Kapitel 1
„Habe ich jetzt endlich Frieden?"
Umhertreibend, wie eine zarte Feder im Wind, befand sich der Junge in völliger Dunkelheit. Im Nichts. Seine Augen waren fest verschlossen, seine Hände lagen flach auf seiner Brust, dort, an dem Ort zuvor noch ein gebrochenes Herz schlug. Nun war es verstummt und so würde es auch bleiben.
'Was eine friedliche Stille', dachte er sich. Ein Lächeln zierte seine zarten Lippen, ließen seine Mundwinkel leicht nach oben zucken. Die Laute in seinen Gedanken waren endlich verstummt. Stille. Das unerträgliche Ziehen in seinen Knochen und seinem Magen war ebenfalls endlich erloschen.
'So fühlt sich also sterben an?'
Er fühlte sich so leicht - so schwerelos - in diesem Raum voller Nichts. Es waren weder Grund noch Himmelszelt auszumachen. Doch kam ein Funkeln auf ihn zu. „Was?", hauchte der Sterbende und öffnete zaghaft seine Augen. Die Dunkelheit schien vor einer stetig nähernden Lichtquelle zu flüchten. Es war ein Punkt aus warmem Licht. Geborgenheit und Liebe breitete sich in Jimins Brust aus. Zufrieden und geduldig wartete der Junge ab.
Versuchte das Licht ihn etwa zu erreichen?
„Wie der Himmel wohl aussehen mag?", flüsterte er, als er die Lider wieder verschloss und nur darauf wartete von der Wärme des Lichts umgeben zu sein. Er würde es in eine innige Umarmung schließen, es nie mehr loslassen. Er würde diese Liebe und Geborgenheit in sich aufnehmen, als wäre es sein zweites Herz. Dann würde es vielleicht wieder schlagen.
„Das lass' ich nicht zu!"
Eine starke, bitterkalte Hand umfasste das knochige und gebrechliche Handgelenk des umhertreibenden Jungen. Der zuvor bestehende Frieden und die Schwerelosigkeit zerplatzte augenblicklich, wie Glas, in unzählige Fragmente. Er stürzte. Das Gefühl vom Fallen befiel seine Gliedmaßen und ließen ihn die Augen krampfhaft zusammenkneifen. Das typische Empfinden im Bauch ließ ihn die Angst auf ein Neues spüren.
„Nochmal verliere ich dich nicht!"
Hustend schnappte Jimin nach Luft und richtete sich kerzengerade auf, sodass das Wasser um ihn herum nur so aufspritzte. Seine Sinne benötigten einige Momente, um sich zu schärfen. Zuerst kehrte sein Empfinden zurück, was ihm offenbarte, dass er sich inmitten von etwas wasser-ähnlich Kaltem befand. Danach ermöglichte ihm sein Gehör, dem Getuschel umstehender Kreaturen zu lauschen. Auch sein Geruchssinn ließen ihn den Duft seiner Umgebung wahrnehmen.
Moder, Staub, etwas Undefinierbares. Dieser Ort stank nach etwas Uraltem.
Das Getuschel verstummte augenblicklich, als sich die Augen des Jungen begannen zu färben. Er konnte nicht wissen, dass die Farbe in seinen einst strahlenden Augen verblasst war.
Weißes Nichts starrte die Umstehenden an. Er war blind.
Die Kreaturen, die Jimin musterten, der sich in einem Becken befand, das mit einer schwarzen Flüssigkeit gefüllt und von dunkelgrünen Ranken umschlungen war, atmeten verwundert auf. Leicht rötlich schimmerte die Oberfläche der Flüssigkeit, bis der Junge sein Augenlicht zurückerhielt. Träge färbten sie sich totenschwarz.
„Was?", hauchte der Junge und streckte Hilfe suchend die Hand aus. Er war noch blasser als zuvor. Die zähflüssige Substanz tropfte von seinen Fingern. Diese durchtränkte und färbte auch die Leinen, welche sich um seinen dürren Körper befanden. Jimin fühlte sich nackt. Voller Scham kauerte er sich in diesem Teich voller schwarzer Tränen zusammen und vergrub das eingefallene Gesicht in seinen Händen. Unbeabsichtigt beschmierte er damit seinen gesamten Schopf. Die Flüssigkeit rann lahm durch seine farblosen Haarsträhnen – färbten sie ebenfalls schwarz.
„Warum weinst du denn, mein Kind?"
Eine Stimme ließ den hageren Jungen zusammenzucken. Er wagte es nicht sein Haupt zu heben, geschweige denn seine Tränen zu zeigen. Die Stimme klang sanft und eine mütterliche Sorge schwang in ihr. Jimins Atem wurde schwerer. Sein Körper versteifte sich.
„Sieh mich an", befahl die Stimme streng. Die zuvor bestehende Zärtlichkeit war erloschen. Wie gebannt, hob der Junge den Schopf. Die umstehenden Kreaturen trugen Roben und die Kapuzen waren tief ins Gesicht gezogen. An jenen Stellen, an denen ein Gesicht die Wesen identifizieren sollte, prangte gähnende Leere. Jedoch vernahm Jimin ihr gleichmäßiges Atmen. Seichte Rauchschwaden verließen das schwarze Loch der Kapuze.
„Wo bin ich?"
Die Frage blieb für das erste unbeantwortet. Die Wesen taten alle einen Schritt zur Seite, machten Platz für ihren Gebieter. Für ihr Sein und Tod. Er war es, der das Wort zuvor an Jimin richtete.
Er war der Vater.
Der zierliche Junge verlor jeglichen Kampf gegen seine Angst. Er wusste nicht, wo er war.
Wusste er überhaupt wer er war?
„Mein Kind." Der Sprechende schien größer als der Rest. Er trug ebenfalls einen Mantel. Sein Haupt war unter einem Trauerschleier verdeckt. Er hatte breite Schultern, doch wirkte er schmal. Prächtige Federn schmückten den Saum des Umhangs.
„Habe keine Angst."
Eine prankenartige Hand kam dem mageren Jungen entgegen, als der Tod den Beckenrand erreichte.
Wie ein Glockenschlag hallte es in Jimins Ohren, als die goldenen Ringe, welche die Pranke trug, auf dem metallenen Rand unter der Ranken traf.
Die Pflanzen des Beckens schienen den Klauen des Vaters zu weichen, offenbarten die bronzefarbene Fassung darunter.
„Du schaust beinahe so aus wie sie", hauchte der Tod und ließ vom Beckenrand ab. Unverzüglich verstummte das Läutern.
Unerträgliche Furcht zog sich durch Jimins Körper.
Wo war er? Wer war sie? Wer war er?
„Er nahm mir meine Tochter, den Hunger, die Gelüste, die Fresslust."
In einer fließenden Bewegung langte die Pranke nach dem Schleier und offenbarte eine schwarze Krone, geschmückt mit dunklen Juwelen. Das Gesicht der breitschultrigen doch schmalen Person war... Jimin stockte der Atem.
Blinde Augen eines verrotteten Gesichtes starrten ihn an. Löcher der Fäule hatten das Antlitz gezeichnet.
„Fresslust", wiederholte Jimin flüsternd und nur für sich. Er war so hungrig. Es war ihm nicht möglich dem Blick des augenscheinlich Toten zu entkommen. Ein ächzendes Stöhnen verließ die Kehle des Todes und er reckte seinen Hals. Die Kieferknochen knackten und, als würde er die Zeit zurückdrehen, wandelte sich das entstellte Gesicht zu dem Schönsten, das Jimin jemals betrachten durfte.
„Hunger. Jimin. Sieh mich an."
Die Pranke schien mit der Fäule verschwunden. Nun tastete eine weiche Hand zärtlich nach dem Kinn des mageren Jungen. Jimin, der seine Arme noch immer dicht um seinen Körper geschlungen hatte, betrachtete den Mann vor sich in völliger Unschuld. Schwarze Tränen stiegen ihm in die Augen, als der Gevatter Tod behutsam über seine Haut strich. Die zuvor angestaute Furcht fiel augenblicklich von seinen knochigen Schultern; wie Federn eines gestürzten Engels.
„Weine nicht, mein Kind."
Achtsam wusch der Tod die schwarze Masse von Jimins porzellan-artiger Haut. Der Junge sorgte sich um die kostbare Robe des Fremden, als dieser ihn in seine starken Arme nahm und an dessen Brust drückte. Die Flüssigkeit hatte Jimin völlig bedeckt, doch würde es nun auch den Tod beschmutzen. Jimins Herzschlag hätte sich dadurch eigentlich beschleunigt, doch sein Herz stand still. Er war kein Mensch mehr.
„Du bist daheim, mein kleiner Famine. Du bist endlich daheim."
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