Nachtblumen
„Was ist?", fragte Eylinn ihren ehemaligen Mentor und ging langsam auf ihn zu. Der Drache wandte nicht einmal den Kopf. Er hatte sie wohl kommen gehört, obgleich sich die Elfe bemüht hatte, ihn nicht zu stören. Schimmermond schwieg. Sein Blick haftete am Horizont, jener kaum sichtbaren Linie, wo sich der Himmel und das Meer berührten, sich die Elemente Luft und Wasser vereinten. Eylinn stellte sich neben den Drachen, darauf bedacht, dem Rande der Klippe nicht zu nahe zu kommen. Endlich drehte Schimmermond der Elfe sein Gesicht zu.
Ich habe eine Frage an dich, Eylinn, Tochter der Rinnyn, klang seine Gedankenstimme durch ihren Kopf. „Fragt und ich werde antworten, sofern ich es vermag, Schimmermond, Sohn der dunklen Nacht", gab Eylinn ebenso formell zurück. Es erinnerte sie an ihre Zeit als seine Schülerin. Der Hauch eines Lächelns glitt über das Gesicht des Drachen, doch so schnell es erschienen war, so erlosch es wieder und machte dem Ausdruck tiefer Melancholie Platz.
Sagt, Eylinn, begann Schimmermond. Die Elfe spürte die Wichtigkeit hinter den Worten des Drachen.
Würdet ihr lieber fallen und glauben, zu fliegen, oder fallen und euch des Fallens bewusst sein?
Eylinn stutzte. Mit so einer Frage hatte sie nicht gerechnet. War dies derselbe Drache, der seine Gefühle stets außenvor gelassen hatte und seine Entscheidungen anhand von Tatsachen getroffen hatte?
Eylinn blickte auf und sah, wie ihr ehemaliger Mentor sie musterte. Er wartete wohl noch immer auf ihre Antwort.
„Ich denke, ich wollte fallen und dabei glauben zu fliegen", antwortete die Elfe schließlich. Der Drache nickte und streckte seine Flügel. Eylinns Blick fiel Schimmermonds rechten Flügel, oder vielmehr das, was davon übriggeblieben war. Sie erinnerte sich noch gut an die Begebenheit, die ihn seinen Flügel gekostet hatte. An den Kampf, an Schimmermonds Schmerzensschrei, als er getroffen zu Boden viel. Getroffen von einer der vielen Brandschleudern des Feindes. Die Elfe ballte die Faust. Vor einem Mond erst war es geschehen, vor genau einem Mond. Das Brandgeschoss hatte den Flügel vollständig durchschlagen. Und als ob das noch nicht genug gewesen wäre, hatte es Schimmermonds Flügel in Brand gesetzt. Da er einer der majestätischer Monddrache war, die eisiges Mondlicht spien, konnte den Drachen das Feuer anders als Sonnendrachen, auch verletzen. Sein Flügel war nicht mehr zu retten gewesen.
Die Unsterblichkeit ist kein Geschenk, sie ist ein Fluch. Schimmermonds Gedankenstimme brachte Eylinn in die Gegenwart zurück. „Wie meint ihr das", fragte sie den Drachen überrascht. War es etwa besser, stets um sein Leben bangen zu müssen?
Wisst ihr, früher dachte ich anders. Hätte mir jemand die Frage gestellt, die ich euch stellte, so hätte ich geantwortet, lieber zu fallen und dabei zu wissen, dass ich falle. Ich stürbe in beiden Fällen, doch so hatte ich immerhin noch die Erkenntnis, zu sterben, wäre im Hier und Jetzt, stürbe mit vollem Bewusstsein. Für viele stellt Fliegen die größte Freiheit überhaupt dar. Und darum geht es: um Freiheit. Was aber, wenn man diese Art der Freiheit schon besitzt, die Fähigkeit zu fliegen? Fühlt man sich dann wirklich richtig frei?
Schimmermond richtete seinen Blick erneut auf die Horizontlinie.
Wie kann man frei sein, ohne die Zukunft zu kennen? Der Drache brach ab. Eine Weile lang herrschte Schweigen und Eylinn und ihr ehemaliger Mentor hingen ihren Gedanken nach.
Wie kann es sein, dass ihr weiser als ich seid?, brach der Drache das Schweigen.
Als ich, der ich Jahrhunderte alt bin und erst jetzt die richtige Antwort auf die Frage gefunden habe. Stets habe ich im Wissen die Freiheit gesucht.
Eylinn hatte schweigend zugehört. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, ob sie etwas sagen sollte. Die Stille wurde immer lastender. Als Schimmermond wieder zu sprechen begann, atmete Eylinn erleichtert auf.
Was passiert, wenn man einem wilden Tier die Freiheit wegnimmt, die es bereits sein Leben lang besitzt? Die Freiheit der Selbstbestimmung?
„Es kämpft darum, sie wiederzuerlangen", antwortete Eylinn nach kurzem Überlegen.
Und wenn es dies nicht erreichen kann und diese Tatsache auch erkennt?, fragte Schimmermond weiter.
„Es ergibt sich, schätze ich, seinem Schicksal." Nachdenklich nickte der Drache und bekundete der Elfe so seine Zustimmung.
Ich kann nicht mehr fallen und dabei glauben, zu fliegen. Zu viel Wissen lastet auf meinen Schultern. Ich habe euch nun alles gelehrt, was ich euch zu lehren vermag. Versprecht mir nur, nie in dieselbe Situation zukommen, in der ich mich gerade befinde. Eylinn war überrascht über seine Bitte, doch nickte sie. Wie konnte sie auch Schimmermond, dem mächtigen Drachen und ihrem ehemaligen Mentor etwas abschlagen?
Früher war dies anders, doch nun gehe ich sehenden Auges in meinen Untergang. Ich kann diesen Umstand einfach nicht länger ertragen! Plötzlich blickten seine nachthimmelblauen Augen tief in Eylinns grüne. Schimmermond schien bis in ihre Seele zu blicken.
Eylinn, Tochter der Rinnyn, es tut mir leid, teilte er der Elfe mit und warf ihr einen undeutbaren Blick zu. Dann glitt sein Körper elegant über die Klippe.
Eylinn konnte sich vor Schreck kaum rühren. Als sie sich wieder gefasst hatte, trat sie näher an die Kante. Weit unter ihr fiel Schimmermond, der Sohn der Nacht. Trotz des Fallens wirkte er noch immer elegant, majestätisch.
Wie eine Fahne flatterte sein zerfetzter Flügel hinter ihm her. Ein letztes Mal spie er seinen Nachtatem in die Luft, kalt und schön wie gefrorene Sterne.
Obgleich Eylinn, wie alle Elfen gute Augen hatte, konnte sie Schimmermond schon bald nicht mehr sehen. Doch selbst als sich das Schimmern seiner Schuppen in der Tiefe verlor, blickte sie ihrem ehemaligen Mentor nach. Salzige Tränen benetzten Eylinns Wangen und bahnten sich ihren Weg nach unten, in die Tiefe der Schlucht.
Der Elfe wurde plötzlich klar, sie hatte mit Schimmermond nicht nur einen Lehrer, sondern auch einen Freund verloren.
Seit dieser Nacht ließ Eylinn jeden Mond eine blaue Blume über die Klippe nach unten gleiten. Zu Ehren der Nacht, aus der Schimmermond geboren, und der Nacht, in die er gegangen war. Auf dass er die erhoffte Freiheit im Tod finden würde.
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Als ich diese Kurzgeschichte nach mehrmaligem kritischen Durchlesen immer noch für würdig empfunden habe, veröffentlicht zu werden, habe ich mich endlich ans Abtippen gemacht ^^'
Ich würde mich sehr über konstruktive Kritik freuen, um mich immer weiter verbessern zu können :D
Liebe Grüße, Weidenfeder
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