Epilog

Es war schon lange dunkel draußen als die Bäume um uns herum wieder begannen sich zu lichten. Meine Tränen waren schon lange versiegt auch wenn ich mir ziemlich sicher war, dass das nur an der Tatsache lag, dass ich keine mehr hatte. Doch auch wenn meine Sicht nicht mehr verschwommen war, nahm ich das was um mich herum passierte noch immer nicht richtig war, denn es gab viel zu viel über das ich nachdenken musste.

Nur als Feders Galoppsprünge immer länger und schneller wurden schaffte ich es mich kurz von meinen Gedanken zu lösen und sah den mir nur allzu vertrauten Weidezaun vor uns auftauchen. Anders als sonst war heute jedoch keine Vorfreude oder Aufregung in meiner Magengegend als wir ihm gemeinsam immer näherkamen.

Mir war durchaus bewusst, dass die Gefahr hier Lino über den Weg zu laufen ziemlich hoch war und eigentlich war es ein Wiederspruch an sich jetzt zu Feders alter Koppel zu kommen, wenn wir doch den ganzen Tag nur kreuz und quer durch den Wald geritten waren um ihm eben nicht zu begegnen.

Besser gesagt hatte Feder mich mehr oder weniger den ganzen Tag über durch die Wälder und über die Wiesen und Felder getragen, denn ich war eigentlich nur körperlich anwesend gewesen, so sehr hatte ich mich in meiner eigenen Gedankenwelt verkrochen.

Doch jetzt war ich wieder ganz hier, wenn auch nur für den Moment und als wir zusammen den Holzzaun überwanden der nur aus drei Latten bestand fühlte ich mich Feder so nahe wie nie zuvor. Wir waren eine Einheit, wir gehörten zusammen, das hatte der heutige Tag im Grunde nur noch einmal mehr bewiesen und ich hoffte, dass das auch immer so bleiben würde. Denn ohne sie wäre ich auch nicht mehr ich.

Während Feder auf der anderen Seite sanft wieder landete, versank ich schon wieder ohne mich dagegen wehren zu können in meinen Gedanken. Nun ergab alles einen Sinn, doch im Nachhinein hätte ich es viel mehr genossen, wenn es keinen Sinn ergeben hätte und dafür alles so geblieben wäre wie es gewesen war.

Doch das war es nicht und ich wusste, dass es auch nie wieder werden würde wie zuvor.

Fest stand nur, dass Feder nicht ohne Grund Angst vor Lino gehabt hatte und dass ich ihr schon viel früher hätte glauben sollen was das anging, was alles anging. Noch immer tat es mir schrecklich leid, dass ich auch nur eine Sekunde in Erwägung gezogen hätte, Feder könnte für den Tod meiner Eltern verantwortlich sein auch wenn ich das in den letzten Wochen selber nicht mehr so recht hatte glauben können.

Anscheinend hatte mein Unterbewusstsein recht gehabt was das angegangen war und als Feder durchparierte beugte ich mich nach vorne, streichelte ihre Mähne und flüsterte ihr bestimmt zum dreißigsten Mal heute in ihr Ohr: „Es tut mir so unendlich leid meine Maus!". Dies nahm sie auch jetzt wie zuvor ebenfalls immer mir einem zufriedenen Schnauben hin und ich wusste das sie mir deswegen schon lange verziehen hatte.

Wenigstens diese Sache hatte ich verstanden, auch wenn ich noch immer wütend auf mich war, weil ich nicht sofort an Feders absolute Unschuld hatte glauben wollten. Sie hatte sich sogar noch für das Leben meiner Eltern eingesetzt und ich hatte sie ein ganzes Jahr lang alleine gelassen.

Hinter andere Dinge konnte ich jedoch noch nicht blicken, nicht ohne, dass es tausend weitere Fragen aufwarf, doch ich wusste auch das ich das jetzt noch nicht verlangen konnte. Mit Sicherheit würde ich irgendwann alles verstehen, aber jetzt war es einfach noch zu früh dafür.

Auf jeden Fall wusste ich nun warum ich diese Rückblenden gehabt hatte, denn sie hatten mir nur zeigen wollen das da noch so viel mehr war als die Ereignisse an die ich mich noch erinnerte und ich kannte die Wahrheit von dem, das damals wirklich vorgefallen war.

Auch wenn es schmerzhaft gewesen war diese anzusehen und noch viel mehr sie wirklich als die echte Wahrheit zu erkennen war es zweifelsohne richtig gewesen. Zudem wusste ich jetzt auch, dass ich nicht freiwillig vergessen hatte, sondern das Lino meine eigenen Erinnerungen nicht nur hatte verschwinden lassen, sondern die eine, wenn nicht sogar die wichtigste, die von dem Tod meiner Eltern manipuliert hatte, doch es laut ihm zu meinem Schutz gewesen war.

Das war noch so eine Sachen die ich nicht verstand: zum einen wusste ich nicht wovor er mich schützen wollte und zum anderen verstand ich überhaupt nicht wie er so etwas hatte tun können. Fest stand nur, dass er genau das wusste was meine Eltern mir aus der Angst mich damit zu gefährden immer vor mir geheim gehalten hatten und schien damit auch etwas zu tun zu haben.

Allerding hatte ich keine Ahnung worum es ging, nur war mir jetzt bewusst, dass wirklich nicht immer alles so war wie es schien.

Mehr verstand ich nicht und in diesem Moment kam es mir so vor als würde ich rein gar nichts wissen, aber Feder selbst hatte mich gelernt, dass man nicht immer auf jede Frage sofort eine Antwort haben konnte, geschweige denn brauchte und man manchmal auch geduldig sein musste, so schwer es auch sein konnte.

Jedoch war ich mir in diesem Moment sicher, dass alle Geduld dieser Welt nicht ausreichen würde um den Gefühlssturm der in mir tobte zu beruhigen. Ich konnte nicht einmal alle Gefühle richtig deuten, spürte nur wie verletzt und enttäuscht, wütend und traurig ich gleichzeitig war.

Feder wieherte leise und schien mich daran erinnern zu wollen weswegen wir eigentlich hier waren und tatsächlich schaffte sie es mich aus meinen Gedanken zu reißen.

„Du hast ja recht Maus", flüsterte ich um bloß keine Aufmerksamkeit zu erregen auch wenn ich wusste das ich das eigentlich nicht musste, da diese Weide so abgelegen war. Bevor ich mein Bein über ihre Kruppe schwang und mehr oder weniger elegant mit meinen Füßen auf dem Boden landete gab ich ihr noch einen Kuss auf die Mähne um ihr zu zeigen wie dankbar ich ihr war, auch wenn ich mir sicher war, dass sie es bestimmt auch so verstanden hätte.

Langsam ging ich zu Feders kleinem Unterstand und auch wenn ich mich nicht umdrehte konnte ich an ihrem Hufgetrappel hören, dass sie mir folgte, fast so als würde sie mich nicht alleine lassen wollen.

Ohne zu zögern betrat ich den Stall und ging zielstrebig zu der Wand von der ich wusste, dass sie noch immer den Brief meiner Eltern versteckte. Dieser war auch der Grund gewesen, warum ich noch einmal gekommen war, denn ich konnte ihn einfach nicht zurücklassen.

Unter meinen Fingern spürte ich das Ende des Papiers, dass noch immer zwischen den beiden Holzlatten steckte, bevor ich es vorsichtig aus seinem Versteck zog.

Eigentlich hatte ich vorgehabt so schnell wie möglich zu verschwinden, doch als ich die Schrift meiner Mutter sah, die auf die Vorderseite durchgedrückt war, konnte ich nicht anders als das vergilbte Stück Papier aufzufalten und die eng beschriebenen Zeilen erneut zu lesen.

Alles was ich beim letzten Mal noch in Frage gestellt hatte, nahm ich jetzt einfach so hin, genauso wie die Tatsache, dass sie den Brief schon vor ihrem Tod hier versteckt haben mussten, in der Hoffnung, dass ich ihn irgendwann mal finden würde, dass sie wussten, dass Feder hier eines Tages stehen und ich oft bei ihr sein würde.

Auch das sie schon geahnt hatten das sie sterben würden machte jetzt immer mehr Sinn und langsam konnte ich auch nachvollziehen, warum sie mich aus all dem, was sich mir noch immer nicht so recht offenbarte hatten heraushalten wollen.

Zudem wurde mir klar, dass man Teile von ihm ganz anders interpretieren konnte und dass ich auch hätte Lino hinterfragen sollen.

Klar, meine Eltern hatten geschrieben, dass ich auf mein Herz hören sollte und bei Feder hatte ich es auch tatsächlich gemacht. Doch bei Lino? Mir wurde immer mehr bewusst, dass ich auch bei ihm auf mein Herz gehört hatte, aber nur auf den Teil der etwas für ihn empfunden hatte und das sogar ziemlich stark.

Doch nun wusste ich, dass meine Mutter wahrscheinlich sogar genau das gemeint hatte, als sie geschrieben hatte, dass es nicht immer einfach sein würde. Auf jeden Fall hätte ich ihm nicht einfach so vertrauen dürfen, weil ich es früher auch immer getan hatte und wie jeden andern zuerst kritisch hinterfragen sollen. Zudem konnte ich noch immer fassen, warum ich nicht schon viel eher auf Feder gehört hatte.

Sobald ich auch nur an seinen Namen dachte traten mir die Tränen wieder in meine Augen und erst jetzt wurde mir bewusst, wie viel er mir bedeutete. Mit Gewissheit würde ich lange brauchen meine Gefühle auch nur halbwegs für ihn zu sortieren, denn allein das ich ihn so sehr liebte, dass ich es nicht geschafft hatte auf den Teil meines Herzens zu hören, der mich täglich angeschrien hatte ihm nicht zu vertrauen und viel mehr die Tatsache das er dies auch sofort ausgenutzt hatte, sagte viel über ihn aus, wenn nicht sogar alles.

Aber wie man es auch drehte und wendete, ich hatte ihn verloren, heute, endgültig, für immer und nichts und niemand würde daran etwas ändern können. Und alles was er in mir hinterlassen hatte waren die Gewissheit das ich ihn liebte und mein Leben, das zum zweiten Mal komplett um mich herum eingestürzt war und mich mit zu begraben schien. Ob ich die Kraft hätte es jemals wieder aufzubauen, ich wusste es nicht.

Ich hatte das Gefühl zu fallen, in einen tiefen Tunnel der keinen Boden hatte, doch gerade als die erste Träne auf die Tinte fiel und sie verwischen ließ, stupste Feder mich ganz vorsichtig von hinten an und auch wenn sie nicht sprechen konnte, wusste ich was sie mir damit sagen wollte: ich war nicht allein. Sie war bei mir und würde niemals von meiner Seite weichen und ich auch nicht von ihrer, niemals.

Als ich mich zu ihr umdrehte und sie mir vorsichtig die Tränen von der Wange pustete, musste ich trotz allem lächeln, auch wenn es sich nur traurig und ganz schwach auf meinen Lippen ausbreitete: „Danke meine Maus. Ich wüsste echt nicht was ich ohne dich machen würde. Und du hast recht, solange du bei mir bist bin ich nie alleine und du bist auch alles was ich brauche.", einen Moment stockte ich und kraulte sie an ihrer Lieblingsstelle hinter ihrem linken Ohr: „Ich verspreche dir hoch und heilig, ich werde durch nichts und niemanden von deiner Seite weichen, nie mehr."

Feder antwortete auf meine Worte mit einem Wiehern, fast so als wollte sie mir das gleiche versprechen. Dankbar gab ich ihr einen Kuss auf die Nüstern, bevor ich erneut weitersprach: „Aber Maus, so leid es mir tut, wir können hier nicht bleiben und wir müssen jetzt los, damit uns niemand findet, ja?"

Feder schnaubte leise und ich wusste das sie damit einverstanden war und mit mir kommen würde, auch wenn das für sie bedeutete, Dino nicht mehr sehen zu können und das bedeutete mir echt verdammt viel: „Wir kommen wieder versprochen!"

In der Hoffnung wenigstens dieses Versprechen Feder gegenüber halten zu können, wenn sie schon mit mir zusammen ging und alle ihre Freunde hier zurückließ, faltete ich den Zettel wieder zusammen.

Vorsichtig griff ich von oben in den Ausschnitt meines T-Shirts und steckte ihn ohne zu zögern in meinen BH da ich sicher gehen wollte, dass ich ihn nicht verlor, denn er war alles was ich noch von meinen Eltern hatte.

Nachdem wir wieder aus dem Unterstand gegangen waren, legte Feder sich hin, ohne dass ich sie überhaupt dazu aufgefordert hatte und dankbar stieg ich auf damit wir uns wenig später zusammen erheben konnten.

Ein letztes Mal sah ich mich auf der großen Wiese um, die mir in den letzten Monaten wirklich ans Herz gewachsen war und blieb mit meinem Blick erst an dem Unterstand und dann an dem alten, knorrigen Apfelbaum hängen. Alles hier würde ich vermissen, doch mir war bewusst, dass ich keine andere Wahl hatte.

„Tschüss!", rief ich leise und verabschiedete mich von viel mehr als nur dieser Koppel: von dem früheren Haus von mir und meinen Eltern, von Linos Eltern, von den Pferden und besonders von Tipsy und Mo, die ich bestimmt vermissen würde, von der Koppel auf der ich jede freie Sekunde in dem letzten Monaten verbracht hatte und auch von Lino.

Schon wieder verschwammen meine Sicht und ich schnalzte leise, bevor ich erneut anfangen würde zu weinen.

Während Feder angaloppierte und wir dem Weidezaun und unserer Freiheit, unserer gemeinsamen Zukunft dahinter immer näherkamen, spürte ich, dass wir irgendwann noch einmal zurückkommen würden, auch wenn ich noch nicht sagen konnte wann.

Mir wurde bewusst, wie wenig ich gerade wusste. Ich wusste weder wo wir jetzt hinsollten noch was mit Feder und mir passieren würde, doch ich schwor mir in dieser Sekunde für immer bei ihr zu bleiben und dass wir, auch wenn ich bestimmt erst einmal viel Zeit zum Gedankensortieren brauchen würde irgendwann gemeinsam zurückkommen würden um zurückzuschlagen und nach der Wahrheit zu verlangen, der ganzen. Für meine Eltern, für Feder und für mich.

Als Feder dieses Mal absprang hielt ich wie jedes Mal zuvor die Luft an und streckte meine Arme zur Seite, währen ich beobachtete wie der Zaun unter uns hinweg zog. Das hier war mein, nein unser Neubeginn und auch wenn keiner von uns beiden wusste wohin er uns bringen würde, fühlten wir doch beide, dass er richtig war.

Auf einmal spürte ich einen Blick in meinem Rücken ruhen und auch ohne mich umzudrehen wusste ich, dass Lino uns entdeckt hatte. Er war schon immer wie ein offenes Buch gewesen, doch noch nie hatte ich seine Gefühle so deutlich lesen können ohne ihm dabei in die Augen zu sehen wie in diesem Moment. Ich spürte das Schuldbewusstsein und die Traurigkeit in seinem stechenden Blick, der mich noch immer von hinten musterte doch wusste zeitgleich auch dass er mir nicht folgen würde.

Zum einen, weil er genauso gut erkannt hatte wie ich, dass er mich egal ob mit oder ohne Dino nicht mehr würde einholen können und zum anderen, weil ihm bewusst war, dass selbst wenn er das schaffen sollte, er mich nicht würde umstimmen und zum Bleiben würde bewegen können, denn das hier war unweigerlich Feders und mein Weg.

All das und noch so viel mehr spürte ich in seinem Blick liegen, obwohl er nur am Zaun auf der anderen Seite der Weide stand und mir hinterherblickte. Ich spürte das er ebenso wie ich zu wissen schien, dass er alles was innerhalb der letzten Monate wieder zwischen uns herangewachsen und intensiver geworden war als jemals zuvor zerstört hatte und konnte fühlen wie sehr er dies bedauerte, so sehr das er es noch nicht einmal würde ausdrücken können und auch wenn ich es nicht wollte musste ich mir eingestehen, dass es mir ganz genauso ging.

Im Endeffekt war doch alles so gekommen, wie ich es immer befürchtet hatte, ich hatte nicht nur den falschen vertraut, sondern war auch noch ganz allein, abgesehen von Feder. Doch vielleicht war das auch gar nicht so schlecht? Ich hatte niemanden mehr, nur noch Feder, doch bedeutete sie mir nicht ohnehin mehr als jeder andere? Denn ich wusste das ich ihr blind vertrauen konnte und das zu jeder Zeit. Ohne zu zögern würde ich ihr mein Leben anvertrauen, denn im Notfall wäre das ihre mir sowieso wichtiger als meines.

Egal was passieren würde, wir würden zusammenhalten, ganz egal welche Auswirkungen das haben würde. Das schwor ich mir bevor wir auf der anderen Seite des Zauns landeten, weitergaloppierten und zwischen den Bäumen ins Ungewisse verschwanden.

Keiner von uns beiden wusste was jetzt passieren würde, doch eines stand fest, wir würden alles schaffen können, denn wir hielten zusammen, früher, heute und für alle Ewigkeit und sosehr ich auch fallen würde, sie war die einzige, die mich halten konnte und dies auch jederzeit ohne eine Sekunde zu Zögern tun würde, so wie ich auch immer für sie.

Deshalb war es am Ende doch auch egal, ob wir fallen, schweben oder fliegen würden, denn wir würden es zusammenerleben und waren somit niemals allein. Und mit ihr fühlte ich mich auch fallend als würde ich fliegen.

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