Kapitel 16
Lesenacht - 1/3
Der Stift, der zwischen Jungkooks Backenzähnen klemmte und auf dem er konzentriert herumkaute, schien langsam den Geist aufzugeben. Der Junge war unruhig, rutschte auf seinem Stuhl etwas hin und her, wie ein zum Stillstehen gezwungenes Kind. Es war ätzend. Zwischen all seinen Kommilitonen sitzend, die ebenfalls neben dem Notieren von vielleicht einmal wichtigen Daten, dem Professor aufmerksam zuhörten, kämpfte er mit seiner Unruhe. Der Braunhaarige hatte sowieso bereits jeden Faden in dem Konstrukt an Zahlen verloren, das der ältere Herr hinter dem Pult an die Tafel geschrieben hatte.
Dem Studenten kreisten Sachen durch den Kopf, dass ihm hätte schlecht werden müssen. Und hätte er sich auf eine Sache festlegen müssen, würde er sich für den blonden Jungen entscheiden, dessen Lippen sich so fantastisch anfühlten, dieser aber seit einer Woche nicht mehr zu seinen Kursen erschien. Er war wie verschwunden. Niemand schien etwas darüber zu wissen, geschweige es denn wissen zu wollen. Jeder kochte hier schließlich sein eigenes Süppchen. Da das aber so gar nicht Jungkooks Art war, sorgte er sich maßlos, fühlte sich sogar schuldig. Aber konnte ein urplötzlich schlecht gewordener Kaffee jemanden für so lange Zeit ausknocken?
Jungkook hatte keine Ahnung.
„Mr. Jeon? Haben sie in ihrer Pause vielleicht noch einen Moment?."
Der Hörsaal war wie leergefegt. Alle Studenten sind bereits geflüchtet wie die Heuschrecken. Nur der Junge mit den dunkelbraunen Haaren saß noch an Ort und Stelle, tief in seinen Gedanken versunken. Sein Professor sprach ihn an, als er seine typische Lehrer-Tasche gepackt hatte. Es war fünf Minuten nach Kursende und der Student hatte sich immer noch nicht gerührt. Wie versteinert saß er da.
„Was...? Ich? Natürlich", stammelte er, als er zurück in die Realität trat und seine wie ausgestorbene Umgebung erblickte. Flott packte er alle seine Sachen, warf sich die Tasche um die Schulter und trabte die Treppen hinunter vom seinem Platz zu dem Pult des älteren Mannes. Dieser trug eine kleine Hornbrille auf der Nase und sein Haar war völlig weiß.
„Ihr Sitznachbar ist seit einer Woche wie verschollen. Von seinem Mitbewohner erfahren wir nur, dass er erkrankt ist. Als jemand der ihn etwas besser kennt, wissen sie wie es ihm geht? Er hat so einige Abgaben und Termine verpasst und antwortet auf keine Mails." Der Mann wirkte wirklich etwas besorgt. Es war dem Blonden nicht ähnlich seine Arbeiten nicht zu erledigen. Ihm lag das Studium sehr am Herzen. Nach zwölf Jahren Qual und Fleiß in der Schule, würde er seine Chance auf diesen akademischen Abschluss nicht einfach so aufs Spiel setzten. Das wusste Jungkook so genau wie sein Professor.
„Er reagiert leider auch nicht auf meine Nachrichten... aber ich denke, dass ich ihm heute im Laufe des Tages einen Besuch abstatten werde. So kann das ja schließlich nicht weiter gehen." Mit diesen Worten verabschiedeten sich die Beiden darauf mit einem vielsagenden Nicken, der Junge trug dabei ein ihm typisch strahlendes Lächeln. Aber auch Jungkook kam die Sache mit dem Blonden wirklich sehr seltsam vor.
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„Dankeschön, schönen Tag." Mit einem
Strauß an gelben Blumen, die nach dem heißerwarteten Frühling dufteten, verließ Jungkook das kleine Geschäft, das sich ganz in der Nähe der Studentenwohnheime befand. Der Wind blies schwach umher und kitzelte seine Nasenspitze. Er blickte kurz auf in den grauer werdenden Himmel. Es würde bald regnen. So legte er einen Zahn zu und machte sich schnellen Schrittes auf zu dem Blonden. Auf dem Weg überlegte er sich neben Szenarien die geschehen könnten, wie er den jungen Mann, in den er sich irgendwie etwas verguckt hatte, ansprechen sollte.
Würde ein einfaches 'Hey' und ein nettes Lächeln genügen? Sollte er sich er sich für den Kaffee entschuldigen? Sollte es sogar etwas sauer sein, das sich der Blonde von allen abgekapselt hat und kein wirkliches Lebenszeichen von sich gab? Was ist wenn er sauer auf Jungkook war? Ihn vielleicht sogar hasste?
„113...", murmelte der verunsicherte Junge. Er hatte die Stufen des Gebäudes, das er kurze Zeit zuvor erreichte, schneller erklommen, als ihm lieb war. Nun stand er da. Seine schwitzige Hand umklammerte verkrampft den Strauß Blumen. Dass die Stängel nicht einfach brachen, war ein Wunder. Das Herz Jungkooks schlug ihm förmlich bis zum Hals. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Vor lauter Fragen in seinem Kopf, begann dieser langsam zu schmerzen.
Das Klopfen von Fingerknöcheln auf Holz hallte durch den gesamten eisigen Gang. Die Wände des Treppenhauses und der Flure zu den unzähligen Apartments waren weiß gestrichen. Nicht eine kleine Fotografie, Malerei noch unerlaubte Kritzeleien schmückten die kahlen Wände.
„Hallo! Jemand zuhause?"
Die Nervosität hatte Jungkook umschlossen wie ein alter Pelzmantel, ließ ihm kaum Platz zum Atmen. Er schluckte den Klos in seinem Hals herunter, doch dieser krallte sich mit aller Kraft fest.
„I-ich bins... Jungkook. Du hast deine A-Abgaben." Die Tür öffnete sich für einen Spalt und dem Braunhaarigen blieben förmlich die Worte auf der Zunge kleben.
„Was willst du?", kam es rau aber schwächlich aus dem Dunklen der Wohnung. Jungkook traten die Schweißperlen auf die Stirn. Damit hatte er so gar nicht gerechnet. Überfordert hielt er der Person, die sich größtenteils hinter der hölzernen Tür versteckte, den gelben Blumenstrauß entgegen.
„Darf ... Darf ich reinkommen?"
Der Versteckte nickte abwesend und ließ von dem Holz ab, an dem er sich offenkundig zuvor noch gestützt hatte.
Den Strauß weiter haltend, da der Andere ihn nicht annahm, folgte Jungkook dem hinkenden Blonden in das abgedunkelte Innere der Wohnung. Es war kalt und es roch nach bevorstehendem Regen, da jegliche Fenster und Balkontüren sperrangelweit offen standen.
„Ist es nicht etwas zu kalt? Du erkältest dich-", weiter kam er nicht, denn der Andere erstickte seine Sorge mit einem erzürnten Schnauben.
„Kümmer dich um dich. Reicht schon, dass du da bist." Die Worte trafen Jungkook wie ein Schlag ins Gesicht. Das Knacken der Blumenstängel konnte bloß er hören.
Verletzt blickte er den jungen Mann an, der um seine leicht gekrümmte und knochige Gestalt nur eine graue Jogginghose trug. Es war seltsam. Als derart dünn empfand Jungkook den Blonden all die Zeit zuvor nicht. Doch jetzt. Die hervorstehenden Rippen, eingefallenen Wangen und tiefen Augenringe, besorgten den Jungen zutiefst.
„Ich wollte nur fragen, wie es dir geht. Von dir kam ja kein Lebenszeichen", entgegnete Jungkook kühl, nicht im Sinn habend den Strauß loszulassen. Komischerweise gab er ihm Halt. Erst jetzt erkannte er die unzähligen Male auf der Haut Blonden. Neben kleinen Kratzern, zierten auch bunte Flecken dessen Hals.
Ein stärkerer Windzug blies durch die gesamte Wohnung, wirbelte einige lose Blätter auf der Küchenablage rechts von ihnen durch die Gegend. Ein eiskalter Schauer durchfuhr den Leichtbekleideten. Er schlang seine dürren Arme um seinen Oberkörper und neigte den Kopf zitternd zur Seite, als wüsste er etwas, wovon Jungkook nichtmal im Traum glauben würde.
Ein schwaches Husten entkam den Lungen des Blonden, bevor er den Blick wieder hob und in die glänzenden Rehaugen seines Gegenübers blickte.
„Verschwinde, bevor er dich auch noch holt."
Seine Worte waren ein einziges Hauchen, bevor ihn die Kraft verließen und sein Körper kraftlos in sich zusammensackte. Nun ließ Jungkook den Strauß erschrocken los und hechtete, soweit es ihm seine Schockstarre ermöglichte, auf den Fallenden zu.
Reglos befand sich der Ältere nun in den Armen des Braunhaarigen, dessen Herz ihm gegen die Rippen pochte. Seine Hände bebten und er spürte heiße Tränen auf seinen Wangen. Er hielt den Jungen fest sich geklammert, in der Hoffnung ihm etwas Wärme zu spenden. Der Blonde war so kalt wie eine Leiche.
Nach einigen Momenten schalteten sich die Instinkte des Jüngeren wieder ein und er suchte zitternd und panisch nach dem Smartphone in seiner Jackentasche. Seine unruhigen Finger machten es ihm beinahe unmöglich die Zahlen für den Notruf zu betätigen. Als eine sanfte Stimme ihm nach einiger Zeit endlich antwortete, weinte er verängstigt und verunsichert alles aus, was die Person in der Notzentrale wissen müsste.
Hilfe war auf dem Weg.
Schritte hallten aus den hinteren Räumen, es müsste Richtung Schlafzimmer gewesen sein, der Wohnung vor in die offene Küche.
Von den Lauten gestört, trat Jimin in seiner höllischen Gestalt aus dem Schlafzimmer des Blonden. Er trug ein weißes Tuch um die Schultern, das alles nötige gerade so bedeckte.
Seine pechschwarzen Augen scannten die Umgebung und blieben, als er den Küchenbereich des Apartments erreichte, an dem wimmernden und verängstigten Jungen kleben, der liebevoll den mageren Blonden in seinen Armen hin und her wiegte.
Der Hunger verrollte die Augen. Menschen waren so weich und einfältig, dass es beinahe zum Dahinscheiden war. Er seufzte und stemmte die Hände in knochigen Hüften, zuvor strich er sich noch die silbernen Strähnen aus dem eingefallenen und farblosen Gesicht. Schwarze schliere zierten den Bereich um seine Augen.
„W-wer bist.. du?", kam es verweint und verwirrt von Jungkook, der mit roten Augen dem Hunger entgegen blickte. Wäre Jimins Herz nicht schon stehen geblieben, wäre es in diesem Moment geschehen. Menschen konnten ihn in seiner höllischen Form nicht sehen. Er war für sie wie ein Schatten, nicht greifbar und vor allem nicht sichtbar.
Reiter fuhr sich erneut durch den silbernen Schopf und kaute auf seiner Unterlippe. Das passte ihm so gar nicht in den Plan.
„Vater gib mir Kraft..."
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