8. Kapitel

Meine Beine zitterten und gaben schließlich nach, doch ich nahm gar nicht richtig war, wie ich langsam die Holzwand hinabrutschte.

Was hatte das alles zu bedeuten?

Ich wusste es nicht.

Tränen verschleierten meine Sicht, doch ich hielt sie nicht zurück, schlichtweg weil ich es einfach nicht mehr schaffte.

Immer wieder fuhr ich mit meinem rechten Zeigefinger die Namen meiner Eltern nach und spürte wie die Tränen heiß meine Wangen hinabrannen und leise auf das vergilbte Blatt tropften. An den Stellen, an denen sie mit der so schönen Schrift meiner Mutter in Berührung kamen, verwischte die dunkelblaue Tinte, doch es war mir egal.

Ich hatte mir insgeheim Antworten auf meine tausend Fragen erhofft, doch stattdessen wurde nur noch mehr in Frage gestellt.

Es ist anders als es scheint.

Was meinten sie damit? Was hatten sie mir all die Jahre verschwiegen und was sollte so gefährlich sein, dass ich es nicht wissen durfte? Aber noch viel wichtiger: Woran hatten sie geglaubt zu sterben?

Fest stand, dass es Feder gewesen war, die sie getötet hatte, auch wenn es ohne Absicht geschehen war. Doch irgendetwas in mir drin, schien sich gegen diese Ansicht zu versperren und anders als sonst fing ich an zu hinterfragen wieso.

Weil es nicht zu Feder passte, die einfach das liebste Pferd auf der ganzen Welt zu sein schien und die nicht einmal nach jemandem geschnappt oder getreten hatte, selbst als einer von Linos Freunden bei einer Mutprobe mal in ihren Paddock gesprungen und sie mit einer Peitsche geschlagen hatte. So Doll, dass ich noch Wochen danach täglich Salbe auf ihre Wunde geschmiert hatte und sie bis heute Angst vor Peitschen hatte, obwohl das schon mehrere Jahre her war.

Nein, das war gar nicht Feders Art. Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich Feder die ganze Zeit über vertraut hatte, weil ich insgeheim an ihre Unschuld geglaubt hatte.

Auch wenn meine Eltern gesagt hatten, dass ich niemandem einfach so vertrauen sollte, hatten sie auch gesagt, dass ich immer auf mein Herz hören sollte und das schien mir schon die ganze Zeit über zu sagen, dass Feder unschuldig war. Und so absurd es auch klang, nach allem was ich an jenem Tag gehört und gesehen hatte, konnte ich nicht anders als ihm zu glauben.

Plötzlich pustete mir ein leichter Windhauch ins Gesicht und riss mich aus meinen Gedanken. Als ich langsam von dem Brief aufblickte sah ich Feders vorgestreckte Schnauze nur wenige Zentimeter von mir entfernt und bemerkte den besorgten Ausdruck in ihren Augen, der eindeutig mir galt.

Schwach hob ich die Hand, fuhr ihr über die Stirn und versank wieder in meinen Gedanken.

Zudem hatten sie aber auch gesagt, dass sie immer hinter mir stehen würden, egal welche Entscheidung ich treffen würde.

Außerdem traf ich die Entscheidung ja strenggenommen nicht jetzt, da ich schon lange an sie geglaubt, aber mir immer wieder verboten hatte es mir einzugestehen.

Ich wusste nicht, wie es ging, doch ich wusste von so vielen Sachen in letzter Zeit nicht, wie sie geschehen sein konnten. Wie war zum Beispiel der Brief nach hier gekommen, oder wieso hatten meine Eltern gewusst das Feder hier einst stehen würde und ihn deshalb hier versteckt? Warum war Feder noch hier, wenn ich sie doch eigentlich verkauft hatte, woran ich jetzt schon gar nicht mehr denken wollte, weil es mir so leidtat. Warum vertraute ich ihr trotz allem noch? Und wieso oder woran waren meine Eltern wirklich gestorben?

Mein Leben bestand zurzeit nur aus Fragen, auf die ich keine Antwort wusste. Doch vielleicht brauchte man auf manche Fragen eben keine Antwort. Denn obwohl ich mitterlebt hatte, wie meine Eltern durch Feder ums Leben gekommen waren, glaubte ich an ihre Unschuld. Weil mein Herz es mir sagte und meine Eltern mir geraten hatten, immer auf es zu hören.

Lange Zeit hatte ich die Meinung von ihm verdrängt, da ich sie nicht hatte hören wollen, um mich nicht mit ihr auseinandersetzen zu müssen, doch jetzt konnte ich sie mir endlich eingestehen.

Egal was damals passiert war, ich hielt Feder für unschuldig, da mir das mein Herz so sagte und ich hatte keine Angst mehr vor diesem Glauben, da ich mich jetzt nicht mehr vor meinen Eltern rechtfertigen musste. Da sie mir in ihrem Brief geschrieben hatten, dass sie immer hinter mir stehen würden und ich mir so sicher sein konnte, dass sie nicht Enttäuscht von mir sein würden.

Es ist anders als es scheint., hatte Mum geschrieben und damit recht gehabt. Ich hatte es zwar selber gesehen, aber mein Herz hielt Feder für unschuldig und im Moment war mir die Meinung meines Herzens wichtiger als das gesehene, da das nur wieder mit dem Denken in Verbindung stand. Was auch immer an jenem Tag geschehen war, ich nahm mir vor am nun der festen Überzeugung zu sein, dass Feder nichts dafürkonnte.

Leicht blies diese mir erneut ins Gesicht und ich wusste, dass sie versuchte meine Tränen zu vertreiben. Noch immer kraulte ich ihre Stirn und lächelte ganz leicht, dann ich fühlte ein Gefühl, dass ich schon lange nicht mehr gespürt hatte, auch wenn es noch ganz klein war: Hoffnung.

Eine Weile schaute ich Feder direkt in die Augen und versuchte zu ergründen was sie wohl gerade dachte und genoss es einfach ihr so nah zu sein.

Mittlerweile hatte ich keine Ahnung mehr, wie spät es wohl war und nur dass es draußen, abgesehen von dem wenigem Licht des Mondes noch immer so dunkel war wie zuvor, zeigte mir, dass es noch immer Nacht sein musste.

Langsam kroch die Müdigkeit wieder in mir hoch und ich spürte, wie sehr mich die Geschehnisse des ganzen Tages mitgenommen hatten.

Ich wusste, dass ich eigentlich zurückgehen müsste, doch irgendetwas hielt mich davon ab. Endlich war ich Feder wieder so nah und wir beide konnten uns wieder gegenseitig vertrauen. Ein Gefühl, dass mir total viel bedeutete und dass ich schon viel zu lange nicht mehr so intensiv gespürt hatte.

Wenn ich jetzt gehen würde, hätte ich Angst es zu zerstören. Außerdem hätte ich auch Morgen noch genug Zeit nach Hause zu gehen, auch wenn ich es vielleicht gar nicht wollte, denn hier fühlte ich mich eindeutig viel wohler.

Erst als Feder mich besorgt an stupste, nahm ich war, dass ich inzwischen angefangen hatte vor Erschöpfung zu zittern.

Eigentlich hatte ich noch mal aufstehen und mich nach einem Platz in dem Stall umsehen wollen, an dem ich über Nacht bleiben konnte, doch mir fehlte die Kraft dazu. Also blieb ich einfach an der Wand angelehnt und schloss meine Augen.

Nur als ich einen von Feders Knochen knacksen hörte, öffnete ich sie noch mal und sah, dass Feder sich ganz dicht vor mich gelegt hatte, so dicht, dass ich ihre Wärme spüren konnte.

„Danke für alles", murmelte ich müde und hörte gerade noch so ihr leises und zufriedenes Schnauben.

Bevor ich meine Augen schloss und gleich darauf in einen tiefen, traumlosen schlaf fiel, bemerkte ich noch, dass es in diesem Moment keinen anderen Ort auf der ganzen Welt geben würde, an dem ich in diesem Moment lieber wäre als hier.

Ein Sonnenstrahl, der auf mein Gesicht viel und mich durch die Augenlieder hindurch blendete riss mich sanft aus meinem Schlaf.

Mürrisch drehte ich mich weg und versuchte so dem Licht auszuweichen, als ich den harten Boden unter mir wahrnahm, der definitiv nicht mein weiches Bett sein konnte.

Vorsichtig öffnete ich mein linkes Auge und versuchte die Umgebung um mich herum zu etwas bekanntem zuzuordnen. Ich erkannte vier hölzerne Wände, die bestimmt schon einmal bessere Tage erlebt hatten und stellte fest, dass der harte Boden unter mir bloße Erde war.

Erst als ich den Zettel entdeckte, den ich noch immer in meiner rechten Hand hielt, begann ich langsam zu verstehen und wurde schlagartig wach.

Um mich besser umsehen zu können setzte ich mich auf und öffnete nun auch mein zweites Auge.

Vage erinnerte ich mich an gestern, an den Besuch auf Feders Weide, an mein Weglaufen vor ihr und an den Streit mit Marcellino.

Doch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, riss mich ein Schnauben hinter mir aus meinen Gedanken und ließ mich herumfahren.

Feder stand vor mir und schien mir so etwas wie Guten Morgen sagen zu wollen.

„Dir auch einen Guten Morgen!", antwortete ich und begann mich noch weiter umzusehen, während mir immer mehr Ereignisse des gestrigen Tages einfielen: die Ohrfeige..., wie ich angefangen hatte zu laufen in dem verzweifelten Versuch meinem Leben entfliehen zu können..., wie ich mich verirrt und Feder mich schließlich gerettet hatte...

Erst als ich wieder auf meine Hände herabsah, fiel mir ein, wie Feder mich auch noch zu sich auf die Weide genommen und mir den Unterstand, mitsamt dem Brief gezeigt hatte.

Schon fünf Minuten nachdem ich aufgewacht war, hatte ich dröhnende Kopfschmerzen, und dass nur weil mir all das was ich gestern erlebt hatte wieder bewusstwurde.

Noch immer stand Feder ganz dicht neben mir und es wirkte fast so, als hätte sie die ganze Nacht so dagestanden und versucht mich zu beschützen.

Ich stand langsam ganz auf und ging auf sie zu. Vorsichtig und ohne weiter darüber nachzudenken legte ich meine Stirn an ihre, so wie wir es früher immer gemacht hatten. Ihre Haare kitzelten mich sanft an der Stirn und ich stellte fest, wie sehr ich das vermisst hatte.

„Du bist echt die allerbeste...", fing ich an, obwohl ich mir ziemlich sicher war, dass sie nicht mal verstand was ich sagte: „Das ich dich so lange im Stich gelassen habe, tut mir echt unglaublich leid. Ich hoffe, die kannst mir verzeihen."

Ein paar Sekunden herrschte Stille zwischen und, bis Feder leise Wieherte. Mir war bewusst, dass sie mich nicht verstanden haben konnte, aber dass sie mich gestern gerettet hatte und heute Nacht bei mir geblieben war, zeigte, dass sie mir wohl nicht mehr böse war.

Apropos böse, bei diesem Stichwort viel mir Lino wieder ein und damit nicht nur unser Streit und dessen Ausgang, sondern auch, dass ich ihn danach nicht mehr gesehen hatte. Weil ich nicht nach Hause gekommen war, jedenfalls nicht direkt.

Tief in mir drin meldete sich mein Schuldbewusstsein und sagte mir, dass ich jetzt ganz dringend zurückgehen sollte und auch wenn ich mich davor sträubte, wusste ich, dass es stimmte.

„Feder", noch immer lehnten wir Stirn an Stirn und ich sah ihr tief in ihre strahlenden blauen Augen, die ich wie jedes Mal einfach bewundern musste. „Ich glaube ich muss nach Hause, sonst machen sie sich nachher noch Sorgen." Langsam trat ich ein paar Schritte zurück und sah dabei wieder auf den Brief, den ich in meinen Händen hielt.

Sollte ich ihn mitnehmen und in meinem Zimmer verstecken? Ich überlegte einen Moment, stellte dann aber fest, dass es viel zu riskant wäre, falls ihn jemand finden würde. Nein, so sehr ich es auch wollte, ich konnte ihn nicht mitnehmen.

Ein letztes Mal fuhr ich mit meinem Finger noch die Schriftzüge der Namen meiner Eltern nach, bevor ich begann, das Papier an seinen Knicken ganz vorsichtig wieder zusammenzufalten.

Für einen kurzen Moment überlegte ich noch, wo ich es wieder verstecken sollte, bevor ich mich einfach für seinen alten Platz in dem Schlitz der beiden Bretter entschied. Es erschien mir irgendwie sicher, denn bis jetzt hatte es ja scheinbar auch noch keiner gefunden.

Nur ich würde wissen, wo es war und es jederzeit wiederfinden können, wenn ich es brauchen würde, niemand sonst. Irgendwie war dieser Gedanke ziemlich beruhigend.

Während ich den gefalteten Zettel wieder an seinen ursprünglichen Platz schob, spürte ich Feders Blick die ganze Zeit über auf meinem Rücken und drehte mich zu ihr um, nachdem ich mein Werk vollendet hatte.

„Ich komme wieder, ganz bald sogar, ich verspreche es dir."

Einen Moment standen wir uns einfach nur gegenüber, bevor ich ihr noch einmal um den Hals fiel und: „Ich habe dich vermisst, danke für alles!", in ihre Mähne nuschelte.

Schließlich löste ich mich wenn auch eher wiederstrebend von Feder und ging an ihr vorbei aus ihrem kleinen Unterstand. Als ich draußen war, hörte ich sie noch einmal Schnauben, fast so als wollte auch sie sich verabschieden.

„Bis später!", rief ich noch über meine Schulter, dann entfernte ich mich immer weiter, von ihr, dem Stall und dem Brief meiner Eltern, den ich jetzt aber, wenn auch eher erfolgslos versuchte aus meinen Gedanken zu verdrängen.

Denn nun musste ich mich auf wichtigeres Konzentrieren. Wie sollte ich Lino und seinen Eltern erklären, wo ich die ganze Nacht gewesen war?

Erst als ich an dem großen Apfelbaum vorbeikam, bemerkte ich, wie groß mein Hunger inzwischen war und konnte mich gerade noch beherrschen um nicht einen der noch nicht reifen Äpfel vom Baum zu flücken. Nicht, weil sie in ihrem jetzigen Zustand noch nicht schmecken würden, sondern weil Lino sonst durch den Apfel, den ich auf dem Weg nach Hause gewiss noch nicht hätte aufgegessen können eventuell hätte Rückschlüsse ziehen können, wo – oder besser bei wem – ich die ganze Nacht gewesen war.

Doch das durfte definitiv nicht passieren, denn würden sie wissen, dass ich bei Feder gewesen war, würden sie mich vielleicht nicht mehr zu ihr lassen und das konnte ich einfach nicht riskieren.

Den Zaun von Feders Weide überwand ich immer noch tief in Gedanken versunken und auch auf dem ganzen Weg nach Hause versuchte ich fieberhaft eine gute Ausrede zu finden, doch viel zu schnell kam das alte Fachwerkhaus in mein Blickfeld und ich hatte noch immer keinen blassen Schimmer.

Aber was jetzt? Sollte ich hier draußen warten, bis mir etwas Vernünftiges eingefallen war? Einen Moment lang wiegte ich diesen sehr verlockend klingenden Gedanken ab, doch verwarf ihn dann wieder, denn er wäre viel zu riskant.

Wenn einer von ihnen mich hier draußen abwartend stehen sehen würde, würde das nur noch, noch mehr Fragen aufwerfen und auch wenn ich es aufs dringlichste vermeiden wollte, wusste ich, dass ich mit ihnen sowieso früher oder später mit ihnen über gestern Nacht würde reden müssen.

Warum also nicht jetzt gleich? Bevor mein Schuldbewusstsein und der Drang einfach wieder Wegzulaufen um vor dem Gespräch mitsamt meiner Erklärung fliehen zu können immer größer wurde.

Ich atmete einmal tief durch und straffte meine Schultern, bevor ich hinter einem kleinen Busch hervortrat, hinter dem ich mich unbewusst versteckt hatte, den Schotter von unserem Vorhof überquerte und mehr oder weniger Entschlossen die fünf Stufen zu der großen, doppelflügeligen Eingangstür hinauftrat.

Leise stieß ich sie auf, denn auch wenn ich nicht so recht wusste wieso, wollte ich nicht gehört werden, zumindest jetzt noch nicht und zog für einen kurzen Moment sogar in Erwägung, sofort hinauf in mein Zimmer zu schießen und mich dort wortlos wie sonst auch immer einzuschließen. Wenige Momente später, musste ich jedoch schon wieder über mein unreifes Verhalten den Kopf schütteln und ging, nachdem ich mir meine Schuhe ausgezogen hatte weiter den langen Flur hinab.

Kurz vor der Küche, deren Tür anders als sonst nicht zu, sondern nur angelehnt war blieb ich einen Moment stehen und lauschte.

Tatsächlich, ich hörte ihre Stimmen, allerdings nur so leise und undeutlich, dass ich mir fast sicher war, dass sie im Nebenzimmer, dem Esszimmer waren, dass durch eine Tür direkt mit der Küche verbunden war.

Vorsichtig stieß ich also diese auf und betete im Stillen, dass sie dabei nicht quietschen würde, was sie dieses Mal zum Glück auch wirklich nicht tat. Kurz zögerte ich noch, doch dann beugte ich mich leicht vor und sah in den, durch die großen Fenster an der gegenüberliegenden Seite des Raumes hellen und freundlich wirkenden Raum, der zum Glück wirklich lehr war.

Ohne weiter darüber nachzudenken, betrat ich ihn und ging leise auf die sich an der rechten Seite befindende, heute offenstehende Tür zu, die unsere Küchenzeile, die sich an zwei Wänden erstreckte in zwei Teile teilte.

Mit jedem meiner kleinen Schritte, wurden ihre Worte deutlicher: „...vielleicht sollten wir ... Polizei holen...", das war eindeutig die Stimme von Linos Mutter gewesen, die heute sehr besorgt klang.

Neugierig trat ich noch ein paar Schritte näher.

„Ach Schatz... hast ja recht... aber vielleicht brauchte Charlotte auch nur ein bisschen Zeit für sich...", das war Linos Vater gewesen.

Ich trat noch ein paar Schritte näher, sodass ich jetzt direkt hinter der Tür stand. Sollte ich es wagen? Ich musste einfach. Vorsichtig lugte ich um den Türrahmen herum und sah als allererstes Marcellino, der an einer der drei breiten Fensterbänke lehnte, die die drei ebenso langen wie großen Fenster zierten, die auch unserem Esszimmer ein so freundlich wirkendes Flair gaben.

Mit einem Mal erinnerte ich mich wieder an unseren Streit gestern und Wut keimte in mir auf, als ich mir über meine linke Wange fuhr.

Doch dann sah ich ihn mir noch einmal an, genauer. Erst jetzt bemerkte ich die Tasse dampfenden Kaffes auf der der Spruch: „Du musst dir schon selbst das Konfetti in dein Leben pusten", stand und die eindeutig mir gehörte, aber auch die tiefen Ringe unter seinen Augen.

Er sah aus, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen und auch jetzt, als er auf den massiven Holztisch starrte, doch bestimmt an etwas anderes dachte, sah Lino gar nicht glücklich aus.

Was hatte er nur? Erst Sekunden später setzte bei mir die Erkenntnis ein: Marcellino hatte ein schlechtes Gewissen, mir gegenüber, wegen dem Streit gestern. Kurz war er davor mir leid zu tun, doch dann besann ich mich wieder darauf, dass er es nachdem, was er mir zum Schluss im wahrsten Sinne des Wortes an dem Kopf gedonnert hatte verdiente, sich Sorgen zu machen.

Ich hatte ihn wohl zu lange angeschaut, denn auf einmal drehte er seinen Kopf zu mir und sah direkt in meine Augen.

Augenblicklich hielt ich den Atem an und wollte mich erst wieder hinter der Tür verstecken, aber dann wurde mir bewusst, dass es sowieso zu spät war und er mich ohnehin gesehen hatte.

Noch einmal straffte ich meine Schultern und nahm all meinen Mut zusammen – der im Augenblick nicht besonders groß war- bevor ich aus meinem Versteck hervortrat.

Erst wusste ich nicht was ich sagen sollte, weshalb ich nichts Besseres hervorbrachte als ein Einfaches „Hallo".

Sofort hörten Linos Eltern auf zu diskutieren und drehten sich zu mir herum. Mein Blick viel auf ihre ebenfalls dunkel umrundeten Augen, die jetzt jedoch vor Freude strahlten und die Besorgnis, die sie die letzten Stunden überschattet haben musste langsam vertrieb.

Was jetzt? Da es mir am sichersten schien, redete ich gleich darauf los um mich nicht von ihren besorgten Fragen durchlöchern lassen zu müssen, auf die ich ohnehin keine Antwort hätte.

Von vornerein war mir klar gewesen, dass ich Feder aus dem Spiel lassen würde, doch Marcellinos besorgter Blick, der inzwischen nur noch sein schlechtes Gewissen widerspiegelte, zeigte mir, dass er echt keinen blassen Schimmer gehabt hatte, wo ich war.

Zwar war er die Person gewesen, die ihren Verkauf schließlich verhindert hatte, doch nach allem was passiert war, musste er denken, dass ich noch immer panische Angst vor ihr hatte und ihr nicht begegnen wollte. Das war jedoch auch gut so, denn inzwischen war ich mir sicher, dass er dafür gesorgt hätte, dass Feder und ich uns begegnen würden, wenn er es gewollt hätte.

Absolut keiner durfte also jemals davon erfahren, wie viel mich noch immer mit Feder verband.

„Ich hoffe, ihr habt euch nicht zu viele Sorgen gemacht."

Allgemeines Schweigen war die Antwort und mir wurde bewusst, dass das wohl der blödeste Satz war, mit dem ich jemals hätte beginnen können.

„Ich weiß, dass das nicht in Ordnung von mir war...", setzte ich also erneut an: „... aber ihr müsst auch verstehen, dass das ganze in letzter Zeit nicht alles so leicht war für mich."

Die ganze Zeit über spürte ich Linos Blick auf meinem Rücken und die Frage, die ich mir tief in meinem Inneren die ganze Zeit stellte, seit ich ihn so zusammengesunken am Fensterbrett gelehnt gesehen hatte, beantwortete sich von mir alleine: Nein, er hatte seinen Eltern gestern nichts von dem Streit von uns beiden erzählt und auch nicht von seinem Ende.

Also hatten sie gar keine Idee, warum ich gestern Abend nicht nach Hause gekommen war.

Obwohl ich Marcellino nur zu gerne verraten hatte, einfach weil es ihm so recht geschehen würde, hinderte mich etwas daran. Denn wenn ich das jetzt tun würde, wäre das Band unserer jahrelangen, tiefen Freundschaft endgültig zerstört.

„Manchmal wird mir das alles einfach zu viel... dann komme ich mit meinen Gedanken einfach nicht mehr weiter und weiß, dass ich eine Abwechslung brauchen würde. Gestern dachte ich, es wäre eine gute Idee, ein bisschen im Wald spazieren zu gehen. Weil ich schon so lange nicht mehr draußen war und ich früher doch so gerne Zeit in ihm verbracht habe..."

Für eine Sekunde spielte ich mit dem Gedanken, die Wahrheit zu erzählen, doch ich konnte einfach nicht, sodass ich anders fortfuhr: „Es hat mir auch echt gutgetan, unter dem Schatten der Bäume den Trampelpfaden zu folgen, so wie ich es früher immer gemacht habe. Aber dann sah ich den einen großen Baumstamm, von dem Baum der schon umgekippt ist, bevor ich ihn das erste Mal gesehen habe, der Ort an dem ich mit meinen Eltern früher immer gepicknickt habe. Auf einmal wurde mir alles zu viel und ich wollte nur noch weg. Hals über Kopf bin ich also einem Trampelpfad folgend davongestürzt. Irgendwann konnte ich nicht mehr und ließ mich an dem Wegrand nieder. Es war schon dunkel und ich brauchte Zeit um meine Gedanken zu sortieren. Doch ich war so erschöpft, dass ich dabei einschlief und erst als es schon wieder hell wurde aufwachte. Es tut mir leid, ich weiß das war nicht richtig, aber ich habe diese Zeit für mich einfach mal gebraucht."

Stille herrschte, als ich aufhörte zu sprechen und ich spürte wie alle drei mich mehr oder weniger verblüfft anstarrten. Lino, aus Dankbarkeit, dass ich ihn nicht verraten hatte und seine Eltern, weil ich ohne dazu aufgefordert worden war, so viel gesprochen hatte.

Erst jetzt wurde mir bewusst, wie wenig ich in der letzten Zeit gesagt haben musste und wie sehr ich mich in mir selber zurückgezogen hatte. Genau wusste ich jetzt zwar auch nicht, warum ich diesen Bann auf einmal gebrochen hatte, doch es war einfach alles aus mir herausgeplatzt.

Noch immer herrschte schweigen.

„Also es tut mir echt leid.", beteuerte ich noch mal und die drei nickten um mir zu zeigen, dass sie mir verzeihen würden. Einen Moment blieb ich mit meinem Blick an den vollen, und Brustlangen dunkelbraunen Haaren von Linos Mutter hängen, die ich schon mein ganzes Leben lang bewundert hatte.

„Ich würde dann jetzt mal in mein Zimmer gehen.", sagte ich und verließ das Esszimmer ohne eine Antwort abzuwarten. Als ich den Flur entlang und die alte Holztreppe hinaufging, fühlte es sich an als ob eine Zentnerschwere Last von mir abgefallen war. Nicht, weil das Gespräch so schlimm gewesen war, sondern weil anscheinend wirklich keiner bemerkt hatte, dass ich nicht im Wald, sondern bei Feder übernachtet hatte.

Erst als ich die Tür zu meinem Zimmer aufstieß und mein Blick auf mein breites Bett viel, dass ich nach dem Tod von meinen Eltern von Linos Eltern geschenkt bekommen hatte, weil ich mir schon so lange ein Doppelbett gewünscht hatte, in dem ich alleine schlafen konnte, bemerkte ich wie müde ich noch immer war. Doch als ich es bekam, hätte ich alles dafür gegeben um es umtauschen zu können, hätte ich dafür meine Eltern wiederbekommen.

Leise schloss ich die massive, alte Holztür, deren eiserne Klinke ich so sehr mochte und ging hinüber zu meinem Bett.

Ich hatte schon die Arme ausgebreitet, um mich auf die weiche Matratze fallen lassen zu können, als mein Blick zu dem großen Spiegel viel, der links von mir in der Ecke meines Zimmers stand.

Es dauerte einige Sekunden, bis ich mein Spiegelbild wiedererkannte. Meine Jeans war bis zu meinen Knien an beiden Hosenbeinen total matschverkrustet, was daran liegen musste, dass ich gestern in die Pfütze auf Feders Weide gesprungen war und auch sonst war sie und mein fliederfarbenes Top, dass ich eigentlich sehr mochte mit Matschsprenkeln überseht. An meinem rechten Hosenbein hatte ich ein Loch am Knie, dass von meinem Zusammenstoß mit Lino stammen musste und dass ich zuvor noch gar nicht bemerkt hatte. Langsam ließ ich meinen Blick nach oben schweifen und hielt die Luft an als ich die Haare meines Spiegelbildes genauer in Betracht nahm. Obwohl, eigentlich gab es da nicht viel zu betrachten: Sie waren verfilzt und ein einziger Knoten, zudem waren sie nicht einmal mehr wirklich blond, sondern von all der Erde eher braun-grau.

Ohne mich noch weiter zu spiegeln, wandte ich mich von dem großen, runden und mit Blumen und Blumenranken aus Metall verziertem Spiegel ab und ging zum Bett.

Als ich mich wie ursprünglich geplant tatsächlich mit ausgestreckten Armen auf mein Bett fallen ließ, obwohl ich wusste, wie dreckig es später sein würde, spürte ich etwas was ich schon viel zu lange nicht mehr in mir gespürt hatte: einen Hauch von Fröhlichkeit.

Bevor ich meine Augen schloss und sofort in den erholsamsten Schlaf viel den ich seit mehreren Monaten gehabt hatte, stahl sich etwas auf meine Lippen, was ich schon sehr lange Zeit vermisst hatte: ein leichtes Schmunzeln.

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