5. Kapitel
Wie konnte ich nur?
Tränen verschwammen wieder meine Sicht, doch ich war zu schwach um sie beiseite zu blinzeln.
Wie konnte ich nur dem Lebewesen vertrauen das meine Eltern vor einem Jahr umgebracht hatte? Wie hatte ich die ganze Zeit unterbewusst immer an sie denken können, wie hatte ich sie vermissen können? Und wie, wie hatte ich ihr, als ich sie wiedergesehen hatte nach allem trotzdem wieder vertrauen können?
Nein, dafür gab es keine Rechtfertigung.
Feder war für mich immer wie eine Seelenverwandte gewesen, wir hatten von Anfang an zueinander gepasst und uns verstanden und sie war immer vom ganzen Herz lieb gewesen, doch was geschehen war, konnte man unweigerlich nicht leugnen. Hätte ich mir damals nicht ein Pferd gewünscht, hätten wir Feder nicht bekommen und meine Eltern würden noch Leben. Zudem, war ich es gewesen die an jenem Tag...
Der Gedanke war viel zu schmerzhaft um ihn zu Ende zu denken und erst jetzt bemerkte ich, wie sehr ich zitterte.
Die ganze Ruhe, die mich noch vor wenigen Minuten umgeben und mir die Hoffnung gegeben hatte, dass alles wieder gut werden würde, war schon lange verschwunden und hatte anstatt ihrer wohligen Wärme nur Eiseskälte hinterlassen.
Noch immer spürte ich Feders sanften Blick auf mir, doch ich hielt meinen Kopf gesenkt, denn würde ich ihr wieder in die Augen sehen, würde ich ihr wieder vertrauen, auch wenn ich es nicht wollte und das durfte ich einfach nicht.
Ich durfte das hier alles nicht, ich hätte Feder nicht vermissen dürfen, ich hätte sie nicht finden dürfen und vor allem: ich hätte nicht zu ihr zurückkehren dürfen und doch hatte ich es alles getan.
Nein ich musste weg hier, jetzt, sofort. Nicht eine Sekunde länger wollte ich auf einmal noch auf dieser Weide stehen, die für mich bis gerade eben wie ein zweites Zuhause gewesen war ohne sie überhaupt wirklich zu kennen, denn die Gedanken und Schuldgefühle, die sie in mir wachrief waren viel zu schrecklich um sie auch nur einen Liedschlag länger zu ertragen.
Ohne mir Gedanken zu machen wohin ich überhaupt wollte, drehte ich mich um, um rannte los um den Abstand zwischen mir und Feder möglichst schnell zu vergrößern.
Während ich immer weiter auf den Wald zu lief, ungewiss wohin mich der Weg danach führen würde, spürte ich noch immer Feders Blick auf meinem Rücken. Sie war mir nicht nachgaloppiert und ich wusste auch ohne mich umzudrehen, dass sie noch immer an derselben Stelle stand, doch ich spürte durch die Art und Weise mit der sie mich musterte, wie sehr ich sie mit meinem so unerwartetem weglaufen verletzt hatte.
Aber ich konnte nicht anders. Obwohl ich gehofft hatte, dass diese Erinnerungen immer weiter verschwinden würden, je weiter ich mich von Feder trennte, brannten sich all diese schrecklichen Bilder immer tiefer in mein Gedächtnis und ließen mir einen Schauer nach dem anderen durch meinen Körper jagen.
Irgendwann kletterte ich den Weidezaun hinauf und sprang an der anderen Seite wieder hinab und rannte trotzdem immer weiter. Meine Orientierung hatte ich schon lange verloren und der Wald, von dem ich mir sicher gewesen war, ihn im Umkreis von fünf Kilometern in und auswendig zu kennen kam mir auf einmal total fremd vor.
Erst als ich zufällig auf einen kleinen Trampelpfad stieß, wusste ich wieder wo ich mich ungefähr befinden musste. Unsicher blickte ich nach links. Würde ich ihm in diese Richtung folgen, würde ich in etwa zwanzig Minuten an unseren großen Pferdestall ankommen, der aus dieser Richtung hinter dem großem Außenplatz lag und von dem ein kleiner Weg zu dem zentralen Hauptplatz führte. Doch wollte ich da wieder hin?
Nein, ich musste nachdenken und einmal meine Gedanken sortieren, oder es wenigstens versuchen.
Ohne die andere Richtung zu mustern, in die der Pfad führte drehte ich mich um 180 Grad, denn ich wusste sowieso wohin mich dieser Weg bringen würde, auch wenn ich ihm noch nie weiter als bis zur nächsten Kreuzung gefolgt war. Aber er würde mich wegleiten, wegleiten von allem hier, von allem wovon ich im Moment so dringend Abstand brauchte und das genügte mir als Antwort.
Also setzte ich mich in Bewegung und hörte meine Schritte auf dem Waldboden federn als ich immer schneller wurde und versuchte alles hinter mir zu lassen und mich nur auf die Gleichmäßigkeit meines Atmens zu konzentrieren, wie es mir unsere frühere Sportlehrerin für einen Ausdauerlauf in der siebten Klasse einst beigebracht hatte.
Langsam versuchte ich alles noch einmal durchzugehen, was ich in den letzten beiden Tagen erlebt hatte und die tausend Fragen, die sich daraus ergaben sinnvoll in der Reinfolge ihrer Wichtigkeit zu sortieren.
So bemerkte ich jedoch nicht, wie ich der Kreuzung immer näherkam und blickte nicht den von hier abgehendem Pfad hinab, den ich bei schönem Wetter früher immer mit Feder eingeschlagen hatte, wenn wir zusammen ausgeritten waren.
Plötzlich prallte jedoch etwas – oder bessergesagt jemand - von der Seite gegen mich und ließ mich mein Gleichgewicht verlieren. Ich schaffte es nicht mehr mich wieder auszubalancieren und fiel unsanft mit meinem rechten Knie auf eine harte Wurzel die genau an dieser Stelle aus dem Waldboden ragte.
Es dauerte ein paar Sekunden bis ich meine Orientierung wiederfand und mein Kopf, der wohl auch auf den Boden aufgeschlagen sein musste zu schmerzen begann. Vorsichtig pustete ich den Dreck von meinen auf geschrappten Handflächen und setzte mich langsam auf.
Eine Hand streckte sich auf einmal zu mir hinunter und zögerlich ergriff ich sie. Da die Sonne mich durch die Blätter hindurch blendete, konnte ich nicht erkennen wem sie gehörte, doch das brauchte ich auch gar nicht.
„Entschuldigung"
„Nein meine Schuld." Inzwischen hatte Lino mich wieder hochgezogen und ich klopfte mir den Staub von meiner langen, an meinen Schienbeinen wegen der Pfütze von vorhin noch immer feuchten Hose.
„Hast du dir wehgetan?", besorgt musterte Lino mich und blieb mit seinem Blick an meinem fliederfarbenem T-Shirt hängen, das wegen der Wasserspritzer aus jener Pfütze von Matschflecken übersät sein musste.
„Äh... nein, alles gut und bei dir?"
Er schüttelte nur den Kopf und lächelte um mir zu signalisieren das ihm nichts passiert und er nicht einmal hingefallen war. Aber dann verdunkelten sich seine strahlenden Augen wieder: „Was machst du hier eigentlich?"
Einen Moment überlegte ich, ob ich mit der Wahrheit rausrücken sollte, doch dann verwarf ich diesen Gedanken wieder. „Es war so schönes Wetter, und da dachte ich, dass ich eine Runde spazieren gehe.", erwiderte ich und war mir sicher, dass das die schlechteste Ausrede aller Zeiten gewesen sein musste.
Marcellino zog nur still seine rechte Augenbraue hoch um mir zu signalisieren, dass er meiner Aussage nicht so recht glauben schenkte, aber er sagte nichts weiter dazu.
„Und du, darf ich fragen was du hier machst?" Schon als ich die Worte aussprach bemerkte ich, wie weit wir uns voneinander entfernt haben mussten. Unsere Unterhaltung klang eher nach einem gegenseitigen Verhör und keiner von uns beiden schien sich sichtlich wohl dabei zu fühlen.
„Ich war wie gesagt mit meinen Freunden in der Stadt, Sophie war übrigens auch dabei und hat gefragt wie es dir geht. Als der Film zu Ende war bin ich früher nach Hause gefahren, da ich eigentlich mit dir hatte reden wollen, doch du warst nicht in deinem Zimmer. Also habe ich beschlossen Joggen zu gehen, da ich das heute sowieso noch machen wollte."
Wir waren uns einst so nah gewesen und redeten jetzt miteinander als wären wir fremde. Was war bloß geschehen? Tief in mir drin wusste ich jedoch die Antwort: ich war geschehen. Durch mein ständiges Abweisen oder ignorieren hatte ich unsere Freundschaft endgültig zerstört, und dass ich ihn hier so offensichtlich anlog machte die Sache nicht besser.
Aber er hatte mich doch auch angelogen, oder nicht? Lino hatte vor mir doch auch geheim gehalten, das Feder noch immer hier lebte, die ganze Zeit. Ich konnte mich nicht länger zurückhalten, denn ich musste endlich die Antwort auf die Frage bekommen, die ich mit Abstand als am wichtigsten eingestuft hatte.
„Warum...", meine Stimme brach und ich versuchte es noch mal: „Warum ist Feder eigentlich noch hier?"
An Linos nur für wenige Sekunden geschocktem Gesichtsausdruck, erkannte ich, wie wenig er mit dieser Frage gerechnet und wie sehr ich ihn damit getroffen hatte.
Stille senkte sich über uns und für ein paar Augenblicke hörte ich nur das Zwitschern der Vögel in den Bäumen über uns das so allgegenwärtig war, dass ich es kaum noch wahrnahm.
„Du verstehst das nicht..."
Ungläubig sah ich ihn an: „Dann erklär es mir doch!"
Es fiel mir so unglaublich schwer seinem Blick standzuhalten, doch ich wollte die Wahrheit erfahren und würde ich zu Boden blicken wäre das ein Zeichen für Marcellino, dass er stärker wäre als ich. Doch das war er nicht, nicht jetzt zumindest.
„Ok...", er holte noch einmal tief Luft bevor er zu sprechen begann: „Aber bitte verurteile mich nicht für das was ich getan habe, weil du es nicht verstehen wirst, wenn du nicht alles weißt. Versprich mir also, dass du dir alles anhören wirst, bevor du dir ein Urteil erlaubst, ja..."
Mittlerweile war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich überhaupt noch den Grund dafür wissen wollte, dass Feder die ganze Zeit über hiergeblieben war, doch als ich bemerkte wie Lino mich noch immer abwartend anschaute, nickte ich schließlich, obwohl ich mir nicht sicher war, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Vorsichtig massierte ich meine Stirn um die Kopfschmerzen von dem Sturz zu beruhigen als Lino erneut zu sprechen begann: „Ich weiß, ich habe nicht richtig gehandelt, doch ich weiß auch, dass es das Beste für dich gewesen ist."
Er sah sich noch einmal um und es wirkte fast als wollte er prüfen ob wir auch wirklich ganz alleine waren: „Ok, wo soll ich anfangen? Mir ist bewusst, dass ich dich nicht hätte in dem Glauben lassen sollen, dass Feder verkauft worden wäre, doch nach... nach dem Tod deiner Eltern wolltest du auf einmal gar nichts mehr von ihr wissen. Bitte versteh mich nicht falsch, ich verstehe dich nur zu gut, doch es hat mir einfach das Herz gebrochen. Seit dem Tag an dem Feder auf unseren Hof kam, wart ihr immer zusammen, ihr wart immer eine Einheit und glaub mir ich habe nur selten ein Team gesehen das so gut miteinander harmoniert hat. Feder hat dir nicht nur gehorcht, sie hat alles freiwillig getan, sie wollte es tun, für dich, weil es ihr Spaß gemacht hat. Jedes Mal, wenn ich euch reiten gesehen hab war es wie pure Magie. Weil du es geschafft hast, dich nicht über sie zu ordnen. Nein, ihr wart Gleichberechtigt, ein echtes Team eben, Freunde, ja beste Freunde."
Erst als ich die Worte innerlich noch einmal wiederholte verstand ich wirklich was sie bedeuteten und versuchte mich zurückzuerinnern. Jeden Tag, jede freie Minute, ja jede freie Sekunde hatte ich früher bei ihr verbracht. Wir waren wirklich ein nahezu perfektes Team gewesen, aber auch noch so viel mehr. Sie war ein Teil meiner Familie für mich gewesen und von der Familie konnte man sich nicht einfach so trennen. Deshalb hatte ich sie auch immer so vermisst. Doch sie hatte einen großen Fehler gemacht, den wirkliche Familienmitglieder niemals getan hätten: sie war für den Tod meiner Eltern verantwortlich. Und dieser Fehler war zu groß um ihn einfach verzeihen zu können, auch wenn ich es unterbewusst nur zu gerne wollte.
„Ich weiß, sie ist verantwortlich für jenen Unfall und ich kann auch verstehen, wenn du sie nie wiedersehen willst. Aber an dem Tag, als sie verkauft werden sollte, das konnte ich einfach nicht, all das nur still mit anzusehen und nur leise daneben zu stehen, während du vielleicht den größten Fehler deines Lebens gemacht hast. Also... Also bin ich hinterhergefahren, zu der Adresse die Feders neue Familie angegeben hatte und habe es geschafft sie zurückzukaufen. Du kannst dir nicht vorstellen wie begeistert meine Eltern waren, doch sie brachten Feder nicht wieder zurück..."
„Und wieso, wieso habt ihr mir all die Monate über nicht gesagt, dass sie hier ist?", noch immer konnte ich nicht fassen, dass er meine damals gut überlegte Entscheidung als riesengroßen Fehler ansah, auch wenn ich wusste, was er damit eigentlich meinte: Feder und ich gehörten zusammen, doch nein, das ging einfach nicht mehr!
„Weil wir gemeinsam entschlossen hatten, dass es das Beste für dich sein wird."
„Das beste für mich? Sagt das für mich in diesem Satz nicht schon, dass es darüber handelt wie es mir dann damit geht? Und sollte ich dann nicht vielleicht bei solchen Entscheidungen mit eingebunden werden?!"
„Ich weiß, ich weiß. Aber du warst die ersten Monate nach dem Tod deiner Eltern gar nicht wirklich ansprechbar. Du hast dich in dir selbst zurückgezogen und niemand kam an dich ran."
Mir fielen die vielen Stunden bei den verschiedensten Therapeuten wieder ein, die ich bis eben zum Glück schon wieder verdrängt gehabt hatte. Doch kein Wort hatte ich gesprochen. Kein Wort, egal wer und wie oft sie es versuchten hatten sie aus mir hinausbekommen, sodass eine Therapie zur Verarbeitung und Endtraumatisierung dann relativ schnell wieder vom Tisch gewesen war.
„Du kannst es wahrscheinlich nicht nachvollziehen, doch ich hatte Angst. Angst um dich, verdammt Charlotte! Angst dich zu verlieren, endgültig. Wir haben also beschlossen dir davon nicht zu berichten, da ich Angst hatte, es hätte deinen Zustand noch weiter verschlechtern können."
„Und jetzt? Verschlechtert es meinen Zustand nicht noch viel mehr, weil du mir eben nichts gesagt hast? Weil du es mir jetzt sagst oder weil du mich ein Jahr lang angelogen hast und davon kein einziges Wort über deine Lippen kam? Entschuldigung Lino, aber das hatte ich nicht von dir erwartet. Entschuldigung, dass ich wirklich geglaubt hatte es gäbe auch nur eine Person auf dieser Welt, die ehrlich zu mir wäre, denn es scheint ja scheinbar eine zu große Erwartung an dich gewesen zu sein!"
„Eben, ein Jahr. Seit einem Jahr bin ich immer für dich da. Seit einem Jahr sehe ich dich tagtäglich leiden und habe Angst dich zu verlieren. Entschuldigung, dass ich dir nicht die Wahrheit gesagt habe, aber ich wollte dich nicht noch tiefer verletzten. Ich möchte dir helfen. Ich habe es versucht, habe alles gegeben was ich konnte, doch nichts hat gewirkt. Wenn jemand für dich da sein soll, dann musst du ihn auch an dich ranlassen. Wie viele Mauern möchtest du eigentlich noch um dich herum errichten und mit meterdickem Stacheldraht absichern? Sag mir doch bitte wie ich dir helfen kann und egal wie, ich verspreche ich werde es tun. Doch dann erklär mir bitte, wieso du so leidest, zeig mir endlich mal wieder wer du wirklich bist, denn so wie du gerade handelst und lebst, das bist du definitiv nicht selbst."
„Weil du ja auch das Urteilvermögen hast, mir zu sagen wer ich wirklich bin und wer nicht. Weißt du wie es ist seine Eltern zu verlieren? Weißt du wie es ist, sich tagtäglich die Schuld zu geben? Weißt du wie schlimm es ist, direkt daneben gestanden zu haben, alles gegeben zu haben, doch anscheinend wohl nicht genug? Dieses Pferd hat meine Eltern getötet und wenn ich auch nur an es denke, verhalte ich mich ihnen gegenüber nicht gerecht. Ich hatte meine Gründe Feder zu verkaufen!"
Die ganze Zeit über hatte ich nur auf den Boden geblickt, doch als ich nach oben sah, sah ich durch meinen Tränenschleier Linos geröteten Augen und realisierte erst Sekunden später, wie nah auch ihm unser Gespräch zu gehen schien.
„Nein ich weiß es nicht und ich traue mich nicht einmal zu sagen, wie schlimm das für dich sein muss und dass ich mir vorstellen kann wie du dich fühlen musst, denn das kann ich nicht. Aber ich möchte dir doch nur helfen. Immer für dich da sein. Doch sag mir wie, wenn du dich mir kein Stück öffnest! Ach Lotte verdammt...", seine Stimme brach und er senkte seinen Blick zu Boden doch trotzdem sah ich die Träne, die still und heimlich seine Wange hinabrann.
Für einen Moment überlegt ich wirklich ihm alles zu erzählen, doch irgendetwas schien mich daran zu hindern.
„Ich kann einfach nicht mehr. Die ganze Zeit habe ich alles für dich gegeben. Alles was ich die ganze Zeit wollte war immer für dich da zu sein und dir zu helfen..."
„Helfen?", fiel ich ihm dazwischen: „Wie hast du mir damit geholfen, Feders Aufenthalt hier ein ganzes Jahr vor mir geheim zu halten? Ich sag es dir: gar nicht!"
Sofort nachdem ich diese Worte ausgesprochen hatte, wusste ich, dass ich dieses Mal zu weit gegangen war. Marcellinos Gesichtszüge verhärteten sich und erst jetzt wurde mir bewusst, wie sehr ich ihn jetzt getroffen und all die Monate davor gesorgt haben musste.
Wie in Zeitlupe sah ich, wie er mit seinem rechten Arm ausholte, aber konnte erst viel zu spät glauben, was er gerade machte auch wenn ich mich noch immer dagegen wehrte, realisieren zu wollen, was gerade geschah. Ohne es fassen zu können blieb ich einfach nur still stehen und wich nicht einmal aus als seine Hand mit vollem Schwung meine Wange traf.
Als Sekunden später der Schmerz einsetzte, setzte auch die Erkenntnis ein, was Lino gerade getan hatte, auch wenn ich es noch immer nicht wahrhaben wollte.
Noch immer stand ich ganz still da und rührte mich nicht. Alles um uns herum war verstummt und selbst die Vögel hatten aufgehört zu zwitschern, doch es war keine angenehme Stille.
Ich blickte hoch, in Linos Augen, die vor Schreck noch ganz geweitet waren und erkannte seine Reue darin mich geschlagen zu haben.
Dennoch setzte er zu einem Satz an: „Nicht einmal in dieser ganzen Zeit, hast du mich gefragt wie es mir ging und wahrscheinlich hast du auch nicht einmal an mich gedacht. Nur damit du es weißt: du hast dich verändert Charlotte, auch wenn es mir ein Rätzel ist, wie man sich nur so sehr ändern kann... und noch was, ich vermisse dich, so wie du früher warst, denn, dass hier, die Person die tagtäglich in Selbstmitleid versinkt, dass bist definitiv nicht du!"
Ohne auch nur einmal zu blinzeln blickte ich in seine wunderschönen grün-braunen Augen, in denen ich mich jedes Mal verlor und die Zeit schien für wenige Sekunden still zu stehen, um mich endgültig begreifen zu lassen was geschehen war, bevor Marcellino seinen Blick wieder abwandte und schuldbewusst und traurig auf den Boden sah.
Mit einem Ruck wischte ich mir meine Tränen weg und sammelte noch einmal meine Kraft: „Ich dachte wirklich, dass es einen Menschen auf dieser Erde gäbe, der einmal ehrlich zu mir wäre, doch anscheinend habe ich mich einfach nur getäuscht. Doch trotz allem...", meine Stimme brach und das ärgerte mich in diesem Moment so unglaublich darüber, aber trotzdem setzte ich zum neuen über: „... aber trotzdem dachte ich das wir noch Freunde wären..."
Lino sah noch immer auf den Boden und ich wollte mich schon fast abwenden, da er so lange geschwiegen hatte, bevor er seinen Kopf hob: „Diese Hoffnung habe ich schon seit langem aufgegeben, Charlotte!"
Marcellino sagte es nicht mit Vorwurf, er war nicht einmal wütend dabei, er schrie mich nicht an oder machte mich dafür verantwortlich, er war einfach nur enttäuscht und das tat am allermeisten weh.
Eigentlich hatte ich ihm hinterherrufen wollen, als er sich langsam umdrehte, wegging und nach ein paar Metern wieder anfing zu Joggen, doch ich blieb ganz still. Was hätte ich ihm denn hinterherrufen sollen? Das es mir leidtat? Aber sollte es ihm nicht leidtun, sollte Lino sich nicht wenigstens entschuldigen, für die Ohrfeige? Doch er tat es nicht und das zeigte mir, dass ich ihm wirklich nichts mehr zu bedeuten schien.
Ich wusste nicht wie lange ich noch hier auf der kleinen Kreuzung mitten unter den Bäumen stand und Marcellino hinterherblickte, obwohl er schon lange verschwunden war.
Schließlich drehte auch ich mich um, denn nach Hause zu gehen war jetzt definitiv keine Option mehr. Wütend trat ich gegen einen kleinen Zweig der auf dem Trampelpfad lag und sah mit genugtun dabei zu, wie er einige Meter weiter in einen kleinen Busch flog.
Doch nicht mal einen Wimpernschlag später sprang ein kleiner, irritiert und ängstlich aussehender Hase aus dem grünen Busch und zuckte verwirrt mit seiner Nase in dem er sich anscheinend versteckt hatte und es tat mir schon wieder leid, ihn unbeabsichtigt erschreckt zu haben.
Nein, ich musste meine Wut irgendwo anders auslassen. Ohne dass ich es so recht bemerkt hatte, hatte ich begonnen zu laufen und nahm an den immer schneller dicht an mir vorbeiziehenden Büschen und Sträuchern war, dass ich meine Schritte immer beschleunigte.
Je schneller ich wurde, desto kleiner wurde der riesige Klumpen nicht sortierbarer, eng miteinander verwobener Gefühle in mir, der mich daran hinderte auch nur einen klaren Gedanken fassen zu können.
Schon lange hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren und konnte nicht einmal mehr sagen, ob ich nur seit Minuten oder schon seit mehreren Stunden rannte, doch noch immer ignorierte ich die Seitenstiche, die mir wie mit einer spitzen Nadel bei jeder Erschütterung in die Seiten stachen und wischte mir immer wieder meine inzwischen total vom Schweiß durchnässten Haare von der Stirn.
Erst als der Himmel immer dunkler wurde hielt ich inne und sah mich zum ersten Mal richtig um. Keuchend drehte ich mich einmal um mich selber, auf der Suche nach einem Anhaltspunkt, den ich wiedererkannte und der mir verriet wo ich mich befand.
Doch auch wenn alles vertraut wirkte, war es mir mit Sicherheit fremd. Es war vertraut, da ich unzählige Stunden in diesem Wald verbracht hatte, doch dieser Ort war mir fremd, denn ich hatte ihn nie gesehen.
Erst jetzt bemerkte ich wie sehr meine Beine vor Erschöpfung zitterten und wehrte mich nicht als sie wegsackten und ich auf den Boden viel.
Wo war ich? Ich wusste es nicht. Schon vor Stunden musste der Trampelpfad im nichts geendet haben und ich war trotzdem immer weiter gerannt, immer weiter geradeaus und hatte versucht allem immer weiter zu entfliehen.
Aber wo war ich jetzt? Mit Sicherheit war ich weit weg von allem, so wie ich es auch beabsichtigt hatte, doch wo? Spielte das jedoch überhaupt noch eine Rolle?
Ich ließ mich nach hinten in das Gras fallen und spürte die Kühle der einzelnen Halme sanft an meinem Rücken. Nun konnte ich meine Tränen doch nicht länger zurückhalten.
Auch wenn ich es nicht so recht zugeben wollte, Lino hatte mich mit seiner Ohrfeige vorhin ziemlich verletzt. Damit meinte ich nicht das brennen auf meiner Wange, dass noch immer nicht ganz verblasst war, wenn ich sie sanft berührte, sondern die Geste die dahintersteckte. Mit ihr und seinen Worten hatte er mir bewiesen wie wenig ich ihm nur noch bedeuten musste und das war das was wirklich schmerzte.
Ja, ich wusste, dass ich mich in dem letzten Jahr nicht sehr nett und fair ihm gegenüber verhalten hatte, doch ich hatte einfach nicht anders gekonnt. Von dem einen Tag auf den anderen war meine gesamte Welt zusammengestürzt und damit war auch mein Lebenswille erloschen. Marcellino hatte mir zwar nur helfen wollen, doch er hätte nicht einfach von mir erwarten dürfen, dass ich dort weitermachen konnte, wo ich aufgehört hatte, denn das konnte ich nicht.
Aber so sehr ich auch versuchte meinen Standpunkt vor mir selber zu verteidigen, tief in mir drin wusste ich, dass auch er recht hatte. Ein ganzes Jahr war er jeden Tag gekommen, obwohl ich ihn immer wieder weggeschickt hatte und trotzdem hatte er mich nicht aufgegeben, bis eben gerade zumindest.
Vielleicht hatte er sogar recht und ich hatte ihn in der ganzen Zeit nicht einmal gefragt wie es ihm ging, doch das war definitiv nicht aus Unfreundlichkeit geschehen, sondern weil ich dachte, dass er der Einzige wäre, bei dem ich meine Fassade nicht aufrechterhalten müsste. Bei dem ich nicht eine Rolle einnehmen und so tun musste, als würde es mir gut gehen, obwohl dem gar nicht so war. Doch anscheinend hatte ich mich geirrt.
Erst jetzt bemerkte ich die Sterne, die an manchen Stellen zwischen den großen und dichten Kronen der Bäume hindurchschienen. Noch nie hatte ich mich wirklich viel mit ihnen beschäftigt, doch schon immer hatte ich ihre Ruhe bewundert die sie ausstrahlten und die es auch dieses Mal schaffte mich wenigstens so weit zu beruhigen, dass meine Tränen wieder versiegten.
Meine Mutter hatte früher immer gesagt, dass man alles schaffen kann, egal wie Aussichtslos es auch scheint, wenn man nur daran glaubt. Und auch wenn es nur ein einfacher Spruch gewesen war, mit ihm hatte ich es immer geschafft, jede noch so schwierige Situation zu lösen oder genug Mut zu haben um etwas schwieriges zu tun.
Auch wenn ich gerade nicht wusste, wo ich mich befand, kannte ich diesen Wald seitdem ich denken konnte und hatte etliche Stunden damit verbracht seinen märchenhaften Pfaden zu folgen. Bestimmt würde ich wieder einen Weg aus ihm herausfinden.
Dies war zwar noch lange keine hundertprozentige Gewissheit, aber dennoch genug um einen Funken Hoffnung in mir aufglühen zu lassen. Er wuchs zu einem kleinen Feuer heran, dass zwar noch von jedem leichten Windhauch hätte ausgeblasen werden können, doch ich nahm mir vor, es gut zu schützen.
Während ich noch immer durch die Bäume nach oben in den Sternenhimmel blickte und seine atemberaubende Schönheit genoss, wurden meine Lieder immer schwerer und zum ersten Mal bemerkte ich wie schrecklich Müde ich war.
Auch wenn ich mich schrecklich allein fühlte, hatte ich dennoch einen Plan und ein winziges bisschen an Hoffnung ihn auch in die Tat umsetzten zu können, um einen Weg zurück zu finden.
Dadurch, dass es tagsüber so warm gewesen war, hatte die Erde diese Wärme gespeichert und gab sie erst jetzt langsam wieder ab, sodass ich nicht fröstelte.
Ich schloss meine Augen und ließ den heutigen Tag jedoch noch einmal Revue passieren, um meine Gedanken wenigstens ein bisschen sortieren zu können und wurde immer müder, als das Knacken eines nicht weit von mir entfernten Astes mich auf einmal wieder aus dem Halbschlaf riss.
Schnell rappelte ich mich auf und blickte in die Richtung, aus der ich das Brechen des Stockes vermutet hatte.
Vor mir befand sich eine kleine Lichtung mit hohem Graß und vielen Blumen, deren Farbe ich aufgrund der Dunkelheit jedoch nicht erkennen konnte.
Das seichte Licht des Mondes beschien die kleine Wiese und es fehlten nur noch ein paar Schmetterlinge, die sanft von Blume zu Blume fliegen würden, um den ganzen etwas zauberhaftes zu verleihen.
Doch inmitten dieser Blumen stand noch etwas ganz anderes, dass ich erst jetzt bemerkte, obwohl das Mondlicht schon die ganze Zeit den Schatten angestrahlt haben musste, der mir nur allzu vertraut vorkam.
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