"Ikarus" oder "Von der wahren Freiheit"
"Hier!", rief mein Vater und warf mir zwei Gestelle zu. "Was ist das?", fragte ich stirnrunzelnd und betrachtete sie genauer. Meine müden Augen schweiften über die seltsamen Gegenstände. Tagelang waren wir nun schon in diesem vermaleideten Labyrinth auf der Suche nach einem Ausgang herumgeirrt. Zwei Gestelle hatte mein Vater selbst behalten und schmierte Wachs darauf.
Als er merkte, dass ich ihn noch immer fragend anschaute, setzte er zu einer Erklärung an. Betont verdrehte ich die Augen, denn wenn mein Vater einmal anfing zu erklären, konnte das eine Weile dauern.
Er hatte meinen Blick wohl bemerkt, denn er schluckte seinen Satz hinunter und fing an, kurz und knapp zu schildern, was er vorhatte.
"Mit diesem Wachs und diesen Federn" - er zeigte abwechselnd auf die genannten Gegenstände - "werden wir unserem steinernen Gefängnis entfliehen!", meinte er und blickte mich erwartungsvoll an. Skeptisch musterte ich zuerst die Fedrn, dann den Klumpen Wachs zu seinen Füßen.
"Damit werden wir uns Flügel bauen", sagte er auf mein Schweigen hin. "Na los, hilf mit!", rief er, als ich noch immer nicht reagierte. Langsam ließ ich mich neben ihm zu Boden gleiten und zog die Gestelle mit. Also fingen wir an, jede Feder einzeln mit Wachs anzukleben. Nur weil wir hier schon so ewig herumirrten, brachte ich auch die nötige Geduld dafür auf.
Nach einem Tag und einer Nacht war es dann endlich soweit. Mein Vater schnallte mir die Flügel so fest an, dass ich das Gefühl hatte, meine Arme würden abgeschnürt. Ich half meinem Vater mit seinen Flügeln, doch dann konnte ich es nicht mehr erwarten, sie auszuprobieren.
Zusammen mit ihm versuchte ich ein paar Flügelschläge.
"Es funktioniert!" Mit vor Freuden glühenden Wangen erhob ich mich in die Lüfte, dicht gefolgt von meinem Vater. Schon bald war das Labyrinth nur noch ein kleines Quadrat, das immer kleiner wurde.
Ich stieg höher. Wie ein Adler segelte ich über Die Welt und spürte ein unbändiges Gefühl der Freiheit.
Lachend flog ich höher und höher. "Flieg ja nicht zu nah zur Sonne!", rief mein Vater von unten, doch ich wollte höher, immer höher.
Ich erinnerte mich an ein Gespräch mit ihm. Er hatte gemeint, es sei nicht gut, immer mehr zu wollen. Ich musste erneut darüber lachen. Wenn man mehr haben konnte, wieso nicht auch nehmen?
Inzwischen schwitzte ich bereits wegen der Hitze der Sonnenstrahlen. Doch das bisschen Wärme tat meinem Körper nach Wochen gefangen zwischen Stein gut.
Plötzlich traf mich ein heißer Tropfen am Fuß. Ich schaute mich nach der Ursache um und spürte immer mehr heiße Tropfen an meinem Fuß.
Nach einem Blick auf meine Flügel packte mich die Panik. Das Wachs schmolz! Ein Schrei löste sich aus meiner Kehle und ich ging hastig in einen Sinkflug über. Doch die ersten Federn lösten sich bereits und es folgten weitere.
Dies war der Moment, in dem mir klar wurde, dass mein Vater vielleicht Recht gehabt haben könnte. Mein letzter Gedanke vor dem Aufprall war meinen Vater und seiner Weisheit gewidmet.
"Wach auf!", hörte ich eine Stimme rufen. Irgendjemand rüttelte an mir.
"Wach a..." Die Stimme unterbrach, als ich die Augen öffnete. Prompt musste ich sie wieder schließen, da sich alles um mich herum drehte. Die Schmerzen überall am Körper zwangen mich fast in die Bewusstlosigkeit zurück.
"Wie geht es dir?", fragte die Stimme. Blöde Frage, dachte ich. Wenn ich nur halb so schlimm aussah, wie ich mich fühlte, so erübrigte sich diese ja wohl.
Beim erneuten Versuch, meine Augen zu öffnen, konnte ich schon etwas mehr erkennen. Mein Vater beugte sich besorgt über mich.
"Leb..."e ich noch, wollte ich fragen, doch heraus kam nur ein Stöhnen.
Mein Vater wusste wohl trotzdem, was ich sagen wollte und nickte. "Es ist wie ein Wunder, dass du noch lebst", meinte er. "Die Flügel haben wohl einen Großteil seines Sturzes abgefangen."
Meines Sturzes. Langsam kehrte meine Erinnerung zurück.
"Ich werde dich nun so schnell wie möglich zum nächsten Heiler bringen. Hoffentlich hältst du es noch so lange durch."
Auf dem Gesicht meines Vaters glitzerten Tränen, die im roten Licht des Sonnenuntergangs wie Blut aussahen.
"Allerdings wirst du wohl für immer gelähmt sein und nie mehr richtige Freiheit verspüren können", fuhr er fort. "Ich werde dich nun zum nächsten Heiler bringen."
Schweigend trat er vor und wollte mich hochnehmen. "Nein, Vater", teilte ich ihm mit zittriger, aber entschlossener Stimme mit.
"Die wahre Freiheit erwartet mich", fuhr ich fort und schloss die Augen.
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Diese Version von "Ikarus" habe ich schon vor einer ganzen Weile geschrieben, für eine Klassenarbeit in Deutsch (ein Essay zum Thema "Jenseits aller Grenzen - höher, schneller, weiter?"). Vielleicht werde ich diesen auch noch in dieses Buch stellen, genauso wie meinen Essay zum Thema Erinnerung.
Ich hoffe, die kleine Geschichte hat euch gefallen, auch wenn ich das inzwischen glaube ich noch besser könnte ^^'
Liebe Grüße,
Weidenfeder
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