25. Kapitel
Tatsächlich war es ein heller und wie ich fand äußerst gemeiner Sonnenstrahl, der mich am nächsten Morgen aufweckte und sofort bereute ich es, gestern Abend nicht doch noch die Vorhänge vor mein Fenster gezogen zu haben.
Ich hatte das Gefühl nur wahnsinnig wenig und schlecht geschlafen zu haben und drehte mich soweit, dass mein Gesicht auf dem weichen Kopfkissen lag und es vor meinen geschlossenen Liedern endlich wieder dunkel wurde.
Allerdings lag ich nur ein paar Sekunden so da und überlegte, warum ich noch immer so müde war, wenn ich doch das erste Mal seit langem wieder in meinem eigentlich total gemütlichen Bett geschlafen hatte. Denn dann viel mir auf, dass mein Kopfkissen total nass war.
Mit einem Mal war ich total wach und setzte mich auf, denn mir war der gestrige Abend wieder eingefallen. Kein Wunder das ich mich so elend fühlte: nach der Rückblende hatte ich lange nicht schlafen können und musste mich irgendwann in der Nacht vollkommen fertig in den Schlaf geheult haben.
Auch ohne, dass ich mir über mein Gesicht fuhr wusste ich, dass ich schrecklich aussehen musste, doch als mein Blick in dem großen Spiegel in Zimmerecke schrägrechts vor mir hängen blieb, erstarrte ich trotzdem. Nicht nur meine Haare waren ein einziger Knoten und meine Augen waren ein bisschen gerötet, sondern mein ganzes Gesicht sah total verheult und unnatürlich aus.
Langsam schwang ich meine Beine über die Bettkannte und spürte wenig später die kühlen Holzdielen unter meinen Nackten Füßen. Eine Dusche, ja jetzt brauchte ich definitiv eine kalte Dusche. Nicht nur um mein Aussehen wieder halbwegs in Ordnung zu bringen, sondern auch um wenigstens zu versuchen einen klaren Kopf zu bekommen und den dumpfen Schmerz, der von innen gegen meine Stirn zuschlagen schien zu vertreiben.
Keine fünf Minuten später schlüpfte ich leise aus meinem Zimmer, nur mit einem Handtuch und neuer Kleidung bewaffnet und schlich leise über den Flur bis zu dem Bad ganz an seinem Ende. Ich hatte keine Zeit gehabt um auf die Uhr zu sehen, weshalb ich nun nicht wusste wie spät es war und mich lieber leise verhielt um niemanden zu wecken.
Kaum war die massive Badezimmertür hinter mir ins Schloss gefallen lehnte ich mich an die Tür und ließ meine Sachen vor die große Duschbadewanne fallen, die an der rechten Seite mit ihren metallenen Wasserhähnen an der Wand stand und dem Raum älter wirken ließ als er eigentlich war.
Langsam ließ ich mich an der Tür hinabgleiten und nahm kaum war, dass ich irgendwann auf dem kalten Fliesenboden saß. Wie immer zog ich meine Beine an und umschlang sie mit meinen Armen, so wie ich es auch immer auf Feders Weide tat.
Feder, zu ihr wollte ich jetzt am allerliebsten. Doch zuerst musste ich unweigerlich duschen. Mühsam erhob ich mich also und suchte in meinem Teil des kleinen, kunstvollverschnörkelten Holzschrankes nach dem Shampoo und meiner dazugehörigen Spülung.
Wenig später stand ich in der Duschbadewanne und zuckte kurz zusammen, als die ersten Tropfen des eiskalten Wassers auf meine Haut trafen. Trotzdem drehte ich es nicht wärmer, sondern holte nur noch einmal tief Luft, bevor ich unter den Kalten Wasserstrahl sprang und im ersten Moment das Gefühl hatte zu erfrieren.
Im Nachhinein war ich aber selten so froh über eine kalte Dusche gewesen wie heute und als ich meine frisch gewaschenen Haare in einem Handtuch zu einem Turban wickelte und danach in den Spiegel blickte, sah ich schon viel besser aus als vor zwanzig Minuten. Meine Augen waren zwar noch immer etwas gerötet, doch die getrockneten Tränenspuren auf meinen Wangen waren verschwunden und generell sah mein Spiegelbild nicht mehr so fertig aus wie das vorhin in meinem Zimmer.
Auch meine Kopfschmerzen waren verschwunden und obwohl das ungute Gefühl, das im Laufe der Nacht meiner panischen Angst von gestern gewichen sein musste, noch immer nicht verschwinden wollte, konnte ich um einiges klarer denken.
Nachdem ich einen letzten kritischen Blick in den Spiegel geworfen hatte, bei dem ich meine Augenringe entdeckte, aber einfach ignorierte verließ ich das Bad.
Während ich leise über den Flur ging bemerkte ich Linos einen Spalt weit offenstehende Tür und konnte nicht verhindern einen Blick in sein Zimmer hineinzuwerfen. Doch auch wenn ich nicht wusste warum es mich eigentlich wunderte, stockte ich kurz, als ich es verlassen vorfand.
Er war wohl tatsächlich früher wach geworden als ich und hielt sich jetzt schon beim Frühstück oder draußen bei den Pferden auf. Ich zuckte einmal mit den Schultern bevor ich in meinem Zimmer verschwand und das Handtuch und meine alte Wäsche in meinen schon jetzt vollkommen überfüllten Wäschesack warf.
Danach zog ich mein immer noch tränennasses Bett ab und bezog es mit einem neuen, dieses Mal pinken Bettlaken, dass ich vor Urzeiten mal von Lino zu Ostern geschenkt bekommen hatte und einer dazu passenden Blümchenbettdecke.
Falls Lino in mein Zimmer kommen sollte wollte ich nicht, dass er bemerkte, das ich heute Nacht geweint haben musste, weshalb ich auch das Bettlacken, sowie den Decken- und Kopfkissenbezug schnell in den Wäschesack stopfte, bevor ich mein Zimmer verließ.
Am Fuß der gebogenen Treppe überlegte ich kurz, ob ich nicht erst etwas essen sollte, entschied mich dann aber dagegen, da die Äpfel auf Feders Weide inzwischen auch reif geworden waren.
Nur weil wir in unserem Vorflur ebenfalls einen Spiegel über der Kommode hängen hatten, an der ich mich festhielt, während ich meine Schuhe anzog bemerkte ich, dass ich den Turban aus meinen rosafarbenen Lieblingshandtuch noch immer auf dem Kopf hatte. Schmunzelnd nahm ich es ab und beobachtete, wie mir meine langen, feuchten Haare in Locken bis zu meiner Taille fielen. Wie immer, wenn sie nass waren wirkten sie eher orange-blond und nicht so hellblond wie sonst, doch da ich sie nie föhnte, da sie darunter meiner Meinung nach zu sehr litten, hatte ich mich schon lange an den Anblick gewöhnt.
Ich hatte keine Lust mir die Schuhe noch einmal auszuziehen, nur um das Handtuch nach oben in mein Zimmer zu bringen, sodass ich es einfach auf dem kleinen Schuhschrank liegen ließ, bevor ich durch unsere breite Haustür nach draußen trat.
Augenblicklich hatte ich das Gefühl von der Hitze erschlagen zu werden, die schon die ganzen letzten Tage herrschte.
Während ich die fünf Stufen, die von beiden Seiten zu unserer Haustür führten hinuntersprang, was Lino und ich schon machten seitdem wir denken konnten und wobei ich früher auch schon etliche Male hingefallen war, hoffte ich, dass es bald Regnen würde. Das Graß auf den Weiden war jetzt schon an den Stellen gelb und vertrocknet, an denen die Bäume ihm keinen Schatten spenden konnten und auch die meisten Pferde standen nur noch dösend im Schatten und schienen einfach nur darauf zu warten, dass es wieder kühler werden würde.
Nachdem ich einen Blick auf die Koppeln geworfen hatte, die direkt hinter dem großen Vorplatz lagen und Tipsy und Mo ganz dicht nebeneinanderstehend und sich gegenseitig kraulend im Schatten einer hohen Buche entdeckt hatte, konnte ich ein Lächeln nicht länger unterdrücken.
Was die beiden anging, hatte Lino wohl echt die richtige Entscheidung getroffen, denn sie waren ab der ersten Sekunde ein Herz und eine Seele gewesen.
Anders als sonst schlug ich heute nicht direkt den kleinen Trampelpfad zu Feders Weide ein, sondern ging den breiten Weg zu dem großen Stall hinab. Ich hatte mir überlegt, dass Feder in den letzten Tagen so viel Äpfel gegessen hatte, dass eine Abwechslung durch Möhren wohl durchaus willkommen wäre, und die gab es nun mal das ganze Jahr über in Massen im Stall.
Kurz bevor sich der Wald jedoch zu der kleinen Lichtung lichtete, auf der das um diese Tageszeit bestimmt vollkommen verlassene Gebäude stand, da alle Pferde glücklich draußen auf der Weide standen, hörte ich einen dumpfen Aufprall.
Ich brauchte keine zwei Sekunden um zu wissen was das Geräusch verursacht haben musste und woher es stammte und schlug so den kleinen, unscheinbaren Weg nach links ein, der zu unserem großen Springplatz führte.
Schon bevor ich durch die Bäume den Platz erahnen konnte, wusste ich wer dort gerade die Stange hatte fallen lassen und bemühte mich möglichst leise zu sein, als ich an den hellen Holzzaun schlich, der den Sandplatz begrenzte.
Tatsächlich war es wie ich es schon vermutet hatte Lino, der mit seinem fuchsfarbenen, großem Pferd die bestimmt über einen Meter hohen Hürden mit einer Leichtigkeit nahm, von der jeder Springreiter nur träumen konnte.
Er war schon immer gut gewesen, aber dass... das war einfach nur unbeschreiblich. Bei meiner eigenen Wortwahl musste ich lächeln, denn genauso hatte Lino Feder und mich zusammen beschrieben, nachdem er uns reiten gesehen hatte.
Als Lino und sein Pferd auch den ziemlich hohen Steilsprung am Ende des Parcours aus meinen Augen einfach nur perfekt meisterten, bemerkte ich, wie viel er in einem Jahr dazugelernt hatte. Dem Jahr, das ich damit verbracht hatte, in meiner Trauer und den Schuldgefühlen zu versinken und nur in meinem Zimmer zu sitzen.
Es musste eine Ewigkeit her sein, dass ich ihn das letzte Mal hatte reiten sehen, denn auch wenn er mich natürlich etliche Male gefragt hatte, ob ich dabei zusehen wollte wie er trainierte oder sogar auf den Tunieren die oft schwierigen Parcours sprang, die er manchmal zum Spaß ritt, hatte ich immer abgelehnt.
„Na", Lino der inzwischen vor mir durchpariert war und von dem ich bis ebengerade gar nicht bemerkt hatte, dass er auf mich zugekommen war, riss mich aus meinen Gedanken.
„Na" Da wir nicht wussten was wir noch sagen wollten, entstand ein etwas unangenehmen Schweigen zwischen uns und die Schmetterlinge fingen wieder an in meinem Bauch zu toben: „Das sah gerade echt einfach nur perfekt aus!"
Auf mein Kompliment reagierte er mit einem breiten Strahlen und verbeugte sich, was auf dem Pferd ziemlich lustig aussah: „Danke"
„Ist doch nur die Wahrheit."
Wieder schwiegen wir beide, doch ich spürte seinen Blick auf mir ruhen, sodass ich meinen so weit nach oben richtete, bis ich direkt in seine Augen sah, deren Schönheit mir wie jedes Mal den Atem zu rauben schien.
„Warum bist du eigentlich schon so früh wach?", Lino sah mich mit einem schiefen Lächeln an und ich wusste das er darauf anspielte, dass ich vor ihm gestern noch erwähnt hatte, dass ich mich freute Mal wieder in meinem Bett ausschlafen zu können.
„Ich konnte nicht mehr schlafen und wollte zu Feder.", das entsprach immerhin der halben Wahrheit doch an Linos rechter hochgezogener Augenbraue konnte ich erkennen, dass er sich trotzdem wunderte, was ich dann hier machte.
„Da sie in letzter Zeit immer so viele Äpfel als Leckerlies gegessen hat, wegen dem Apfelbaum auf ihrer Weide, dachte ich, dass ich ihr heute Mal Möhren mitbringen könnte. Doch dann habe ich gehört wie eine Stange auf dem Springplatz gefallen ist und bin neugierig geworden."
Lino nickte und seine verwunderten Gesichtszüge hellten sich wieder auf: „Ja, das mit der Stange war absolut meine Schuld, Dino konnte nichts dafür."
Dino war Linos erstes Pferd und er hatte es mit fünf bekommen, dass wusste ich noch ganz genau denn kurz danach war Feder mein Pferd geworden, als er gerade in seiner Dinosaurierphase steckte. Da sein Wallach jedoch aus Frankreich kam und für ihn somit einen unaussprechbaren Namen hatte, hatte er ihn kurzerhand Dino getauft und so hieß er bis heute.
„Auf jeden Fall wollte ich gleich ausreiten gehen."
„Weißt du schon wohin?"
„Nein, noch nicht wirklich, aber Feder wird mir den Weg schon zeigen." Verwundert sah Lino mich an, doch hätte ich es ihm erklärt, hätte er mich wohlmöglich für verrückt erklärt: „Möchtest du eventuell mitkommen?", fragte ich ihn deshalb und wusste schon in dem Moment in dem die Wörter über meine Lippen kamen nicht mehr, ob das wirklich eine gute Idee gewesen war.
Zu meiner Überraschung fingen seine Augen jedoch an zu leuchten und mir wurde bewusst, dass er mit dieser Frage überhaupt nicht gerechnet hatte.
„Also nur wenn du möchtest natürlich...", schob ich ein wenig unsicher hinterher, auch wenn ich die Begeisterung in seinen Augen erkennen konnte, die schon immer ein offenes Buch über seine Gefühle und Teile seiner Gedanken für mich gewesen waren.
„Klar möchte ich, es würde uns", er unterbrach sich kurz um Dinos Hals zu streicheln: „sogar sehr freuen!"
„Na dann", schmunzelnd sah ich zu den beiden auf und setzte mich in Bewegung. Bis zu dem Ausgang wenige Meter vor uns ging ich außen an dem Zaun lang und er innen, doch als ich das Holztor öffnete, damit er nicht extra absteigen mussten, traten Dino und er zu mir nach draußen.
Gemeinsam gingen wir wieder zu dem Weg zurück, der zu dem Stall führte und kurz überlegte ich, ob ich nicht doch noch schnell ein paar Möhren für Feder und auch für Dino holen sollte. Doch dann verwarf ich den Gedanken wieder, denn ich wollte nicht, dass Marcellino und sein Pferd extra auf mich warten mussten.
Da seine Eltern heute geschäftlich unterwegs waren, mussten wir nicht über den Schotterplatz schleichen und darauf achten, dass niemand uns zur Feders Weide laufen sah, sondern konnten ganz gemütlich über die kleinen, beigefarbenen Steine gehen, die unter Dinos Hufen knirschten.
Sobald der mir nur allzu vertraute, dunkle Holzzaun vor uns auftauchte, hörte ich Feder wiehern, die schon ungeduldig wartend direkt hinter ihm stand und mir zu verstehen gab, dass ich mich beeilen sollte.
Ich sah noch einmal zu Lino, der auf Dino rechts von mir saß, doch er lächelte mich nur an: „Da kann es jemand wohl kaum erwarten dich wieder zu sehen, also Spann sie nicht so lange auf die Folter."
„Ist ja gut, ich wollte dich nur nicht ungefragt alleine lassen!"
Lino quittierte das mit einem seiner schiefen Lächeln, das mir zeigte wie süß er es fand, dass ich mir wie schon früher immer über alles und jeden viel zu viele Gedanken und Sorgen machte.
„Dann warte hier auf mich bis ich wiederkomme, ja?", Feder wieherte erneut und machte mir verständlich, dass ich mich wirklich beeilen sollte.
„Ja, dann bis in zirka zwei Sekunden.", Linos strahlende Augen und die Prise Ironie in seiner Stimme machten mir verständlich, dass ich ihn ruhig alleine lassen konnte. Doch wir wussten beide sehr gut, dass es mir gar nicht darum gegangen war.
So gut und lange wie Lino ritt und das bestimmt sogar noch etliche Male besser als ich, zeigten mir, dass er sehr gut alleine klarkommen würde, doch das war auch gar nicht mein Punkt gewesen, denn das würde ich niemals auch nur eine Sekunde bezweifeln. Mir war es lediglich darum gegangen, dass wir einen Treffpunkt hatten und er mir so nicht auf Feders Weide hätte folgen müssen, die an dieser Stelle nämlich kein Tor besaß.
Weil ich nämlich nur zu gut wusste, dass es für ihn ein wunder Punkt war über feste Hindernisse zu springen, seitdem er dabei einmal ziemlich heftig gestürzt war. Auch wenn Dino dabei nichts passiert war, was für Lino das wichtigste auf der ganzen Welt gewesen war und dazu geführt hatte, dass er erst ihn durchgecheckt hatte, bevor ich seine Platzwunde an der Stirn verarzten durfte, wusste ich, dass er solche Situationen seitdem immer gerne mied. Auch wenn er es vor mir noch immer so gut es ging zu verbergen versuchte.
Deshalb gab ich ihm auch noch einen leichten Faustschlag auf seinen unteren Oberschenkel, der, da Dino nicht gerade klein war etwa auf meiner Augenhöhe schwebte.
Bevor Lino allerdings eine Chance hatte sich zu wehren eilte ich schnell zu dem dunklen Holzzaun und schwang meine Beine über sein oberstes Brett. Nur um keine Sekunde später wegen meiner etwas zu hektischen Bewegungen mehr oder weniger elegant im Graß auf der anderen Seite zu landen.
Während ich mir ausgebreiteten Armen noch strauchelnd versuchte mein Gleichgewicht wiederzufinden, stupste Feder mir schon leicht in meine Seite, von der sie leider inzwischen zu wissen schien, dass ich dort sehr kitzelig war.
„Feder!", lachend streichelte ich über ihre weiche Stirn und hätte schwören können, dass sie zu mir „Das geschieht dir aber auch recht!", gesagt hätte, zumindest wenn sie hätte sprechen können.
„Tut mir leid, dass ich dich so lange habe warten lassen, Maus. War dir in der Nacht sehr langweilig?"
Sie schnaubte leise, so als wollte sie mir signalisieren, dass es wirklich sehr öde gewesen war und ich musste bei ihrem Anblick lächeln. Den neuen Grasflecken nach zu urteilen, die auf beiden Seiten ihre ohnehin schon dreckige Flanke und ihren Bauch zierten, hatte sie sich mindestens einmal ausgiebig im Gras gewälzt. Und ihre lange Mähne die ihr bis weit über ihre Augen reichte, konnte zwar verhindern, dass ich sie vollkommen sehen konnte, doch trotzdem konnte ich den Schabernack in ihnen hervorblitzen sehen.
„Was hältst du von einem kleinen Ausritt?", ich kraulte ihren Wirbel auf ihrer Stirn und sie senkte ihren Kopf und entspannte sich immer weiter, obwohl Lino keine zwanzig Meter von uns entfernt war und sie ihn bestimmt auch schon bemerkt haben musste. Doch anders als sonst spürte ich nicht ihre Anspannung, die immer so sehr in der Luft um uns herum zu schwirren schien, dass ich schon mehrmals Angst davor gehabt hatte, dass Feder in einer solchen Situation irgendwann einmal explodieren und vor lauter Angst Hals über Kopf abhauen würde.
Heute war die ganze Situation aber irgendwie anders, denn auch wenn sie sogar so stand, dass er fast den Mittelpunkt ihres Sichtfeldes bilden musste, war sie ruhig. Zwar war sie nicht so entspannt als wenn ich alleine bei ihr war, doch ihre Angst und Anspannung war auch lange nicht so groß wie sonst, sodass sich all ihre Muskeln verkrampften und ich spüren konnte, dass sie jeden Moment dazu bereit war zu fliehen.
Vielleicht lag es an Dino? Erst jetzt viel mir der bestimmt 1,80 Meter große, total liebe Fuchs mit seiner rötlichen Mähne ein, der hinter meinem Rücken stand.
Er und Feder hatten sich schon früher immer gut verstanden und waren mehr oder weniger beste Freunde gewesen, wenn auch nur weil Dino sich Feder immer bereitwillig untergeordnet hatte. Sie schien ihn auch noch nach über einem Jahr wiederzuerkennen und sich an ihn und ihre zahlreichen gemeinsam erlebten Momente zu erinnern.
Über meine Schulter hinweg wieherte sie ihm einmal fröhlich entgegen und keine Sekunde später kam von ihm ein genauso begeistertes Wiehern zurück und Linos leises Lachen drang an mein Ohr.
Wie seit Wochen jeden Tag löste Feder sich aus meiner Umarmung und entfernte sich ein paar Schritte, bevor sie sich langsam niederkniete. Inzwischen war es mir vollkommen vertraut mein Bein über ihre Kruppe zu schwingen und mich vorsichtig auf ihren Rücken gleiten zu lassen.
Nur ganz leicht griff ich in ihre weiche, aber schon lange nicht mehr wie nach dem Ausflug zum See strahlend weiße, sondern eher beigefarbene Mähne und beugte mich nach vorne um ihr das aufstehen, bei dem sie ihre Vorderbeine immer zuerst durchstreckte so viel wie möglich zu erleichtern.
Erst nachdem Feder ganz aufgestanden war und wir bereits in einem großen Bogen über die noch viel größere Wiese trabten bemerkte ich Linos Blick der noch immer auf mir ruhte. Wie immer galoppiere Feder wenig später an und als wir immer weiter auf den Zaun zuritten, hinter dem er mit Dino stand, konnte ich die Bewunderung in seinem Gesicht erkennen, die mir ein Lächeln auf die Lippen zauberte.
Wie immer genoss ich die letzten Meter vor dem morschen, dunklen Holzgebilde, das ihre Koppel begrenzte in denen Feder noch einmal beschleunigte und spürte wie sie mit ihren kräftigen Hinterbeinen vom Boden absprang, nur Millisekunden bevor wir gemeinsam über den Zaun flogen. Viel zu schnell landeten wir anschließend wieder weich auf der anderen Seite und galoppierten noch ein paar Meter an Dino vorbei, bevor wir durchparierten.
Jedoch brauchten wir uns nicht umzudrehen um zu ihnen zurückzureiten, denn Lino und Dino hatten schon zu uns aufgeschlossen.
„Das sah gerade echt atemberaubend auf!", noch immer konnte ich die Begeisterung in Linos Augen sehen und wusste das diese jedoch nicht Feders und meinem Sprung über den Zaun galt, sondern der Tatsache, dass sie sich ohne eine Aufforderung meinerseits hingelegt hatte.
„Ich hatte schon früher manchmal die Idee, dass ihr so gut zusammenpasst, da ihr die Gedanken des jeweils anderen lesen könnt und auch wenn ich das bis eben gerade für schlichtweg nicht möglich gehalten habe, bin ich mir jetzt nicht mehr so sicher.
„Danke", Linos Worte brachten mich zum Lachen und wenige Sekunden später schloss auch er sich mir an während die Pferde sich gegenseitig aufgeregt beschnupperten.
„Na, ihr habt euch auch lange nicht mehr gesehen, oder?", sagte ich an Feder und Dino gewandt, obwohl ich natürlich keine Antwort erwartete.
„Meinst du sie haben sich gegenseitig vermisst?", der ernsthafte Unterton in Linos Stimme brachte mich dazu wirklich über seine Worte nachzudenken, bevor ich ihm antworte: „Zumindest scheinen sie sich wiederzuerkennen, auch wenn sie es noch gar nicht so richtig glauben können."
Amüsiert blickte ich von Feders Rücken eine Weile auf Dinos breite Blesse hinab, die bis zu seinen Nüstern reichte, welche gerade interessiert Feders Duft aufzunehmen schienen.
„Also...", mit seinen Worten schaffte er es mich meinen Blick von Dino zu lösen zu lassen, der um den Geruch noch besser aufnehmen zu können gerade flehmte und Feder, die freudig Schnaubte: „Du hast zwar vorhin erwähnt, dass Feder dir immer den Weg zeigt, was ich dir auch wirklich glaube, keine bange, aber hättest du was dagegen wenn ich es heute ausnahmsweise wäre, der dir seinen Lieblingsplatz zeigt?"
Seine Worte überraschten mich, denn eigentlich war ich mir absolut sicher gewesen, die kleine gemütliche Lichtung mit ihrem Pfirsichbaum schon zu kennen, die zumindest früher immer sein absoluter Lieblingsort gewesen war und meiner übrigens ebenfalls.
Doch in einem Jahr konnte sich viel verändern und so wie ich nun Feders Weide als Lieblingsplatz, oder generell Feder hatte, konnte er in der Zwischenzeit gewiss auch einen neuen gefunden haben. Diesen zu sehen wollte ich mir jedoch natürlich nicht entgehen lassen.
„Nein, gar nicht!", antwortete ich deshalb wahrheitsgemäß und hoffte, dass er mir meine Aufregung nicht anmerken würde, obwohl er mich so gut kannte. Denn ich brannte nur so darauf zu wissen, wo er sich nun am liebsten den ganzen Tag aufhalten würde.
„Na dann komm.", Dino hatte sich inzwischen schon in Bewegung gesetzt und schon bevor ich mit der Zunge schnalzen konnte, begann Feder ihnen zu folgen. Vielleicht lag Lino mit dem Gedankenlesen doch nicht so falsch? Denn auch wenn mir nur allzu gut bewusst war, dass das natürlich nicht stimmen konnte, fühlte es sich zwischen Feder und mir manchmal wirklich so an, als könnten wir den anderen denken hören.
Im Schritt gingen wir den Weg zurück bis zu dem großen, runden Vorplatz und bogen vor unserem Haus, dass nun auf unserer rechten Seite lag in den Wald. Hier waren wir schon immer als Kinder langgeritten und Bilder von unseren Ausritten bei Mondschein kamen mir wieder in den Sinn.
Kaum nachdem wir unseren kleinen Gemüsegarten und damit auch das große Fachwerkhaus hinter uns gelassen hatten, fingen Dino und Marcellino an zu traben und schon als ich mich ein bisschen anspannte schien Feder zu verstehen was ich von ihr wollte und trabte ebenfalls an.
Ohne dass ich sie antreiben musste, machte sie zuerst ziemlich große Schritte sodass wir Lino und Dino die nur ein paar Meter vor uns ritten schnell einholten und schon bald neben ihnen auf dem kleinen Stück Wiese trabten. Welches bestimmt trotzdem halb so groß wie Feders Weide und somit auch nicht gerade winzig war.
Als der Wald vor uns jedoch immer dichter rückte, ließen Feder und ich ganz automatisch ein Stückchen zurückfallen, da der Trampelpfad, dem wir wie so oft zuvor nun folgten keinen Platz für zwei Pferde nebeneinander hatte.
Als ich einen großen Baum sah, der parallel zu unserem Weg umgefallen war, musste ich daran denken, wie ich seinem Verlauf bereits vor ein paar Wochen einmal gefolgt war, als ich mich mit Lino nach unserem Streit, der mir immer noch allzu gut in Erinnerung geblieben war ausgesprochen hatte.
Wieder einmal wurde mir bewusst wie ich mich seitdem und generell in letzter Zeit verändert hätte, doch zum ersten Mal war ich mir dabei sicher, dass es ein Schritt in die richtige Richtung gewesen war. Aber zeitgleich wusste ich auch, dass ich diesen ohne Marcellino, und besonders ohne Feder niemals geschafft hätte.
„Bereit?", Lino guckte mich über seine Schulter hinweg an und ein leichtes Kribbeln breitete sich in dem Moment in meinem Bauch aus, in dem ich verstand was er damit meinte.
„Ich würde keine Sekunde zögern."
Lino hatte sich schon wieder nach vorne gewandt, doch trotzdem konnte ich ihn leise über meine Worte lachen hören und auch ich konnte mein Lächeln nicht unterdrücken.
Doch als Dino vor uns so kraftvoll, schwungvoll und gleichzeitig so ruhig wie eh und je angaloppierte, breitete es sich zu einem breiten Strahlen aus.
Nie im Leben hätte ich gedacht, dass er sich daran noch erinnern würde, aber früher war das zwischen uns beiden immer ein Ritual gewesen, dass nur wir beide gekannt hatten: bei jedem Ausritt den wir gemeinsam erlebt hatten, waren es die heimlichen mitten in der Nacht oder die nach einem anstrengendem Schultag, oder auch Training, bevor wir das erste Mal angaloppiert waren, hatten wir uns gegenseitig immer gefragt ob der andere ebenfalls so weit wäre.
Eigentlich war uns beiden in jeder einzelnen Sekunde bewusst gewesen, dass sowohl wir als auch unsere Pferde nur auf den Moment gewartet hatten, in dem wir unser Bein nur ganz leicht nach hinten legen konnten, um keinen Augenblick später im Gegenwind des schnellen Galopps alles für einen Moment vergessen zu können.
Schon immer hatte das Motto im hier und jetzt zu leben diesen Moment für uns bedeutet, denn wir hatten es beide erst so richtig verstehen können, wenn wir bei Feder und Dino gewesen waren und ich wusste, dass es uns noch immer genauso ging.
Der Wind pustete meine Haare aus meinem Gesicht und ich spürte wie sie hinter mir her wehten, während ich die kühle Luft des Waldes genoss, die meinen ganzen Körper schon nach wenigen Luftzügen zu erfüllen schien, auch wenn mir der Wind gleichzeitig alle Luft zu nehmen schien.
Die Bäume und Sträucher zogen immer schneller an uns vorbei und ich hörte die Vögel singen, bevor ich hinauf in die hohen Baumkronen sah um immer wieder einzelne Sonnenstrahlen, die durch das dichte Blätterdach geflossen waren auf mein Gesicht scheinen zu lassen.
Nur der rasend schnelle Hufschlag von Feder, der mein Herz vor Freude immer schneller schlagen ließ und der sich heute mit dem kraftvollen von Dino vermischte ließen mich wieder nach vorne sehen. Erst jetzt wurde mir bewusst wie sehr mir das Geräusch gefehlt hatte, denn zu zweit klangen die auf den Boden treffenden Hufe, die meinen Herzschlag zu bilden schienen noch tausendmal schöner als der von Feder allein.
Mit einem Mal wurde mir klar, dass wir für sie erst jetzt so richtig vereint zu sein schienen, denn auch wenn wir beide das perfekte Paar waren, hatte auf unseren Ausritten in manchen Momenten immer noch etwas, oder viel mehr jemand gefehlt: Marcellino und Dino. Denn auch wenn wir nahezu grenzenlos miteinander harmonierten, waren wir erst jetzt ganz, mit Lino und Dino gemeinsam vollständig.
Früher waren wir fast immer zusammen ausgeritten und sowohl Feder und Dino als auch Lino und ich hatten in jeder freien Sekunde aneinandergeklebt. Auch wenn wir es gar nicht bemerkt hatten, schienen diese Ausflüge zu viert uns beiden jedoch ziemlich gefehlt zu haben, Feder anscheinend sogar noch mehr als mir.
Das erkannte ich daran, dass sie vollkommen entspannt war, auch wenn Lino sich keine fünf Meter direkt vor ihr befand. Noch immer wusste ich nicht was zwischen ihnen passiert war, doch ich hatte meine Einstellung diesbezüglich geändert: was auch immer zwischen ihnen vorgefallen sein musste ich würde es zur richtigen Zeit erfahren und wenn es diese nicht geben sollte, dann würde ich es auch nicht wissen müssen.
Doch dass sie obwohl er ihr so dicht war so entspannt war zeigte mir, wie sehr sie all das hier in dem vergangenen Jahr vermisst haben musste, besonders auch Dino.
Wenn sie die Zeit mit ihm so sehr genoss, dann würde ich alles dafür geben, dass sie in Zukunft so viel wie möglich mit ihm würde machen können, auch wenn ich selber noch nicht genau wusste wie das funktionierten sollte. Aber wie viel Spaß sie im Moment hatte zeigte mir, wie wichtig er ihr noch immer sein musste und auch an Dinos ausgelassener Körpersprache erkannte ich, dass es ihm auf Feder bezogen ganz ähnlich gehen musste, deshalb nahm ich mir das ganz fest vor.
Feder war mir so unendlich wichtig, wichtiger als alles andere auf dieser Welt und in den letzten zweieinhalb Monaten hatte sie so viel für mich getan, nun war es wirklich an der Zeit das ich ihr zumindest ein bisschen davon zurückgab.
Jetzt aber verbannte ich diesen Entschluss, wie eigentlich alle meiner Gedanken aus meinem Kopf und nahm mir vor in diesem Moment nichts weiter vor als zu genießen. Das hatte Lino schon früher immer von mir gewollt: dass ich mal ein bisschen spontaner wurde und mir nicht immer so viele Gedanken über eigentlich ganz unwichtige Dinge machte und endlich verstand ich warum: weil man in diesem Moment frei war. Vielleicht war es seine Art frei zu sein, wie es meine war, bei Feder zu sein und auch wenn ich meine um ein Vielfaches bevorzugte, konnte ich ihn zum ersten Mal so richtig verstehen.
Aber nun zählte nur noch das ich gerade hier war, hier bei Lino, Dino und meiner Freundin, nein meiner Familie, bei Feder und um nichts in der Welt würde ich das jemals eintauschen wollten.
Immer wieder beugte ich mich nach vorne um Feder über ihre Mähne und ihren weichen Hals zu streichen, was sie jedes Mal mit einem zufriedenen Schnauben quittierte. Wenn Lino, die Pferde oder ich eine Pause brauchten parierten wir zum Trab oder Schritt durch und genossen die Natur, die uns ihre Wunder direkt vor unseren Augen zu präsentieren schien.
Mittlerweile wusste ich nicht mehr wie spät es war und wie lange wir wohl schon gemeinsam so ritten, doch mir war nur allzu bewusst das ich mir nichts sehnlicher wünschte, als dass dieser so unendlich schöne Moment hoffentlich niemals enden würde.
Ich fühlte mich frei, genauso wie jedes Mal, wenn ich bei Feder war oder mit ihr ritt, doch trotzdem war dieses Gefühl irgendwie anders, neu und vertraut zugleich. Inzwischen war ich mir ziemlich sicher, dass ich es früher auf den gemeinsamen Ausritten mit Lino auch schon immer gespürt hatte, diese Freiheit, doch dass es sich seitdem Feder und ich uns noch nähergekommen waren als jemals zuvor und wir ganz ohne Sattel und Trense ritten noch tausendmal intensiver geworden war.
Auch Feder schien so zu fühlen, denn ich konnte sehen wie immer mindestens eines ihrer Ohren in meine Richtung lauschte um mögliche Signale von mir sofort zu bemerken und spürte ihre Freude, die jeden Faser ihres Körpers mit scheinbar unendlich viel Energie zu versorgen schien.
Als Lino vor uns wenig später erst zum Trab und dann zum Schritt durchparierte, hatte ich noch immer das Gefühl mit Feder noch ewig so weitergaloppieren zu können. So schnell wie der Wind und frei wie ein Vogel.
Obwohl ich es noch nicht zuordnen konnte, kam mir der Ort merkwürdig bekannt vor, auch wenn wir mitten im Unterholz des Waldes standen und ich mir absolut sicher sein konnte hier noch nie gewesen zu sein.
Eine Weile folgten wir Lino noch, der auch Dino immer wieder glücklich lobte, bevor wir durch zwei unscheinbare Büsche hindurchtraten und auf eine kleine, gemütliche Lichtung schritten, die man einfach nur als wunderschön beschreiben konnte.
Als ich den knorrigen Pfirsichbaum in der Mitte des hohen, hier noch nicht vertrockneten Grases entdeckte, konnte ich mein Lachen nicht länger zurückhalten und auch Feder wieherte einmal laut, als wollte sie sagen, dass sie es vermisst hatte so lange nicht hier gewesen zu sein.
Elegant stiegt Lino aus seinem schwarzen Sattel ab und ich konnte das breite Strahlen und das Funkeln in seinen Augen auch noch spüren, nachdem er mir schon längst wieder den Rücken zugekehrt hatte.
„Dein Lieblingsplatz also.", brachte ich knapp und nach Luft ringend hervor, bevor auch ich von Feders Rücken rutschte und sie in meine Arme schloss.
„Danke Maus, das war echt Spitzenklasse!", flüsterte ich ihr in ihr linkes Ohr, bevor ich mich von ihr löste, nur um ihr einen Kuss auf ihre Nasenspitze zu drücken: „Ich hoffe es hat dir genauso viel Spaß gemacht wie mir!", scheinbar glücklich schnaubte sie einmal, bevor sie sich umdrehte und im Schatten der Bäume anfing zu grasen.
Als ich mich zu Lino umdrehte sah ich wie er die Schnallen von Dinos Trense ebenfalls öffnete und sie ihm wenig später ebenfalls vom Kopf strich, bevor er sich wieder mir zuwandte: „Ja absolut!"
Spaßeshalber zog ich meine rechte Augenbraue hoch, doch musste bei dem Funkeln in seinen so wunderschönen grün-braunen Augen lächeln, in denen das grün heute wieder einmal besonders hervorstach.
„Was denn", erwiderte er grinsend: „Mehr habe ich nie behauptet!"
Da ich wusste das das stimmte nickte ich bloß andächtig, aber insgeheim war ich doch froh hier gelandet zu sein und nicht an einem mir fremden Ort. Denn auch wenn mein Lieblingsplatz, oder eigentlich Zuhause inzwischen auf Feders Weide, oder beziehungsweise direkt bei Feder war, war mir diese Lichtung weiterhin sehr wichtig. Dies kam aber nicht nur von ihrer unbeschreiblichen Schönheit und dem Gefühl der Sicherheit, das sie mir warum auch immer vermittelte, sondern auch wegen den unzähligen schönen Momenten die ich hier gemeinsam mit Lino erlebt hatte. Das es ihm ebenfalls ähnlich zu gehen schien, freute mich und dass sogar weitausmehr als ich es jemals zugegeben hätte.
Wie auch früher immer ließ Lino sich im wenn auch eher kleinen Schatten des Pfirsichbaumes nieder und ich folgte ihm durch das hohe Graß. Bevor ich mich jedoch wie er ebenfalls hinsetzte, pflückte ich mir drei der bereits reifen Pfirsiche und warf ihm einem davon im Sitzen zu.
Lino hatte sich mit seinem Rücken an den schmalen Baumstamm gelehnt und ohne weiter darüber nachzudenken rückte ich noch näher zu ihm, da der kleine Baum nur spärlich für Schatten sorgen konnte, gerade wenn die Sonne fast senkrecht am Himmel zu stehen schien.
Genüsslich biss er in seinen Pfirsich und ich musste Lachen als ihm der Saft über sein Kinn rann, als mein Magen auf einmal laut anfing zu knurren um mir verständlich zu machen, dass ich seit gestern Abend nichts mehr gegessen hatte.
Bevor ich aber herzhaft in die rot-gelb-orangen Frucht biss, legte ich mich in die weiche Wiese und genoss den Blick durch die nur spärlich mit Blättern bewachsenen Äste in den wolkenlosen Himmel.
Nachdem Lino in Rekord Geschwindigkeit seinen ersten Pfirsich aufgegessen hatte, was darauf schließen ließ, dass auch er das Frühstück zumindest heute für überbewertet gehalten hatte, ließ er sich am Baumstamm hinabgleiten und lag so direkt neben mir.
Da ich mein Obst noch nicht mal bis zur Hälfte aufgegessen hatte, gab ich ihm auch den zweiten Pfirsich, wobei sich unsere Hände länger als nötig berührten.
Daraufhin rückte sowohl Lino dichter zu mir, als auch ich zu ihm, sodass uns kaum noch etwas voneinander trennte und ich da sein Gesicht etwas höher als das meine lag drehte meinen Kopf so das ich zu ihm hinaufsehen konnte.
Der intensive Blick aus seinen Augen fesselte mich von der ersten Sekunde an und nur im Hintergrund bemerkte ich, wie ich mich auf meinen Unterarm stützte und das Gefühl zu deuten versuchte, dass in den unendlichen smaragdgrün-braunen Tiefen zu schwimmen schien. Doch auch nachdem ich es mehrmals kritisch untersucht hatte blieb mein Verstand dabei: er musterte mich nicht nur so intensiv, dass ich eine Gänsehaut bekam ohne es verhindern zu können, sein Blick war dabei auch noch total liebevoll.
Wahrscheinlich war es auch das was mich dazu brachte meine weiteren Entscheidungen zu treffen ohne wirklich darüber nachzudenken, doch bevor ich selber verstand was ich da tat, legte ich meinen Kopf auf seinen Oberkörper, über den sich sein verwaschenes, blaues T-Shirt zugegebenermaßen ziemlich spannte.
Eine Sekunde rechnete ich fast damit, dass er mich gleich von sich stoßen würde und ich ihm so einiges erklären müsste, doch stattdessen fuhr er mir mit seiner großen Hand total behutsam über meinen Kopf, bevor er mir vorsichtig die Haare aus meinem Gesicht strich.
Mein Kopf lag tiefer als seiner, aber trotzdem konnte ich immer noch den liebevollen Ausdruck in seinem Gesicht sehen, der mich zum Strahlen brachte und die Schmetterlinge in meiner Magengegend Saltos fliegen lies.
Durch den dünnen Stoff seinen Shirts konnte ich nur zu gut seine Muskeln spüren, als ich meine rechte Hand vorsichtig auf seinen Oberkörper legte und mich so auf die Seite drehte, dass meine Wange den weichen T-Shirt berührte.
Bestimmt hatte ich schon unzählige Male in Büchern gelesen, doch erst als mein Kopf selber kurz unter seiner linken Schulter ruhte, bemerkte das es wirklich stimmte. Denn auch wenn ich es nie für möglich gehalten hatte, war es nicht nur total gemütlich, sondern genau wie in den zugegebener Maßen manchmal etwas kitschigen Liebesromanen, die ich früher immer so geliebt hatte, schien mein Kopf einfach perfekt in die keine Mulde unter seinem Schultergelenk zu passen.
Zuerst schwiegen wir nur, doch es war nicht so unangenehm oder peinlich berührt wie sonst immer, da jeder von uns etwas sagen wollte aber nicht wusste was, denn es war ganz entspannt. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, doch trotzdem hatte ich das Gefühl ihm näher zu sein als jemals zuvor.
„Weist du was?", durchbrach ich unsere gemeinsame Stille nachdem ich Feder und Dino eine Weile beim Grasen zugesehen hatte.
„Was denn?", Lino hörte sich fast schon ein bisschen verschlafen an und ich hoffte das ich ihn nicht kurz vorm eindösen wieder geweckt hatte.
„Ich glaube Feder hat Dino wirklich vermisst..."
„...und Dino Feder auch.", beendete er meinen Satz und ich bemerkte wieder einmal wie gut er mich eigentlich kannte und ich auch ihn.
„Wir sollten die beiden in Zukunft wieder öfter etwas miteinander machen lassen."
„Wir können jetzt ja öfter ausreiten, außer du hast was dagegen natürlich."
Seine Worte zauberten ein Lächeln auf meine Lippen und ich schloss kurz meine Augen um diesen wunderschönen Moment zu genießen, bevor ich antwortete: „Hört sich gut an... Aber jetzt mal im Ernst, ich glaube sie haben sich gegenseitig ziemlich gefehlt."
„Worauf möchtest du hinaus Lotte?", seine Worte ließen mich zusammenzucken obwohl ich es gar nicht gewollt hatte. Shit, manchmal schien er besser zu verstehen was in mir vorging als ich selber. Langsam hob ich meinen Kopf an und drehte ihn so, dass ich in sein bildhübsches Gesicht blicken konnte bevor ich weitersprach: „Ich denke das sie wieder zusammen auf einer Weide stehen sollten."
„Und wie stellst du dir das vor?"
Ich weiß das deine Eltern wegen Feder nichts davon bemerken dürfen, aber meinst du es würde ihnen wirklich auffallen, wenn Dino jeden Tag ein paar Stunden fehlen würde?", Linos nachdenklicher Blick ruhte auf mir. „Ihr habt so viele Pferde, da würden sie es doch gar nicht merken und in der Zeit könnten wir ihn mit auf Feders Weide stellen."
Vorsichtig legte ich meinen Kopf wieder unter seine Schulter und wartete auf seine Antwort während ich das leichte Prickeln in meiner Wange genoss das davon zeugte wie nah ich ihm gerade war.
Als er nichts erwiderte setzte ich noch einmal an: „Ich glaube das würde die beiden wirklich sehr freuen.", von meiner Position aus konnte ich sehen wie sie sich gerade gegenseitig das Fell pflegten und Lino drehte seinen Kopf ebenfalls in diese Richtung um zu sehen was oder wen ich dort so gebannt beobachtete.
„Du hast schon recht."
Zufrieden grinste ich in mich hinein. Ich hatte ihn in all den Jahren auch ziemlich gut kennengelernt und wusste inzwischen genau, dass dieses Bild ihn umstimmen würde.
„Dein Plan hat zwar noch ein paar Lücken, aber ich denke das wir das alles hinkriegen werden."
Leicht nickte ich, noch immer mit meiner linken Wange auf dem weichen Stoff seines T-Shirts liegend und genoss danach wieder unsere gemeinsame Stille, bevor ich immer müder wurde.
Eine Bewegung riss mich wieder aus meinem leichten Schlaf und ich hörte ein Gähnen, bevor auch ich mich verschlafen aufrichtete und mich streckte.
Erst nachdem ich meine Arme wieder gesengt hatte und bemerkte, dass ich mich so ausgeschlafen wie schon lange nicht mehr fühlte, nahm ich Lino war, der ebenfalls noch etwas müde aussehend vor mir saß.
„Gut geschlafen?"
Als Antwort nickte ich und stockte mitten in meiner Bewegung als ich mir die Frage stellte wie lange ich wohl geschlafen hatte. Hoffentlich war Lino nicht die ganze Zeit wachgewesen und hatte sich fürchterlich gelangweilt, während ich in aller Ruhe mein Schlafdefizit ausgeglichen hatte.
„Ich hoffe es war nicht zu langweilig für dich.", etwas beschämt fixierte ich einen unbekannten Punkt hinter ihm, doch trotzdem entging mir sein breites Grinsen nicht.
„Mach dir keine Sorgen darüber, ich glaube ich bin sogar noch vor dir eingenickt."
Erleichtert atmete ich aus was Lino nur noch mehr strahlen ließ: „Du musst dir nicht immer so viele Gedanken um alles und jeden machen. Selbst wenn ich die ganze Zeit wach gewesen wäre, wäre es nicht schlimm gewesen, denn anscheinend hast du den Schlaf echt gebraucht. Außerdem verbringe ich gerne Zeit mit dir. Ob du dabei schläfst oder müde bist ist mir vollkommen egal, denn solange ich bei dir bin iss zumindest für mich alles gut."
Das Lächeln auf meinen Lippen breitete sich zu einem Stahlen aus und auch Linos Augen funkelten glücklich.
„Na dann bin ich aber erleichtert", erwiderte ich noch immer schmunzelnd: „denn wenn das so ist kann ich ja noch weiterdösen.", mit ausgebreiteten Armen ließ ich mich nach hinten fallen und tat so, als wäre ich schon wieder damit beschäftigt einzuschlafen. Bevor ich jedoch still bis zwei zählen konnte, hatte Lino mir schon mit seinem Finger vorsichtig in meine Seite gepikst, denn er wusste nur zu gut wie kitzelig ich da war.
„Hey!", nach Luft schnappend richtete ich mich gespielt entrüstet wieder auf und griff zielstrebig in die Richtung seiner Kniekehle, die technisch gesehen sein wunder Punkt war.
Lachend sprang er schnell auf und stürmte davon, bevor ich überhaupt auf meine Füße gekommen war, doch keine Sekunde später rannte ich ihm hinterher.
„Feder!", aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen wie diese ihren Kopf hob und danach mit Dino im Schlepptau auf mich zu galoppiert war. Jedoch schien sie die Situation ziemlich gut verstanden zu haben, denn sie passte sich als sie mich erreichte nicht meinem Tempo an, sondern zog an mir vorbei direkt auf Lino zu. Dino rannte ihr fröhlich wiehernd hinterher und ich musste vor Lachen kurz stehenbleiben, als ich sah wie sie und Dino Marcellino einkesselten, sodass es mir wenig später ein Leichtes war ihn zu fangen.
Sobald ich ihn berührt hatte, stoben sowohl ich als auch die zwei aufgeregt schnaubenden Pferde auf dem Absatz kehrtmachend davon und erst als ich an Dinos überraschten Quieken hören konnte, das Lino ihn wohl ziemlich dicht verfolgen musste blieb ich mit rasendem Herzen am Rand der Lichtung stehen.
Mit Feder fangen zu spielen war schon so unbeschreiblich schön gewesen und mit Sicherheit eine der besten Momente die ich jemals erlebt hatte, aber das hier, das war einfach nur... unbeschreiblich.
Nur ein Blick zu Feder, die jetzt wiehernd von Dino, der ihr dicht auf den Fersen war floh und den Lino in der Zwischenzeit wirklich berührt haben musste, reichte mir um zu sagen, dass es ihr ähnlich ging. Wie auch Dino und Marcellino.
Irgendwann fing meine Lunge an zu brennen, doch nicht von dem vielen rennen, sondern von meinem Lachen, dass zu meiner Überraschung fast ununterbrochen aus meiner Kehle nach draußen drang. Dieser ganze Tag war so unbeschreiblich schön und ich hätte einfach alles dafür gegeben jetzt die Zeit anhalten zu können, für ein paar Stunden zumindest. Doch da ich das nicht konnte und auch niemals können würde, blieb mir nichts anderes übrig als den Moment zu genießen, was ich wie alle anderen auch, auch ausgiebig tat.
Nachdem ich irgendwann im Graß ausgerutscht und hingefallen war, Lino mich an meinen Händen und mit einem seiner schiefen Grinsen wieder hochgezogen hatte und wir noch etliche Meter über das hohe Grün gerannt waren, lies ich mich irgendwann unter dem mir nur allzu vertrauten Pfirsichbaum nieder, den ich schon seit meiner Kindheit kannte.
Lino setze sich neben mich und zusammen sahen wir zu wie Feder und Dino sich noch immer kreuz und quer über die gesamte Lichtung jagten und umhertollten wie kleine Kinder, während sich die Sonne am Himmel immer tiefer senkte.
Wir lachten und erzählten uns gemeinsam so viel wie schon lange nicht mehr und ich liebte das Gefühl der Offenheit, dass wie früher auch immer mit einer Selbstverständlichkeit zwischen uns herrschte, die ich nur bewundern konnte.
Viel zu schnell verschwand auch der letzte Rest der Sonne in der Ferne hinter den Bäumen und auch wenn ich es unheimlich schade fand, als sich Lino der die ganze Zeit mit einem mich umschlungenen Arm dicht neben mir gesessen hatte, wusste ich das er recht hatte. Wir mussten langsam wirklich wieder los, so gerne ich auch noch länger hiergeblieben wäre.
Während Lino Dinos Trense von einem Zweig aus dem kleinem Baum nahm und sich anschließend auf den Weg machte um ihn aufzutrensen, ging ich ebenfalls zu Feder, die dicht neben Dino graste.
Sie kam mir entgegen, sodass wir uns auf halben Weg trafen und legte sich in das weiche Gras, sodass ich mich auf ihrem Rücken niederlassen konnte was inzwischen eine meiner selbstverständlichsten Bewegungen war.
Gemeinsam erhoben wir uns wieder und warteten auf Lino, der noch den Kehlriemen von Dinos Trense schloss, bevor er sich elegant in den schwarzen Ledersattel schwang.
Wie früher immer verließ er als erstes die Lichtung und Feder und ich folgten ihm. Nun wurde mir auch wieder bewusst, warum mir der Weg vorhin so unbekannt vorgekommen war, denn er hatte extra einen anderen genommen als wir es sonst getan hatten.
Deshalb führte uns der mir vertraute Rückweg auch über weite Felder, die immer mal wieder die unendlichen Weiten des Waldes ablösten.
Der rasend schnelle Hufschlag von Feder und Dino, die fast schneller als der Wind über die weiten, bereits abgemähten Stoppelfelder zu fliegen schien vereinte sich mit meinem Herzschlag.
Wann war ich das letzte Mal so glücklich gewesen? Aber es war nicht nur das was mir das Gefühl gab leicht zu sein wie eine Feder. Zum Großteil war es auch Feder selbst, die diese Stimmung schon immer in mir ausgelöst hatte, was auch der Grund für ihren Namen gewesen war. Diesen hatte ich nämlich aussuchen dürfen, da sie noch als Fohlen, gerade erst ein halbes Jahr alt zu uns gekommen war.
Zum anderen waren es jedoch auch die Schmetterlinge in meinem Bauch, die noch immer wild zu toben schienen und das schlimmer als jemals zuvor. Aber war das überhaupt so schlimm? Nein, sie zeugten nur von der Aufregung die ich jedes Mal verspürte sobald ich in Linos Nähe war und stärker waren sie nur geworden, da ich mich jetzt traute an ihre Bedeutung zu glauben: ich war in Lino verliebt und das schon viel länger als nur in dem letzten Monat, in dem ich es wieder bemerkt hatte und es würde auch noch viel länger so bleiben, das spürte ich einfach.
Inzwischen hatte Feder so weit aufgeholt, dass wir neben Dino und Lino galoppierten und als ich diesen musterte, erwiderte er meinen Blick mit vor Freude funkelnden Augen, die schon den ganzen Tag über auffällig gestrahlt hatten.
Ohne weiter darüber nachzudenken löste ich meine rechte Hand aus Feders Mähne und streckte sie aus. Noch immer ruhte mein Blick auf Lino, der diese Geste nun lächelnd erwiderte und während wir vollkommen frei mit unseren Seelenverwandten, das war schon früher mein geheimer Spitzname für Feder gewesen und auch Lino hatte Dino so manchmal genannt, wenn er dachte das ich es nicht hören würde, über die Felder flogen kamen sich unsere Hände immer näher.
Der Sonnenuntergang direkt vor uns sah wunderschön aus, auch wenn die Bäume ihn zur Hälfte verdeckten, doch der ganze Himmel war mit gelb-orange, lila und auch rosatönen überzogen bevor er sich immer dunkler färbte.
Linos und meine Hände trennten nur noch wenige Zentimeter und als ich seine weichen Finger in den meinen spürte, schien die Welt doch für ein paar Sekunden stehen zu bleiben bevor wir weiter dem Sonnenuntergang entgegengaloppierten.
Ich war hier mit Feder, Lino und Dino und somit allen Lebewesen die mir auf dieser Erde noch wirklich etwas bedeuteten, denen ich blind vertraute und in diesem Moment war ich nicht nur so atemberaubend frei, nein ich war auch vollkommen glücklich und fühlte mich leicht wie eine Feder. Nur ob diese langsam fallen, schweben oder scheinbar schwerelos fliegen würde wusste ich noch nicht.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top