verliebt. Oder in ihre Haare. Oder ihre Augen. Oder ihr Gesicht. Ihre Art, sich zu bewegen. Er würde sie unter hunderten wieder erkennen.
Er klopfte Azel auf den Hals und widmete sich dann wieder dem einzigen Essen, das er heute in den Magen bekommen hatte.
„Wir sollten hier übernachten. Es hat keinen Sinn weiterzureiten, wir sind alle erschöpft", stieg Sam ein.
„Ich denke, du hast recht", so wie immer, fügte Mia in Gedanken hinzu. Anscheinend war sie wieder aus ihren Tagträumereien aufgewacht, stand auf und breitete eine Decke auf dem von Nadeln übersäten Boden aus.
„Wirst du dich neben mich legen?", fragte sie.
„Es ist wohl das Beste", lächelte Sam, „es wird kalt in der Nacht."
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