Kapitel 4
-Charlie-
Es war schon einige Stunden her, dass Charlie die anderen der Stufe gesehen hatte. Und dass jemand das letzte Mal ein Wort gesagt hatte. Seit sie sich auf dem Rettungsboot befanden, traute sich keiner die Stille zu brechen. Der stille Vorwurf lag in der Luft, dass einer nicht auf dieses Boot gehörte. Schließlich war es höchstens für 8 Personen ausgelegt, und es waren - Charlie hat das gefühlt 100 mal nachgezählt - 9 Jugendliche, nämlich Luke, Camberlynne, er und die andere Clique: Aves, Abigail, Alessia, Alex, Ashton und Matthew.
Er war sich sicher, dass alle fanden, inklusive er, dass derjenige der nicht da sein sollte, er war, denn er war als letztes eingestiegen. Vielleicht bildete er sich das auch nur ein. Schließlich musste er jetzt versuchen klar zu denken.
Denn wie könnte es anders sein, baute sich gerade ein Sturm auf und das unruhige Wasser ließ das Boot leicht schwanken. Was tat man in so einer Situation? Er spürte die Blicke einiger seiner Mitschüler auf sich, als würden sie erwarten, dass er das Komando übernahm. Natürlich, wenn jemand die Antwort auf etwas wissen sollte, dann der Streber.
Aber das war bloß in der Schule so. Seine Eltern, besonders sein Vater, hatten immer von ihm verlangt, Bestnoten zu schreiben und zwar in jedem Fach. Er wollte gar nicht herausfinden, was passieren würde, wenn er das nicht tat, deswegen hat er den meisten Teil seiner Freizeit mit Lernen verbracht. Auch wenn er so weniger Zeit mit seinen beiden Freunden verbringen konnte, war das besser als Ärger mit seinem Vater.
Doch hier draußen auf dem offenem Meer konnte ihm sein angelerntes Wissen nicht weiterhelfen.
Na toll, jetzt fing es auch noch an zu regnen. Die kalten Tropfen bereiteten ihm eine Gänsehaut.
"Okay, hat jemand eine Idee, was wir machen sollen?",brach er die Stille.
Es dauerte einige Sekunden, bis jemand antwortete.
"Hat schon jemand versucht, Hilfe zu holen?",fragte Alessia vorsichtig. Darauf tippte Abigail wie wild auf ihrem teuerem Handy.
"Kein Empfang",erwiderte sie.
"Ist das jetzt wie in einem schlechten Horrorfilm?" Camberlynne versuchte den anderen ein Lachen zu entlocken, aber keiner sonst schien die Situation lustig zu finden.
"Wir werden wohl alle sterben. Und ich dachte, es hätte nicht mehr schlimmer werden können",flüsterte Aves.
"Jetzt beruhigen wir uns mal wieder",ergriff Matthew das Wort. "Charlie, du weißt doch sicher, was zu tun ist, oder?"
Doch das wusste er eben nicht.
"Naja, wir könnten...",fing er an, wurde aber von einer heftigen Schwankung des Bootes unterbrochen. Dabei wäre Alex beinahe rausgefallen.
"Wir sind einer zu viel",sprach er das aus, was eigentlich sich schon jeder gedacht hatte. "Derjenige, der zuletzt gekommen ist, ist Charlie. Also, wenn du so freundlich wärst." Alex vermittelte ihm mit einer Geste, dass Charlie runterspringen sollte. "Nein!",verteidigte ihn Luke. "Es muss einen anderen Weg geben. Wie wär's, wenn..."
Doch Charlie hörte ihm nicht mehr zu. Stattdessen sprach eine andere Stimme zu ihm:
"Hast du nicht verstanden? Die anderen sind ohne dich besser dran. Worauf wartest du noch?"
Dieser ernste und fordernde Tonfall konnte nur von einer Person stammen. Aber wie konnte das sein? Schließlich befand sich diese Person nicht auf dem Boot, sondern tausende Kilometer entfernt auf dem Festland. Also sollte es eigentlich unmöglich sein.
Trotzdem schaute er sich um. Erleichtert stellte er fest, dass er recht hatte. Wäre jetzt auch noch sein strenger Vater hier, würde es das alles noch schlimmer machen. Aber woher kam dann die Stimme? Er hoffte, dass es nur Einbildung war. Andererseits war es schwierig, irgendetwas zu erkennen mit einer Brille, die mit Regentropfen übersät war, die seine ganze Sicht verschwimmen ließen.
Er fokusierte sich wieder auf die anderen, deren Gespräch sich inszwischen in eine wilde Diskussion verwandelt hatte. Auch der Sturm wütete nun mit einer enormen Kraft, weswegen der laut peitschende Wind das Zuhören um einiges schwieriger machte.
Plötzlich fiel ihm eine Lösung ein. Das hatte er mal in einem Film gesehen.
"Seid still!",schrie Charlie die Jugendlichen an. "Ich weiß, was zu tun ist."
Schweigend und erwartungsvoll starrten ihn alle an. Er wollte gerade seinen Vorschlag darlegen, als er eine weitere Person an Bord entdeckte. Er konnte fühlen, wie sein Herz für einen kurzen Moment aussetzte. Und schlagartig war alles weg: seine Idee, sein rationales Denken und die Kontrolle über seinen Körper. Sein Vater stand einfach so in der Ecke des Bootes und sah wütend aus. Schlimmer wurde es jedoch, als er auf ihn zuging. Charlie stand auf und wich einige Schritte zurück. Aber dann war der Rand erreicht. Jetzt war sein Vater direkt vor ihm und seine grimmigen Augen sahen direkt in seine.
"Spring!",schrie er Charlie an. Er drehte sich um. Wenn sein Vater ihm einen Befehl gab, konnte er diesen nicht missachten. Aber warum sollte sein Vater wollen, dass er wahrscheinlich dabei draufgeht?
"Letzte Chance, Charlie, spring!" Dieses 'letzte Chance' hatte bei seinem Vater noch nie etwas Gutes bedeutet. Also tat er es. Charlie sprang, ohne zu wissen, wieso und ohne darüber nachzudenken. Das eiskalte Wasser umhüllte ihn sofort. Diese Temperatur würde er unmöglich länger aushalten.
Er blickte zurück auf das Boot, das sich schon einige Meter von ihm entfernt hatte. Dort befand ganz eindeutig nicht mehr sein Vater. War es also doch nur Einbildung gewesen? Aber warum schien sie ihm so real, dass er seinen Befehl ausgeführt hat, obwohl er dabei vermutlich stirbt?
Statt seinem Vater, riefen seine Freunde nach ihm und streckten ihre Arme nach ihm aus, in der Hoffung ihn wieder zurückholen zu können. Dass das hoffungslos war, war wohl allen klar.
Matthew riss einen losen Holzbalken vom Boot und warf ihn ihm zu. Charlie fing ihn und wusste nun, dass er wohlmöglich nicht untergehen würde. Gegen die Kälte konnte er sich aber nicht schützen.
So trieb also mit der Strömung, natürlich immer weiter weg von dem Boot. Vermutlich nahte ihm sein Ende, denn wenn er nicht erfror, würde er verdursten oder verhungern. Doch er verlor das Bewusstsein, ehe er sich wirklich Gedanken über seine miserable Lage machen konnte.
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