Kapitel 22
Von weit oben - in der hinterste Reihe des Saals - schaute Jimin hinter einem Laptop hervor, den Blick auf die vollgeschriebene Tafel des Professors gerichtet, ein Smartphone in den Händen. Er mochte sich zwar vor kurzem noch nicht mit diesen neuartigen Gerätschaften ausgekannt haben, da der Gevattertod ihn davon bedacht fern hielt, doch mischte ein kleiner Abstecher in Minhos Kräuterschenke die Karten für den jüngsten Reiter neu. Nicht nur wurde Jimin um einiges an Erfahrung reicher, stibitzte er ebenfalls diesen äußerst nützlichen Laptop und das Handy des Unsterblichen. Der Junge mit dem silbernen Schopf musste ja schließlich mit den anderen in seinen Kursen mithalten. Vor allem musste er aber jede Möglichkeit nutzen, auf den Versen des Studenten zu bleiben, auf den die Hölle ein bis ein Dutzend Augen geworfen hatte.
„Geben sie die Rufnummer des gewünschten Kontaktes in das Tastenfeld und drücken sie danach auf... bestätigen", murmelte Jimin, konzentriert auf sein Tun, die Zunge dabei ganz leicht herausgestreckt. Der ergraute Professor erläuterte währenddessen mit der Hilfe von ganz skurrilen Formeln den Flächeninhalt für verschiedenste Bauten. Der Silberlocke hätte es den Schweiß auf die aschfahle Stirn getrieben, wäre er dem Sprechen des Menschen gefolgt.
Es ist nicht das erste Mal, dass der Hunger einer Lesung beiwohnt, in der sich natürlich auch Jungkook befand. Saß der ahnungslose Junge unbeschwert einige Reihen unterhalb seines Jägers, den Stift in den Händen und fleißig am Notieren. Jimin rümpft die Nase bei diesem Anblick. Als der Junge dann noch unverhofft die Stimme erhebt, um dem Professor auf seine Frage zu antworten, zuckte der Hunger erschrocken zusammen, das Augenmerk ruckartig zurück auf den erleuchteten Bildschirm seines Laptops lenkend. Er hatte es beinahe geschafft, die Nummer des anderen Studenten einzuspeichern, die ihm Kia hatte beschaffen müssen. So viel musste das Begleittier des Hungers schon lange nicht mehr schuften.
„Mikroplastik in Nahrung für Säuglinge entdeckt?"
Jimins Augen weiteten sich, als ihm die Nachrichtenanzeige auf dem Browserdesktop förmlich entgegenspringen. Sein Bruder leistete wohl ganze Arbeit. Neugierig klickte er auf die Anzeige und überflog darauf den ausführlichen Bericht über den großen Erfolg, den sein älterer Bruder Taehyung für sich gewinnen konnte. Neid keimte in dem Jüngsten auf, das den Hunger in seinem Magen dennoch nicht stillte. Egal was er mit seinen Häppchen die Tage zuvor anstellte: der Hunger ebbte und ebbte nicht ab. Es war zum Haare Raufen. Sein Magen schmerzte so sehr, sodass ihm Schwindel den Kopf verdrehte.
„Papas Arbeit verrichtet sich beinahe von alleine, Tae trifft mit einem Vorhaben nach dem anderen in Schwarze. Was mache ich? Joon vergnügt sich derzeit bestimmt auch, während ich hier...", weiter kam er nicht.
Ein penetrantes Klingeln ließ die Köpfe jeglicher Anwesenden der Lesung in Richtung des hungrigen und neiderfüllten Jimins wandern. Die einen erdolchten ihn förmlich mit ihren Blicken, die anderen verschluckten sich vor Schreck beinahe an ihren Getränken.
Hart schluckte der ertappte Silberhaarige und linste mit knallroten Wangen hinter seinem Laptop hervor. Zuvor krallte er sich sein neues - Minhos ehemalig stolzester Besitz - Smartphone und drehte die Lautstärke auf Null. Die Nachricht eines älteren Bruders, der seine Finger entweder um ein Wein, Cognac, Rum oder Sektglas hatte, sendete dem Hunger die allererste SMS, die er je erhalten hatte. Es würde vermutlich sogar die Einzige bleiben.
„Hr. Park! Wären sie so gnädig und würde sie bitte ihr elektronisches Gerät auf lautlos stellen? Wenn Sie meinen Worten schon nicht Ihre Aufmerksamkeit schenken, dann erwarte ich völliges Stillschweigen ihrerseits. Haben wir uns da verstanden", verlautete der alte Professor mit strenger Stimme, sodass Jimin das geronnen Blut in den Adern gefror. Er schluckte darauf sehr hart, dass es brannte und er nickte dem Mann bestätigend zu.
„Ist mein Sprechen es etwa nicht wert, geachtet zu werden?!"
Jimin mochte keine Menschen. Nicht mehr. Wenn sie also ihr Wort gegen ihn erhoben, bekamen sie zu 99% das Gesagte mit voller Breitseite zurück. So wurde es dem Reiter schließlich von seinem höllischen Vater gelehrt und erwartet. Irgendetwas an dem strengen Ton des menschlichen Professors löste jedoch etwas in der Silberlocke aus, ließ ihn seinen Stolz und sein angelerntes Ego für einen Augenblick vergessen. Irritiert blinzelte er, der Laptop war bereits zugeschlagen. Der Anblick des Lektors verwirrte den jungen Reiter stark. Vor der Tafel mit den wirren Formeln stand nämlich nicht mehr der ergraute alte Professor, sonder ein Mann, der die identischen Gesichtszüge Park Jimins trug.
Der Hunger kannte diese Gestalt nur zu gut.
„Hr. Park, wären sie vielleicht so lieb, und würde einmal zu mir hinunter an die Tafel kommen?", äußerte sich die Person erneut.
Ein Raunen zog sich durch die Menge, auch Jungkook musterte den Neuling im Kurs mit Verwunderung. In seinem Ausdruck zeichnete sich jedoch aber auch Mitleid und Überraschung ab. Ihm war der silberhaarige Fremde in der hintersten Ecke des Hörsaals bislang noch gar nicht aufgefallen. Er konnte nicht wissen, dass dies natürlich zu Jimins Vorhaben gehörte, das der Professor nun mit ein Paar wenigen Worten vereitelte.
„Wir haben nicht den ganzen Tag. Treten sie bitte an meine Seite und greifen sich ein Stück Kreide."
Jimin tat wie ihm geheißen, er trabte sogar hastig die Treppenstufen herab, um den Mann nicht weiter warten zu lassen. Er wollte ihn um keinen Fall weiter verärgern. Was dies sonst alles für Konsequenzen mit sich führen könnte. Jimin wusste was es bedeutet, wenn er nicht gehorchte.
„Verzeihu-"
Der Mann ließ ihn nicht das Wort beenden, da er seine Ausreden nicht hören wollte. Der junge Reiter kam mit noch blasserer Haut, doch vor Scham geröteten Wangen, vor dem Pult des Professors an. Seine Augen glichen denen eines aufgeschreckten Rehes. Nervös musterte der Kleinere den Mann auf der anderen Seite des Pults, der ihm ein Stück Kreide entgegenhielt.
„Wie sie alle vermutlich wissen, befinden wir uns hier nicht an einer Mittel- oder Oberschule. Das heißt, dass im Normalfall auch keine Studenten an die Tafeln zitiert werden. Doch Sie alle sind hier, um aufzupassen, zu notieren und gegebenenfalls Fragen zu stellen."
Jimin zuckte bei der strengen Tonlage des Mannes erneut zusammen, befand er sich nun jedoch in Angesicht der gigantischen Tafel und den unmöglichen Formel darauf.
„Da ich es aber höllisch verfluche, wenn einer von ihnen es nicht für nötig hält, sich an meine wenigen und klaren Gebote zu halten. Hr. Park? Nehmen sie mir doch bitte die Arbeit ab und erläutern ihren Kommilitonen, den Zusammenhang zwischen meiner aufgestellten Formel und dem Bauobjekt aus der letzten Vorlesung."
Übelkeit stieg in dem zierlichen jungen Mann aus, und würde sein Bauch nicht schon schmerzen, dann hätte er es jetzt getan. Er hatte keine Ahnung, um was es in diesem Studiengang ging, geschweige denn, wie die skurrilen Einheiten, Formel und Angaben zusammengehörten. Das Buch über die Grundlagen der Architektur füllten nicht die Wissenslücken, die Seokjins jüngster Sohn besaß.
„I-Ich weiß es nicht." Der Mann legte bloß die Stirn in Falten. „Wie bitte? Ich habe sie akustisch nicht ganz verstanden. Wiederholen sie sich." Jimin nickte, die Kreide zwischen seinen Fingern zerbrach.
„Ich habe gesagt... dass ich ich es nicht weiß", sprach er laut und deutlich, sodass auch das letzte Wesen in der Vorlesung über sein Unwissen Bescheid wusste. Beschämt blicke er darauf zu Boden. Er war sich sicher, dass er ihn nun zu weit verärgert hatte.
„Das hat Jimin verdient."
Leidige Augen beobachteten das Geschehen, was sich vor der Tafel abspielte. Kia seufzte, als er aus der Jackentasche seines Herren geklettert war, die sich noch um dessen Stuhl in der obersten Reihe befand. Die kleine Fledermaus wusste, was das Handeln ihres Herren bedeutete. Ändern konnte sie es allerdings nicht.
„Das war mir bereit bewusst, Hr. Pa-"
Die Menschen im Hörsaal verstummten augenblicklich auf ihren Logenplätzen, sodass man das Fallen von Nadel hätte hören können.
Auch der Professor hielt inne, brach seinen Satz ab. Das Geräusch von einer Flüssigkeit, die zu Boden tropft, brachte den Silberhaarigen jedoch wieder in das Hier und Jetzt. Verwundert blinzelte er, rieb sich kurz die Augen und ließ seinen Blick anschließend durch den großen Saal wandern.
Erschrockene Gesichter musterten ihn. Unter ihnen befand sich natürlich auch sein Opfer. Jungkooks besorgte Miene verzog seine Mundwinkel stark und legte seine Stirn in Falten. Seine Hände waren zu Fäusten geballt.
Erschrocken fasste Jimin sich an die Nase, spürte augenblicklich die warme Flüssigkeit, die darauf seine Fingerspitzen rot färbte. Er war verwirrt. Das war ihm noch nie passiert. Das konnte ihm gar nicht passieren. Unsicher wusch er das Blut an seiner Nase mit dem weißen Ärmel aus Spitzen seines Jackets ab. Keine Hauch an Zeit später hörte er wie seine Namen erneut in den Mund genommen wurde, denn der Professor begann wieder zu sprechen. Wie auch das Getuschel der Studenten pirschte sich an den hageren Jungen heran, als wäre er die Beute. Erbärmlich.
„Entschuldigen sie mich", sprach er darauf sich verbeugend und bedacht den Blick des grauen Mannes nicht zu kreuzen.
So schnell ihn seine Beine trugen, stürmte der Reiter aus dem Hörsaal ins Freie der leeren Flure. Tränen begannen seine Sicht zu trüben und bahnten sich ihre Wegen seine eingefallenen Wangen entlang. Nun schimmerten sie leicht rosa.
Er beachtete die Blicke der Menschen der Vorlesung nicht weiter, sondern blockte er alles ab, selbst den Ruf Kias, den nur er vernehmen konnte, ließ er nicht an sich heran.
Auch kam der verwirrte Sohn des Todes an einer Gruppe vorbei, die einer nach dem anderen genüsslich an einer Zigarette zog, den Rauch in der Luft verteilte.
Sie alle befanden sich in einen kleinen Innenhof, den Jimin hastig durchquerte. Er wusste nicht wo lang. Hauptsache weg von diesen Menschen. Vor lauter Gedanken, die sich einzig um seine Flucht kreisten, bemerkte er nicht den unverwechselbaren Geruch, der ihm seit Beginn seines Aufenthaltes in der Universität verfolgte.
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„Das ist doch lächerlich."
Ungläubig fasste sich Jimin ins Gesicht, den Blick in den Spiegel gerichtet. Seine Kurzschlussreaktion hatte ihn in das abgelegenste WC des ganzen Kampuses verschlagen. Mit einer kleinen Handbewegung verriegelte er zuvor die klapprige Tür, sodass kein Wesen es vermochte ihn zu stören.
Mit den Händen stützte er sich auf die eiskalte Keramik des Waschbeckens. Die Ringe um seine Finger klirrten, als sie auf das feste Material stießen. Er atmete tief ein, um sich zu sortieren. So vieles machte für ihn keinen Sinn.
„Erstarren hätte ich sie lassen sollen. Sie alle!", fauchte er, sodass der Spiegel von einem Riss in zwei geteilt wurde.
„Ich hätte Vaters Hund auf ihn loslassen können! Doch was mache ich?"
Er löste sich von dem Waschbecken und trat einige Schritte zurück. Vorsichtig rieb er sich dabei über den verkrampften Bauch und zischte verärgert auf.
„Ich flüchte... Wie erbärmlich. So erbärmlich."
Voller Wut trat er gegen den bereits verbeulten Heizkörper. Das Brechen seiner Schuhsohle kümmerte ihn nicht.
Was stimmte nur nicht mit ihm? Was würde Vater bloß denken, würde er es herausfinden?
Reiter konnten nicht bluten. Vor allem krochen sie vor keinem unbedeutenden Menschen zu Kreuze.
„Jimin? Bist du da drin? Alles in Ordnung?"
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