Kapitel 23
-Rylin-
Rylin war allein. Allein mit ihren Füßen im Wasser. Sie spazierte ein wenig im Sand am Meer und ließ das Wasser wellenförmig über ihre Beine streifen, um den Kopf frei zu kriegen. Es erweckte den Eindruck, dass sich nichts während ihrer Reise verändert hätte. Sie war immer noch allein. Von diesen A-Mädchen und dem Rest war sie jetzt nicht nur metaphorisch weit entfernt, sondern auch wirklich. Immernoch war sie die Außenseiterin, die sich, statt auf einem Boot wie alle anderen, auf einer Insel befand. An ihrem Außerseiter-Dasein würde sich wohl nie etwas ändern, was?
Aber in ihr hatte sich dafür umso mehr verändert. Sie konnte Jack kennenlernen. Der Junge, der ihr eine Möglichkeit auf ein Happy End gegeben hat. Ein Happy End ohne Gale, das ihr schon unmöglich erschienen war. Ihre Trennung war schon Jahre hat, aber was hat sie in dieser Zeit schon nennenswertes gemacht? Sie lebte einfach nur jeden Tag ohne Sinn und Zweck, indem sie aufstand, in die Schule ging, zurückkam, Hausaufgaben erledigte, auf ihr Brüder aufpasste, in ihrer restlichen Freizeit die übrige Energie an ihrem Boxsack ausließ und dann ging sie schlafen. Nur um am nächsten Tag wieder aufzustehen und sich alles wiederholte.
Es war ein Kreislauf gewesen, aus dem sie nie einen Ausweg gesehen hat. Doch erst jetzt wird ihr klar, dass das nicht so war, weil es keinen Ausweg gab, sondern weil sie nicht gesucht hatte. Hätte sie schon früher ihre Zuneigung für Jack entdeckt, wenn sie sich nicht selbst geblendet hätte?
Nein, es war zwar ein Grund, aber nicht der wirkliche Grund. Wie sollte sie denn für neue Gefühle offen sein, wenn sie nie mit ihren alten Gefühlen offen war?
Nachdem Gale mit ihr Schluss gemacht hatte, wurde sie gefühlskalt. Sie wollte nicht schwach wirken. Cloe hatte immer gemeint, dass Rylin, während sie zusammen waren, nur sein Schatten war. Angeblich war sie nicht mehr imstande gewesen, allein zu leben, sie war von ihm anhängig und ohne Gales Licht konnte man sie nicht mehr erkennen. Aber tatsächlich hat sie sich erst wie ein Schatten gefühlt, als das Licht der Liebe in ihr verloschen war. Manchmal hing sie mit ihrer ehemaligen Clique ab, also Cloe und die anderen, jedoch war nur ihre dunkele Seite anwesend. Die Seite von ihr, die Gale beinahe vertrieben hatte, die aber Schulen anzündete und andere schreckliche Sachen tat, nur um sich zu beweisen, dass sie nicht schwach und von niemanden abhängig war.
Warum lügte sie sich eigentlich immer selber an? Wenn sie mal ernsthaft ehrlich zu sich selbst war, dann erkannte sie, dass... sie nie über den Verlust von Gale hinweggekommen war. Nicht einmal jetzt. Sie konnte nicht wirklich einen Schlussstrich ziehen, weil sie erstens nie den Trennungsschmerz an sich heran gelassen hat und zweitens immer die Hoffnung da war, dass er zu ihr zurückkehrte. Denn als er sie verließ, hatte er bei ihr übernachtet und sie hatte gedacht, dass er neben ihr aufwachen würde. Aber schon in den frühen Morgenstunden ließ er sie allein, ohne sich zu verabschieden. Sie sah ihn nie wieder, alles was ihr von ihm blieb war ein Abschiedsbrief. Dort stand der Grund für seine Verhaltensänderungen in letzter Zeit, seine Krankheit. "Wir werden uns nicht wiedersehen",stand dort gegen Ende. "Es liegt nicht an dir, glaub mir. Leb einfach dein Leben weiter, okay?! Versprich es mir, Ry, oder noch besser dir. Ich spiele von nun an keine Rolle mehr in deinem Leben. Du bist allein besser dran!"
Natürlich hatte Rylin versucht genau so zu handeln, wie Gale es von ihr wollte. Sie wusste nicht, wo er war, wie es ihm ging oder ob er überhaupt noch am Leben war. Bevor Jack sie erinnerte, hatte sie kaum an ihn gedacht. Erst jetzt wird ihr bewusst, dass das nicht der richtige Weg gewesen war, die Trennung zu verarbeiten. Aber würde sie es jetzt anders machen? Wenn Gale nun vor ihr stehen würde, ...
Auf einmal vernahm sie ein Geräusch. Das klassische Astknacken. Ihr Kopf drehte sich und schaute zum Wald. Nein. Nein, das konnte nicht wahr sein. Es durfte einfach nicht wahr sein. Was machte er hier? War das überhaupt möglich? War es real? Sie konnte ihren Augen nicht glauben. Einen Moment hatte sie geglaubt, dass Jack vor ihr stand, aber es war... Gale. Gale! Er war hier. Er war wirklich hier.
Rylin rannte auf ihn zu und fiel ihm in die Arme. Die Umarmung weckte Erinnerungen, sowohl gute als auch schlechte, aber insgesamt tat sie gut. Etwas unbeholfen legte Gale die Hände wie gewohnt an ihre Taille, drückte sie jedoch nach wenigen wohltuenden Sekunden von sich weg.
Als wäre sie gerade aus einer Trance erwacht, trat sie auch einige Schritte zurück und schaute ihm fragend in die Augen. Ja, sie hatte Fragen. Sie hatte so viele Fragen an ihn. Aber keine davon wollte ihr über die Zunge kommen.
Ein Moment des Anschweigens verging. Dann brach Gale endlich die Stille.
"Entschuldigung",murmelte er.
"Wofür?",brachte sie jetzt hervor.
"Du weißt wofür",entgegnete er. "Ich hätte nie in dein Leben treten dürfen."
Er hat sich entschuldigt. Nach all den Jahren. Gale wandte ihr den Rücken zu und war dabei, wieder in den Wald zu gehen. Es wäre der perfekte Zeitpunkt gewesen, um mit der Sache abzuschließen, das Gale-Kapitel abzuhaken und nie wieder zurück zu schauen. Das riet ihr jedenfalls ihr Verstand. Aber Gale hatte es schon immer geschafft, ihr rationales Denken auszuschalten.
"Gale, warte!",rief Rylin nach, doch ohne Wirkung. "Wir hätten es hingekriegt, du und ich. Zusammen hätten wir alles schaffen können. Warum bist du weggelaufen? Ich... ich liebe dich doch."
Erst der letzte Satz sorgte dafür, dass er stehen blieb und sich wieder zu Rylin umdrehte. Da sie ihm gefolgt war, stand sie nur noch wenige Zentimeter von ihm entfernt. In seinen Augen spiegelten sich viele Gefühle wider, darunter auf jeden Fall Mitleid.
"Oh, Ry, ich...", fing er an. Plötzlich verschwamm alles. Er redete weiter, aber Rylin konnte ihn nicht mehr verstehen, stattdessen...
Sie wachte auf. Eine Welle traf sie, denn sie lag im Sand. Ihr Körper musste sich wohl den fehlenden Schlaf zurückgeholt haben. Also alles nur ein Traum? Nein, das konnte nicht sein. Oder vielleicht doch? Aber warum hat es sich so real angefühlt?
'Mach dir nichts vor, Rylin. Warum sollte er denn auf dieser Insel sein? Das machte doch keinen Sinn. Konzentriere dich lieber auf wichtigere Dinge wie Wasser und Essen.' Ihr Verstand hatte natürlich recht. Mal wieder. Deswegen hörte sie auf ihn, doch Gale wollte den ganzen Tag über nicht aus dem Kopf gehen. Wenn er hier war, also falls er hier war, hätte sie dann noch die Möglichkeit mit ihm zusammen zu kommen? War es das, was sie wollte?
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