NO WOMAN, NO CRY

[ Valerie ]

Regen prasselte unaufhörlich gegen das Fenster, vor dem ich saß und jeder einzelne dicke Regentropfen ließ mich zusammenzucken. Sie waren wie ein unheilvoller Vorbote, wie eine Warnung höherer Mächte, in deren Spiel ich geraten war.

Ich saß in mich zusammengesunken auf einem der zahlreichen ungemütlichen Stühle, die wahllos nebeneinander standen und starrte auf meine Hände.
Unfähig auch nur einen Gedanken fassen zu können, fuhr ich die feinen Falten nach, in denen sich sein Blut festgesetzt hatte.
Ich sah auf, als die lose Glühlampe über mir zu flackern begann und da sah ich... mich.

Mein Spiegelbild starrte mir mit leerem Blick entgegen. Die Haare fielen verstrubelt meine fahle Haut hinab und das Blut verfilzte die sonst so glänzenden Strähnen.
Neben dem dumpfen Aufschlag des Regen, nahm ich nun auch das tropf, tropf, tropf des Blutes wahr, das von meinen Haaren auf den Boden fiel.
Es hörte sich irgendwie anders an. Vielleicht eine Oktave tiefer, als der Regen?
Ich legte den Kopf schief und lauschte angestrengt dem Tropfen von Blut und Regen, bis sich alles zu einem harmonisierenden Geräusch vermischte und ich es nicht mehr unterscheiden konnte.
Regnete es Wasser oder doch Blut? Oder beides? Ich wusste es nicht mehr.

Das dunkle Blut, das meine nackten Beine entlang rinn, vermischte sich allmählich mit der Blutlache auf dem Boden.
Teilnahmslos blickte ich auf den Fleck, auf dem ich keine halbe Stunde zuvor... oder war es schon ein Tag? Nur umgeben von weißen sterilen Möbel und Blut verging hier die Zeit anders, tick, tick, tick, seitdem ich auf den baren, weißen Fliesen meine Tochter zur Welt gebracht hatte.

Ich hatte gedacht ich würde sterben, als diese Schmerzen mich erschütterten, doch ich lebte noch. Schwächer mit jedem Atemzug, aber mein Herz schlug noch.
Anders als seins.
Ich kniff die Augen zusammen, als Schreie und das Blut... so viel Blut.
Ein ohrenbetäubender Schrei bahnte sich durch meine trockene Kehle, doch es kam nichts hervor, bis auf ein heiseres Keuchen.

Er war tot.
,,Tot, tot, tot", murmelte ich stumm vor mich hin, als ich sein Blut von meinen Nägeln pickte.
Ich glaubte es kam dorthin, als ich mich über seine Leiche gebeugt hatte, um nur noch einmal in seine grünen Augen zu schauen.
Oder war es, als ich meine Augen vor Michaels Grausamkeit verborgen wollte?
All die Wunden und die Schmerzen und die Schreie, vermengten sich in eine große Blutlache, bei der ich nicht wusste, wo sie anfing und wo sie aufhörte.
Fing sie bei dem knackenden Geräusch von Sams Genick oder bei den ersten Schnitten von rostigen Messern in Deans Brust an?
Oder als Monster sich über Deans gefesselten Körper hermachten?

Wie Michael ihn mit seiner Gnade folterte, sodass ich so lange schrie, dass meine Stimme versagte.
Ich konnte mich gar nicht mehr daran erinnern, aufgehört zu haben.

Nicht als Michael gelacht hatte: ,,Dean Winchester ist tot!" und ihm alle zugejubelt hatten.
Aber auch nicht als er mich im Nacken packte, mich aus dem Kartenraum in ein beliebiges anderes Zimmer zog und mit seinen kalten, blutbefleckten Händen meine Kleidung entzweigerissen hatte.
Bloßgestellt vor Dutzenden von verwandelten und adrenalingesteuerten Monstern, hatte der Erzengel sein Versprochen gebrochen, mir nichts an zu tun. Der Gedanke allein ließ mich rhythmisch vor und zurück wippen, um mich zu beruhigen; nicht an meine mit Krallen aufgekratzten Arme zu denken.
Ich konnte nicht aufhören zu schreien, egal, wie oft er es mir befiel, stattdessen hielt er mir einfach den Mund zu.
Ich spürte nichts als Schmerz und Ekel, als ich meinen Körper zwang aufzugeben, denn ich hatte verloren.
,,Dean Winchester ist tot", hallte es ohne Pause in meinen Ohren wieder, beschäftigte meine gelähmten Gedanken.

Dean Winchester war tot, so zugerichtet, dass man ihn nicht mehr bestatten konnte.
Nicht, weil er entstellt war.
Nein, weil es lediglich nichts mehr gab.
Dean Winchester war tot.
Und mit ihm Sam, Cas und Jack und all die anderen, die auf unserer Seite standen.
Michael hatte sie alle hingerichtet, als Richter und Henker gleichzeitig.
Dean Winchester war tot.
Jegliche Hoffnung war mit ihm gestorben.
Die Hoffnung aller auf eine friedliche Welt und meine Hoffnung für Josies Gute Seite.
Das alles zählte nicht mehr, denn je mehr Blut sich zu meinen Füßen ansammelte, desto sicherer war mein Tod.
Und nun wartete ich auf den Sensenmann, der mich von meinen Schmerzen erlösen würde und tatsächlich... schwere Schritte auf dem Gang kündigten eine Präsens an.
Mühselig riss ich meinen Blick von der roten Lache und richtete meine müden Augen auf die Tür, bereit für das, was kommen würde.

,,Valerie, Valerie, Valerie", hallte eine körperlose Stimme von den Wänden wieder.
,,Was soll ich nur mit dir tun?", murmelte sie gehässig, während gleichzeitig das ganze Zimmer anfing sich zu drehen, sodass ich mein Gleichgewicht verlor und schmerzhaft auf dem Boden aufprallte.
,,Valerie, so ungehorsam." Ich fuhr zurück, als plötzlich zwei schwarze Schuhe in meinem Blickfeld traten. Langsam schaute ich nach oben, doch sah nichts bis auf die dunkle schemenhafte Statur eines Mannes.
,,Ich...Ich kann nicht mehr", flüsterte ich brüchig und in meinem eigenen Blut liegend, den Tränen nahe.
,,Ich weiß", flüsterte Michael mitleidig, nachdem er vor mir in die Hocke ging und hart mein Kinn umgriff.
,,Deswegen wird es mir nur noch mehr Spaß machen", hörte ich ihn sprechen und schloss meine Augen, nachdem ich erkannte, was er vorhatte. Es war mir egal. Es sollte nur vorüber gehen. ,,Valerie", drängte sich auf einmal eine andere Stimme in mein Bewusstsein. Sie klang so weit weg, doch trotzdem ließ sie Michaels Grimasse verblassen.

Stattdessen öffnete ich blinzelnd die Augen und erblickte an der gegenüberliegenden Wand eine kleine aneinandergereihte Stuhlgruppe. Über ihr lag ein Dachfenster auf das leichter Landregen prasselte und die Stille malerisch untermalte.
Verwirrt seufzte ich auf und kniff, geblendet von dem grellen weißen Licht, die Augen zusammen, bis sich meine Sicht an meine Umgebung gewöhnte.
,,Was...?", wisperte ich, während ich mich in einer spiegelnden Scheibe betrachtete. Bis auf ein paar Augenringe, sah ich normal aus.
Ich trug Jeans sowie ein weites Shirt und nichts davon war in Blut gebadet, auch meine Haare nicht. Mir blickte eine übermüdete Frau entgegen, das schon, aber keine Furie.
Trotzdem fühlte sich meine Haut merkwürdig taub an, demnach schreckte ich auch auf, als mir jemand seine Hand auf meine Schulter legte.
Ruckartig fuhr ich herum, um den Angreifer abzuwehren, doch ich blickte in das Gesicht von...
,,Dean?!", rief ich lauter als geplant. Er saß auf dem Stuhl neben mir und zog bei meiner Reaktion überrascht die Augenbrauen hoch.
In seine Augen trat ein Fünkchen Sorge, als ich meine Hand auf seine legte, nur um zu glauben, dass er wirklich hier war.

Und da ging es mir auf: ich hatte nur geträumt. Erstarrt wusste ich nicht wie ich reagieren sollte. Sollte ich mich freuen, dass es vorbei war oder heulen, weil ich es für echt gehalten hatte; mit ziemlich vielen blutigen Details.
,,Du hast geschlafen und ich wollte dich nicht...", fing er an, doch ich unterbrach ihn indem ich mich ziemlich umständlich in seine Arme warf und mich wie ein Kleinkind an ihn klammerte.
,,Es war nur ein Traum", murmelte ich immer wieder erleichtert, um die noch immer verschreckten Teile meines Gehirns davon zu überzeugen.
Serotonin breitete sich langsam in meinem Körper aus und lockerte meine verkrampften Muskeln.
,,Hattest du wieder einen Alptraum?, fragte er leise, während er mich sanft in und her wiegte, denn er hatte anscheinend verstanden, was mit mir los war. Ich versuchte zu nicken und gleichzeitig vergebens zu verhindern, dass Tränen der Erleichterung, aber auch vor Rührung seiner Geste, meine Wange entlang rinnen.
Ich hatte nur geträumt. Ich war nach wie vor in Sicherheit, nicht bei Michael. Es ging mir gut, es ging Josie gut.

,,Ja, aber jetzt ist es vorbei", verkündete ich mit gespielten Lächeln und falscher Energie. Dabei wischte ich mir verstohlen die Tränen weg, während ich mich von ihm löste.
,,Geht's dir wirklich gut?", fragte er mich ruhig und sah mich prüfend an.
,,Ich... Ja. Ist wahrscheinlich nur der Stress", log ich ihn an, um ihn zu beruhigen. Das ich gerade einen der schlimmsten Momente meines Lebens erlitten hatte, der mein Herz immer noch lähmte und der sich so real angefühlt hatte, verschwieg ich ihm.
Scheiße, dieser Traum hatte sich so echt, wie meine jetzige Umgebung angefühlt. Michaels Stimme kam mir so greifbar vor, wie der Stuhl auf dem ich gerade saß. Gott, ich hatte echt ein Problem, wenn das mit meinen Alpträumen so weiter ging, denn das war nicht der erste und würde auch nicht der letzte sein, aus dem Dean mich holte. Mir waren alleine in den letzten Wochen einige realistische Träume aufgefallen, die es so richtig in sich hatten - und das auf eine sehr schlechte Art.

Oft ging es um die Frauen, die meinetwegen sterben mussten. Wie sie mich schreiend unter Tränen verfluchten, während ich nichts tun konnte, außer auf die verunstalteten Körper der Frauen zu starren. So viele Bisse und Schnitte von Krallen, bis auf die Knochen.
Manchmal ging es in ihnen um Josie, was mit ihr passieren würde, wenn Michael gewinnen würde.
Vor ihnen graute es mir am meisten, denn meiner Fantasie in diesen war der Brutalität keine Grenzen gesetzt.

Denn dann träumte ich von einer bösen Josie, die ihre Gnade missbrauchte, um Menschen zu foltern und zu töten. Mal war es eine fremde Person, mal waren es Freunde von mir.
Einmal wurde ich aus einem dieser Träume gerissen und konnte eine halbe Stunde lang an Nichts anderes, als Sams Schreie denken, als Josie Dean lachend zu Tode quälte, während Michael abgrundtief böse lächelnd hinter ihr stand.
Das war bis lang der entsetzlichster Aller gewesen. Genauso realistisch und gefühlsecht, wie eben.
Und anstelle dessen, dass ich mich jemanden anvertraute, der helfen könnte mir diese Last abzunehmen oder mich einfach im Arm zu halten, während ich mich davon überzeugte, dass schon alles in Ordnung kam, schwieg ich. Zu groß war meine Angst, dass jemand es als Voraussage der Zukunft wahrnahm. Außerdem hielt ich es für unangemessen wegen ein paar Alpträume einen so großen Aufstand machte, wenn es andere gab, die noch mehr, als ich litten.

,,Okay...", holte mich Dean wieder in die Realität. Er sah ganz und gar nicht überzeugt aus, doch vermied es mir hier eine Szene zu machen.
,,Ich wollte dir Jacks Befund mitteilen", ergänzte er darauf schließlich langsam, so als ob ich bereit für diese Nachricht war.
Erst wusste ich nicht, was er meinte, doch dann traf mich die Erkenntnis.
Gott, ja. Wir waren im Krankenhaus, weil Jack bluthustend zusammengebrochen war.
Deswegen lag der schwere Geruch von Desinfektionsmittel in der Luft.
Ich fuhr mir einmal übers Gesicht und atmete tief ein, damit ich mich voll und ganz auf das Jetzt konzentrieren konnte und mich nicht mit meinen komischen Träumen auseinandersetzen musste.

Es war gestern Abend, da hatte Jack mich zu meinem Zimmer geführt und ich wollte mich schon abwenden, als er stark zu husten angefangen hatte. Besorgt ging ich zu ihm und hatte ihn gefragt, ob alles in Ordnung sei, da hatte er seine Hand von seinem Mund genommen. Ich hatte das Blut im gleichen Moment, wie er gesehen und der Blick der er mir kurz darauf gegeben hatte... den würde ich nie vergessen. Pure, unschuldige Angst trat für kurze Zeit in seine Augen, bis seine Beine kurz darauf nachgaben und er zu Boden fiel.
Ich hatte sofort erste Hilfe geleistet, aber die Medizinerin in mir hatte alle Erkrankungen mit solchen Symptomen aufgelistet - von Lungenembolien zu Gefäßmissbildungen war alles dabei. Und keine einzige Krankheit war harmlos oder unbedenklich.

Ich hatte keine Ahnung wie viel Uhr es war, aber es müsste schon der nächste Tag angebrochen sein.
,,Was hat die Ärztin gesagt?", fragte ich ihn sanft und hoffte auf das Beste, auch wenn mir klar war, dass ich, wie fast immer, enttäuscht werden würde.
,,Sie hat nach unzähligen negativen Tests ein multiples Organversagen mit unklarer Ursache für den Moment diagnostiziert, will ihn aber noch weiter untersuchen", sprach er fast tonlos und schüttelte den Kopf.
,,Scheiße", atmete ich laut aus und hielt mir betroffen eine Hand vor den Mund. Ich kannte Jack nicht lange, aber ich mochte ihn und seine Art. Auf dieser Welt gab es zu wenige solcher Menschen mit einem Herz aus Gold.
,,Wie lange untersuchen sie ihn schon?", fragte ich ihn mitfühlend, weil ich nur ahnen konnte, wie viel ihm, auch Sam und Cas, Jack bedeutete, nachdem ich tröstend meine Hand auf seinen Rücken gelegt hatte.
,,Keine Ahnung. Ich hab den Überblick verloren. Ein paar Stunden? Cas ist im Moment bei ihm und passt auf ihn auf."

,,Gegen ein multiples Organversagen kann man wenig tun, die Krankheit weist eine hohe Letalität auf. Das ist die Wahrscheinlichkeit, an einer Krankheit zu sterben", erklärte ich ihm kurz lächelnd, als ich bemerkte, dass er nur Bahnhof verstand, doch mein Lächeln verschwand kurz darauf, als ich mir die Ausmaße der Behandlung vorstellte. Blitzlichter aus vergangenen Tagen tauchten vor meinen Augen auf, von einem Patienten, der mit Anabolika versucht hatte, schneller zu einem Muskelaufbau zu kommen. Keine Woche später lag er mit der Diagnostik auf multiples Organversagen im künstlichen Koma.
,,Scheiße, auf Jack werden lange intensivmedizinische Behandlungen zukommen, wenn sie die Ursache nicht herausbekommt. Schocks, Vergiftungen oder Gefäßverengungen können zu...", wollte ich Dean gerade mögliche Ursachen und Therapien erklären, doch er unterbrach meinen Vortrag.
,,Wir nehmen ihn mit nach Hause", sagte er schlicht und einfach, so als ob er Brötchen holen gehen wollte, während mir bei dieser Aussage die Kinnlade hinunterfiel. Sie wollten was?
,,Was?! Seid ihr verrückt? Er leidet an MODS, ihr könnt ihn nicht einfach... einfach aus dem Krankenhaus nehmen! Hier ist er am besten aufgehoben, umgeben von Ärzten und Pflegern, die die Krankheit verstehen und ihm helfen können! Wenn ihr noch ein paar Tests abwartet, dann kann sie euch helfen. Das weiß ich", beharrte ich vehement darauf; konnte nicht nachvollziehen, wie sie nur auf die bloße Idee kamen.
Ich befand solche Patienten und deren Angehörigen, die gegen den ärztlichen Rat verstießen, schon immer für unzurechnungsfähig und leichtsinnig. Man kam doch ins Krankenhaus um eine Lösung für ein Problem zu finden. Doch wenn die Lösung ihnen nicht passten gingen sie einfach wieder, als ob das hier nur ein Wellness-Aufenthalt gewesen wäre, keine meist lebensnotwendige Maßnahme.

,,Nein können sie nicht, Valerie. So etwas, wie Jack haben die hier noch nie gesehen und wir können ihnen nicht sagen, was er ist. Bei allem Respekt, sie können ihn nicht behandeln, egal wie viele Tests oder Versprechungen sie machen." Ich wollte gerade erwidern, dass das völliger Schwachsinn war, doch er hatte recht, so ungern ich das auch zugeben wollte. Jack war ein himmlisches Wesen, dessen Körper, Immunsystem und Krankheitsbilder wahrscheinlich komplett anders aussahen. Vielleicht machten es die Ärzte noch ungewollt schlimmer, weil sie so etwas wie Jack nicht kannten.
,,Was wollt ihr stattdessen machen?", erkundigte ich mich ergeben, nach kurzem Schweigen.
,,Sam hat Rowena angerufen und wartet im Bunker schon auf ihre Ankunft. Sie soll mit Magie herausfinden, was mit Jack nicht stimmt und die Ursache für seine Krankheit herausfinden. Da Magie, laut Rowena, auch an unmenschlichen Spezies funktionierte, geben wir ihr eine Chance. Viel schlimmer kann es kaum werden." Seine Stimme zitterte bei der möglichen Aussicht auf Jacks Verlust und mir lief selbst eine Träne über die Wange, als ich näher an ihn rückte und meinen Kopf auf seine Schulter legte.
Ich kannte Jack erst seit einigen Wochen und mich traf es zu tiefst, dass so ein unschuldiges und liebevolles Leben bald beendet sein konnte. Aber für Sam, Dean und Cas war er fast wie ein Sohn. Und selbst die bloße Vorstellung ein Kind, Josie, zu verlieren ließ mich vor Tränen erzittern. Ich wollte es mir einfach nicht vorstellen; der ganze betäubende Schmerz und die ausgehölte Leere, die zurückblieb. Jack hatte noch nicht mal gelebt. Er hatte keinen ersten Kuss bekommen, hatte noch nie eine richtige Leidenschaft für etwas entwickelt. Natürlich war er ein halber Erzengel, aber er war auch ein halber Mensch. Und diese Seite von ihm, die Seite seiner Mutter, die hatte er nicht ausgelebt.

Wenn man als Krankenschwester arbeitete, dann musste man sich irgendwann einen Schutzpanzer anlegen, damit einem die Trauer und die Schicksalsschläge nicht zu nahe traten. Manche stumpften dadurch ab, manche versuchten mit der tagtäglichen Nulllinien auf den Monitoren einfach klar zu kommen, ohne weinend zusammenzubrechen. Und dazwischen hörte man von Kollegen oder Angehörigen, dass es irgendwann besser, erträglicher werden würde. Dass alles okay sein wird. Damit man die Hoffnung nicht verlor, damit man nicht aufhörte zu kämpfen. Und es klang immer nach einer abgedroschenen Phrase, aber ich meinte es immer ernst. Denn wer sollte es einem sonst sagen, wenn man selbst in einem tiefen Loch voller Trauer zu ertrinken drohte. Wer sollte sonst der Anker sein, den man brauchte, um nicht unterzugehen? Aber ich wusste auch, dass es manchmal einfach nicht stimmte. Dass man andere anlog, dafür, dass es ihnen besser ging. Doch wussten wir beide, dass das nicht mehr half. Jetzt lag unser Innerstes, unsere Sehnsüchte und Ängste, offen. Und es sollte nicht durch Lügen verschmutzt werden.

,,Das... Das ist nicht fair. Er ist doch noch so jung", wisperte er nach einer Pause brüchig, so leise, dass nur ich es hören konnte und atmete tief ein. ,,Das ist es nie, Dean. Nie", entgegnete ich heiser, da ich den Kampf gegen die aufkommende Tränenflut verlor. ,,Und es wird nie leichter." Ich barg meinen Kopf an seinen Hals, als er einen Arm um mich legte, um mich näher zu ihm zu ziehen. Es war keine Geste von Verliebten, nein. Es war einfach nur die Sehnsucht nach Nähe und Verständnis. Nach einem Platz, an dem er nicht für seinen kleinen Bruder das starke Vorbild sein musste. An dem ich nicht meine ständig positive Fassade aufrecht erhalten musste. An dem man einfach keine Lösung für alle Probleme hatte - und es okay war. Und so saßen wir da, so nah am Anderen, dass man nicht sagen konnte wo der eine anfing und der andere aufhörte. Wir weinten einfach über das, was niemals sein konnte und spendeten einander stillen Trost, denn das war das Einzige, was wir tun konnten.

-

Ich will eigentlich nicht viel zu dem Kapitel sagen, außer:

Es okay, mal nicht okay zu sein.

Und dass man bei jeder Art von Belastung sich Hilfe suchen kann. Bei Freunden, Familie oder auch professionellen Therapeuten. Keines euer Probleme kann zu klein sein, wenn es euch belastet. (Achtung Spoiler: Das wird Valerie auch noch verstehen)

Ich hoffe euch hat das Kapitel gefallen, bis zum nächsten Mal :)

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top