24. Kapitel

Müde schaute ich meinem Spiegelbild noch einmal ins Gesicht, bevor ich das Bad endgültig verließ, das Licht ausknipste und Barfuß über die alten Holzdielen zu meiner Zimmertür tapste.

Wie inzwischen jeden Abend, klopfte ich noch einmal an Linos angelehnte Zimmertür und wartete bis wenig später ein „Herein!", durch den Türspalt kam. Vorsichtig schob ich die massive Holztür auf und sah Lino an seinem Schreibtisch über seinen Computer gebeugt dasitzen.

Das machte er in letzter Zeit ziemlich oft, doch auch wenn ich ihn schon mehrmals darauf angesprochen hatte, wollte er mir nie verraten was er da eigentlich machte. Trotzdem hatte ich schon einen Blick auf die Liste erhaschen können an der er arbeitete als er sie einmal vergessen hatte zu schließen und war mir ziemlich sicher, dass er alle Themen in der Schule auflistete, die ich letztes Jahr verpasst hatte.

Einerseits fand ich das zwar total lieb von ihm, doch andererseits wollte ich auch nicht, dass er sich so viel Arbeit damit machte. Da er mich jedoch damit überraschen wollte, hatte ich es nicht übers Herz gebracht ihm zu sagen, dass er das echt nicht tun brauchte und somit blieb mir also keine andere Wahl als ihn einfach machen zu lassen.

„Na", Lino sah kurz auf bevor er wie immer hektisch seinen Laptop zuklappte und sich mit seinem Schreibtischstuhl ganz zu mir umdrehte.

„Na", erwiderte ich.

Linos Blick blieb an meinem langen Schlaft-shirt hängen: „Gehst du heute gar nicht zu Feder?", er fragte das mit einer solchen Verständlichkeit, als würde ich schon seit Jahren jede Nacht bei ihr verbringen.

Als Antwort schüttelte ich nur den Kopf und musste mal wieder darüber Lächeln, dass er mich so gut kannte. Am Anfang war ich zwar einfach nur in dem langen T-Shirt zu Feder auf die Weide gegangen, doch nachdem ich jeden Morgen unzählige Mückenstiche gehabt hatte, war ich dann doch zu Jeans und einem dünnen Langarmshirt gewechselt.

„Nein, ich war gestern Nacht bis zum Sonnenaufgang bei ihr und bin dann direkt mit ihr den ganzen Tag über ausgeritten. Deshalb wollte ich heute Nacht hier bleiben um ein bisschen schlafen zu können"

Lino sagte nichts darauf, doch ich wusste, dass er sein „Habe ich dir doch gleich gesagt!", nur schwer zurückhalten konnte. Erst neulich hatten wir beide darüber diskutiert, weil er gefunden hatte, dass ich in letzter Zeit viel zu wenig Schlaf bekam. Aber auch wenn ich gewusst hatte, wie sehr er mit seiner Vermutung richtig lag, hatte ich es immer wieder abgestritten.

Ja ich schlief echt zu wenig, aber das lag doch nicht an Feder, sondern allein an mir selbst. Denn selbst Feder hatte mir schon mehrmals angeboten bei ihr in ihrem Unterstand ein wenig zu schlafen, doch ich war viel lieber gemeinsam mit ihr draußen gewesen und hatte in den Sternenhimmel gesehen. Dabei waren mir auch immer irgendwann die Augen zugefallen, doch wenn man schon sobald die Sonne aufging wieder zurückmusste, da Linos Eltern ja nichts merken sollten, waren die Stunden des Schlafens gezählt.

„Bis Morgen dann."

„Bis Morgen."

Schon bevor ich mich ganz umgedreht hatte, klappte Lino seinen Laptop wieder auf und während ich seine Zimmertür hinter mir schloss, konnte ich ein Gähnen nicht unterdrücken.

Nachdem ich zwei Türen weiter in mein Zimmer gegangen war, tapste ich nur noch auf mein Bett zu und ließ mich mit ausgebreiteten Armen auf die weiche Matratze fallen.

Ausschlafen. Morgen früh würde ich endlich so lange ausschlafen können wie ich wollte und auch wenn ich Feder und unsere gemeinsamen Nächte auf der Koppel heute Nacht bestimmt vermissen würde, freute ich mich endlich mal wieder in meinem eigenen Bett zu schlafen. Denn das bestand nicht nur aus bloßer Erde und einem Apfelbaumbaumstamm in meinem Rücken.

Mittlerweile hatte ich in Feders Unterstand zwar auch Stroh eingestreut, dass ich natürlich auch regelmäßig mistete, doch ich kam ja nicht zu ihr, um alleine in dem weichen Stroh zu schlafen, sondern weil ich bei ihr sein wollte. Wenn das dann zur Folge hatte, dass ich die ganze Nacht an einem Apfelbaum gelehnt oder in dem hohen Graß liegen musste, dann war das ebenso.

All diese Abende hatte ich mein Bett auch kein einziges Mal vermisst und hatte die Nächte auf Feders Koppel auch um nichts auf der Welt eintauschen wollen, doch jetzt wieder in meinem Bett zu schlafen, wenn auch nur für eine Nacht hatte auch etwas sehr Erholsames.

Ich legte meinen Kopf auf mein Kopfkissen und zog die Bettdecke über meine nackten Beine, doch obwohl ich vorhin noch das Gefühl gehabt hatte, gleich im Stehen einzuschlafen, wenn ich nicht sofort ins Bett gehen würde, wollten meine Gedanken nun einfach nicht zur Ruhe kommen.

Eine Weile starrte ich einfach an die hohe, leicht fliederfarbene Decke, die dieselbe Farbe hatte wie die restlichen Wände meines Zimmers. Doch sosehr ich auch versuchte mich nur aufs einschlafen zu konzentrierten, drehten sich meine Gedanken um ganz andere Dinge.

Noch immer konnte ich nicht glauben, was Lino und seine Eltern mir vor ein paar Tagen angeboten hatten und wie sehr sie sich in der Schule und auch generell für mich eingesetzt hatten und es auch immer noch taten rührte mich mehr als ich zugeben wollte. Sie wollten immer für mich da sein und ich war ihnen echt dankbar dafür.

Aber auch die Abenteuer, die ich tagtäglich mit Feder erlebte und die unzähligen Momente in denen ich mit ihr zusammen einfach frei sein konnte, konnte ich noch immer gar nicht richtig begreifen.

Meine Gedanken kreisten immer weiter, doch irgendwann blieben sie doch wieder bei Feder hängen, und bei Lino um genau zu sein. Noch immer verstand ich nicht, warum Feder jedes Mal so komisch reagierte, sobald Marcellino in ihre Sichtweite kam.

Schon das erste Mal als ich sie auf der großen Weide wenn auch völlig unverhofft getroffen hatte, hatte sie die Flucht ergriffen sobald Lino auf uns zugekommen war. Auch die ersten Begegnungen mit ihm danach, bei denen ich dabei gewesen war, hatte sie mich unbedingt vor ihm beschützen wollen. Jetzt war es zwar nicht mehr so schlimm wie am Anfang doch auch wenn sie es vor mir geheim zuhalten versuchte wusste ich, dass sie sich noch immer anspannte sobald sie ihn sah. Trotz der vielen Stunden bei Spaziergängen im Wald, die wir inzwischen schon zu dritt miteinander verbracht hatten, spürte ich das sie immer am liebsten die Flucht ergreifen wollte, sobald er in ihrer Nähe war.

Aber wieso? Vor dem Unfall war doch alles anders gewesen. Mir schossen Bilder durch den Kopf, in denen ich und Lino gemeinsam auf Feders Weide für die Schule gelernt hatten, mit einer Feder die vollkommen entspannt gewesen war, oder wie oft auch Lino früher Feder gekrault hatte.

Wie hatte sich das alles so sehr verändern können? Hatte sie der Unfall damals so sehr verändert? Ja, mir war aufgefallen das sie viel scheuer und vorsichtiger war als früher, wenn auch nicht zu mir, doch ihr Verhalten gegenüber Lino, das war doch schon keine Vorsicht mehr, oder?

Ich brauchte ein bisschen um eine Antwort darauf zu finden von der ich mir sicher war, dass sie stimmte, aber nein, das war definitiv nicht mehr nur normale Vorsicht oder Scheu. Das was in ihren Augen stand sobald sie ihn entdeckte war pure Panik.

Auch wenn ich nicht wusste, warum sie so empfand wurde mir bewusst wie viel Überwindung es sie jedes Mal kosten musste um trotzdem bei mir zu bleiben, wenn er da war. Aber auch wenn es ihr noch so schwerfiel, war sie mir noch kein einziges Mal von der Seite gewichen.

Dafür war ich ihr echt dankbar, doch trotzdem erklärte es mir noch nicht, warum sie sich so verhielt.

Kam das wirklich nur von dem Unfall? Immerhin war Lino auch mit auf der Weide gewesen und hatte mich am Ende sogar vor ihr beschützt. War Feder an dem Tag nicht auch an ihrer Flanke verletzt worden? Mit der Mistgabel und das sogar ziemlich tief. Konnte das ihre Angst vor Marcellino vielleicht erklären?

Schon wieder hatte ich das Gefühl das da noch so viel mehr war als ich eigentlich wusste und verstand, doch gleichzeitig bemerkte ich, dass ich das vorerst wohl auch nicht würde ändern können. Denn weder Feder noch Lino würden mir erzählen, was zwischen ihnen vorgefallen war, auch wenn ich sie danach fragen würde.

Seufzend drehte ich mich auf die andere Seite in meinem Bett und sah aus dem Fenster. Erst jetzt viel mir auf, dass ich ganz vergessen hatte die violetten Vorhänge zuzuziehen. Einen Moment spielte ich noch mit dem Gedanken aufzustehen und sie vor das Fenster zuziehen, aber ich wollte nicht noch einmal aufstehen und zum anderen genoss ich es so wenigstens ein bisschen die Sterne sehen zu können.

Mit einem Mal wurde mir bewusst, wie sehr ich mich in den letzten Wochen verändert hatte: ich saß nicht mehr nur allein in meinem Zimmer, sprach wieder mit anderen, machte fast wieder genauso viel mit Lino wie früher und hatte mich zumindest einmal mit meinen Freunden getroffen. Fast alles war wieder so wie es vor einem Jahr immer gewesen war, doch je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr kam ich auch zu dem Ergebnis, dass das vielleicht gar nicht so schlecht war.

Aber vor allen Dingen wurde mir bewusst, dass wohlmöglich all das nicht passiert wäre, wenn ich Feder vor etwa zweieinhalb Monaten nicht wiedergetroffen hätte. Fest stand, dass ich das alles nie im Leben ohne sie geschafft hätte.

Klar es war nicht immer einfach gewesen und mehr als einmal hatte ich darüber nachgedacht aufzugeben und mich wieder in meinem Zimmer zu verstecken. Doch gleichzeitig hatte ich gewusst, dass ich das niemals getan hätte, denn dafür hätte ich Feder wieder im Stich lassen müssen und ich hatte mir geschworen das nie wieder zu tun.

Wenn ich sie jedoch nicht wiedergetroffen hätte, dann hätte ich mir vielleicht für den Rest meines Lebens das Gegenteil einzureden versucht, auch wenn ich ganz genau gewusst hätte, dass das nicht stimmte.

Durch sie hatte ich gezeigt bekommen was es eigentlich bedeutete zu Leben und dass man im hier und jetzt leben sollte. Denn man konnte nicht verändern was in der Vergangenheit geschehen war, aber mit seinem Handeln die Zukunft beeinflussen. Doch das gelang nur, wenn man mit seiner Vergangenheit abgeschlossen hatte. Und auch wenn ich das noch nicht geschafft hatte, akzeptierte mich Feder so wie ich war.

Nur weil sie mir gezeigt hatte, dass es manchmal vollkommen ausreichte man selber zu sein und dass man nicht immer auf alle Fragen eine Antwort haben musste, war ich soweit gekommen. Und weil sie immer für mich da gewesen war.

Manchmal glaubte ich, nein ich war mir sogar sicher, dass unsere Verbindung und unser gegenseitiges Vertrauern stärker war als jemals zuvor, auch wenn wir uns verändert hatten, oder vielleicht gerade deswegen.

Schon seitdem ich sie kannte waren wir immer ein Herz und eine Seele gewesen, doch trotzdem waren wir in der letzten Zeit enger zusammengewachsen als vielleicht jemals zuvor. Denn inzwischen war ich mir nicht nur sicher, dass ich ihr in jeder Sekunde mein Leben anvertrauen würde, wenn ich müsste, sondern auch dass sie mir wichtiger war als alles andere auf der Welt und das würde auch immer so bleiben.

Früher hatten wir unsere Nachmittage meist gemeinsam auf ihrer Koppel oder auf den Außenplätzen verbracht, wir hatten viel am Boden trainiert und waren auch geritten. Wir waren auch oft Ausgeritten und ich hatte mich so frei und wohl wie nirgendwo anders auf der Welt gefühlt, doch es war einfach etwas anderes gewesen als jetzt.

Nicht das es damals nicht schön gewesen wäre, denn das war es ganz bestimmt, es war sogar perfekt gewesen und im Nachhinein konnte ich einfach nicht verstehen wie ich es auch nur einen Tag ohne Feder hatte aushalten können. Aber erst jetzt hatte ich wirklich verstanden, was Freiheit für mich bedeutete.

Denn es war viel mehr als mit Feder ohne Sattel und Trense über Wiesen, Felder und durch Wälder zu fliegen oder über ihren Weidezaun zu springen, sondern einfach immer, wenn ich bei ihr war.

Müde fielen mir die Augen zu und ein Lächeln stahl sich auf meine Lippen, als ich an die schier unendlichen Felder dachte, über die wir heute fast schneller als der Wind galoppiert waren und wie gut danach der Schatten des dichten Laubdaches des Waldes über uns getan hatte.

Wenn ich bei ihr war, konnte ich alles andere vergessen und das war es wonach ich mich die ganze Zeit gesehnt hatte, oder? Mit geschlossenen Augen dachte ich einen Moment nach und bemerkte, dass ich mich selber korrigieren musste. Ja, ich hatte mich danach gesehnt kurz alles vergessen zu können und frei zu sein, aber vor allem hatte ich mich die ganze Zeit nach Feder gesehnt.

Konnte es wirklich sein, dass ich trotz allem wieder glücklich werden konnte? In diesem Moment fühlte es sich nämlich ziemlich danach an. Doch durfte ich das überhaupt? Bilder von meinen Eltern erschienen vor meinem inneren Auge und blieben daran hängen, wie ich sie leblos auf der Weide hatte liegen sehen.

Für einen Moment bildete ich mir ein ihre Hände die ich damals umfasst hatte in den meinen zu spüren, doch als ich eine Sekunde später auf sie blickte bemerkte ich, dass es nur die Bettdecke war, die ich fest umklammert hatte. Hatten sie mir in ihrem Brief nicht selber geschrieben, dass ich immer glücklich sein sollte? Aber hatten sie da auch schon gewusst wie sie sterben würden?

Ich schüttelte meinen Kopf um die Gedanken daran zu vertreiben und versuchte an den Ausritt zu denken, den Feder und ich vor ein paar Wochen zu dem kleinen, für mich magischen See gemacht hatten.

Wir beide hatten uns vorgenommen dort auf jeden Fall noch einmal hinzureiten, doch bis jetzt waren wir damit beschäftigt gewesen, dass Feder mir immer und immer wieder neue Plätze zeigte, an denen ich bis jetzt noch kein einziges Mal gewesen war.

Langsam schloss ich wieder meine Augen, die ich wie jedes Mal, wenn mir Bilder von jenem Tag auf Feders alter Weide durch den Kopf strömten kurz bevor ich einschlief wieder aufgerissen hatte und versuchte nur noch an das so wunderbar klare Wasser des Sees zu denken.

Während ich es schaffte mich immer weiter zu entspannen, übermannte mich meine Müdigkeit und mir wurde bewusst, wie wenig ich eigentlich in den letzten Tagen geschlafen hatte, einfach weil ich so viel mit Feder erlebte.

Doch jetzt würde ich ja genügend Zeit haben, mein Schlafdefizit wieder halbwegs auszugleichen.

Wie aus Reflex zog ich meine Decke bis über meine Ohren hinauf, nicht weil es hier so kalt war, denn eigentlich war mir schon wieder viel zu warm. Sondern weil ich das mit Feders Abschwitzdecke die letzten Wochen auch immer genauso gemacht hatte, wenn ich auf ihrer Weide geschlafen hatte. Mir war zwar auch in dem langen Graß nicht kalt gewesen, da es auch nachts zurzeit mindestens immer 20 Grad warm gewesen war, doch es war einfach viel gemütlicher gewesen.

Ich ließ zu das meine Gedanken immer weiter abdrifteten und spürte wie ich müder und müder wurde und diese mich immer mehr in die Untiefen der Traumwelt sogen. Doch nur Millisekunden bevor ich eingeschlafen war, hörte ich wieder ihre Stimme, oder war es doch nur ein Traum?

„Es ist nicht immer alles so wie es scheint mein kleiner Engel. Die Sicht um mich herum verschwamm immer wieder, ohne dass ich dagegen etwas tun konnte."

„Wenn wir dir eines für dein weiteres Leben mitgeben könnten, dann sei es, dass du immer so neugierig bleibst wie du jetzt bist und immer alles hinterfragst." Inzwischen sah ich nichts als weiß um mich herum und fühlte mich, als würde ich in sehr dichtem Nebel stehen. Jedoch war mir genau bewusst, dass das hier nicht bloß Nebel war und diese Tatsache ließ mein Herz rasen.

„Nur so hast du die Chance die Wahrheit zu ergründen, auch wenn es manchmal einfacher ist die Wahrheit zu erfahren, als sie sich selber auch einzugestehen..."

„Jetzt ist aber genug!" Die bestimmte, aber auch total liebevolle Stimme meiner Mutter versetzte mir einen Stich in meinem Herzen, als sie meinen Vater genauso wie früher auch oft mich sanft verwarnte, auch wenn ich nicht ganz verstand wieso. Ein Bild tauchte vor mir jedoch war es viel deutlicher als die Bilder der Rückblenden zuvor. Sah ich es überhaupt nur vor meinem inneren Auge, oder in dem dichten weiß, dass mich zu alles Seiten umgab? Ich wusste es nicht doch konnte mich mit meinen Eltern in meinem Kinderbett sitzen sehen, so wie wir es früher, als ich noch ganz klein gewesen war jeden Tag gemacht hatten. „Möchtest du jetzt nicht lieber deine Gutenachtgeschichte hören?"

„Jaaaaa! Bitte."

„Okay", begann mein Vater und tief in mir drin schienen mir seine folgenden Worte merkwürdig vertraut. Diese Rückblende war anders als die zuvor und erst jetzt wurde mir mit einem Mal bewusst, dass ich sie kannte. Es war nicht wie bei den anderen, denn obwohl mir diese auch bekannt vorgekommen waren, hatte ich diese hier schon einmal erlebt. An einem der Tage auf Feders weiter Koppel.

„Stell dir vor, dass es in dieser Welt viel mehr gibt als wir Menschen sehen und begreifen können..."

„Ist das nicht auch so Papa... ich glaube auf jeden Fall an Trolle und Feen, und an Einhörner, ja Einhörner gibt es sowieso."

Ich sah wie mein Vater mich amüsiert an schmunzelte und bei seinem so liebevollen Blick hatte ich für Sekunden das Gefühl, dass mein Herz vor Schmerz gleich zerreißen würde.

„Ja, es mag sein, dass es Einhörner, Fenn, Elfen und Trolle gibt, ganz bestimmt sogar, wenn du an sie glaubst, doch heute Abend wollen dir deine Mutter und ich von etwas anderem eine Geschichte erzählen."

„Wovon denn?", hörte ich mich mit neugieriger piepse Stimme selber fragen.

„Von dem das vielleicht länger auf dieser Erde herrscht als der Anbeginn der Zeit, doch das seit jeher für ein Gleichgewicht zwischen allen Elementen und allen Lebewesen sorgt..."

„Genau", unterbrach mein Vater meine Mutter, doch nur auf ganz liebevolle Art und Weise. Sie hatten schon immer die Gabe gehabt zu wissen, worüber der andere redete und dessen Sätze zu vollenden. „Doch Strenggenommen, ist es nicht nur eine Sache von der wir dir heute erzählen wollen, sondern es sind zwei."

„Diese beiden Mächte sorgen für das Gleichgewicht, das unter allen herrscht: den Dingen, den Pflanzen und Tieren und auch in dir."

„Sie werden niemals zusammengehören, sondern immer das Gegenteil voneinander sein, doch vielleicht müssen sie das auch, denn nur dadurch schaffen sie es alles im Gleichgewicht zu halten."

„Versteh uns nicht falsch, sie sind keine Feinde, jedenfalls waren sie das bisher nicht, doch auch wenn sie es wollen würden, sie dürften sich gegenseitig nicht verstehen..."

„Du musst dir vorstellen, dass diese Mächte jedoch nicht allein funktionieren, doch es gibt ein paar ganz besondere Menschen, hineingeboren in zwei Familien, die dazu bestimmt sind, über diese Mächte zu herrschen."

„Man kann die Mächte nicht beurteilen, es gibt nicht wie sonst in der Welt ein gut oder böse, denn nur zusammen sind sie eins und alleine nichts."

„Zwischen ihnen lebte ewiger Frieden, bis auf einmal etwas geschah mit dem keiner gerechnet hatte..." mein Vater verstummte ziemlich plötzlich und ich konnte sehen wie meine Mutter ihm mit ihrem Ellenbogen sanft in die Seite fuhr um ihn am Weitersprechen zu hindern. Doch bevor ich mir diese Erinnerung einprägen konnte um mich an ihr beiden Gesichter von damals immer erinnern zu können, war sie auch schon wieder verschwunden.

„Denn auf einmal gab es jemanden ganz besonderes, ja eine Prinzessin sozusagen, die als einzige die Wahl hatte zu entscheiden zu welcher Seite sie gehören würde. Doch nicht nur das..."

„...sie hatte auch mehr Fähigkeiten, als alle anderen Sternenhüter, die Hüter der Mächte zusammen. Für welche Seite auch immer sie sich entscheiden würde, mit ihr würde diese Macht über die andere siegen können."

„Das Problem war nur, dass beide Mächte davon wussten, nur hatten sie keine Ahnung wer dieses Mädchen sein könnte. Somit brach ein stiller Krieg zwischen ihnen aus..."

„...ja, du kannst es dir wie ein stilles Kräftemessen der beiden Mächte vorstellen, die sonst seit eh und je für das Gleichgewicht von allen gesucht hatten."

„Nur das kleine Mädchen konnte jetzt noch verhindern, dass aus dem Kräftemessen ein Krieg wurde, der alles aus dem Gleichgewicht bringen und somit ins Chaos stürzen konnte."

Ich hörte wie die kleinere Version meiner Selbst stark die Luft einsog und wusste das mein Vater nun meiner Mutter einen warnenden Blick zuwerfen würde, auch wenn ich von all dem nichts sehen konnte.

„Hat sie es denn geschafft?"

„Na klar hat sie das, meine Prinzessin.", die Stimme meiner Mutter klang ganz liebevoll und ich sah ganz deutlich vor mir wie sie mich in ihre Arme schloss, um mir die Angst zu nehmen, wegen der meine hohe Stimme sogar angefangen hatte zu zittern. „Und weißt du auch warum sie das geschafft hat?"

Ich hörte nichts doch wusste aus Intuition, dass ich schüchtern meinen Kopf geschüttelt haben musste.

„Weil sie immer auf ihr Herz gehört hat!" Vor meinem inneren Auge, oder war es doch im Nebel konnte ich sehen wie meine Mutter mir meine blonden, zu dem Zeitpunkt noch viel kürzeren Haare aus dem Gesicht strich und mein Vater mir ganz vorsichtig an die Stelle stupste, an der sich auch mein Herz befand.

Der Nebel um mich herum lichtete sich langsam und ich wusste das diese Erinnerung langsam verblasste und genauso wie die anderen zuvor wieder verschwinden würde, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Ein letztes Mal hörte ich mein helles, fröhliches Lachen und konnte mir vorstellen wie sehr ich an diesem Abend mit meinen Eltern noch im Bett getobt haben musste, auch wenn ich mich nicht mehr daran erinnern konnte.

Während sich der Nebel um mich herum ganz langsam vollständig auflöste und so auch die Reste der Bilder die ich gesehen hatte, und die noch on meinen Gedanken umherkreißten, starrte ich an meine Zimmerdecke.

Ein leises Keuchen riss mich aus meiner Schockstarre, aber erst Sekunden später begriff ich, dass ich selbst diese erstickten Geräusche von mir gab. Doch ich war in diesem Moment viel zu schwach um mich darauf zu konzentrieren, mich selber wieder zu beruhigen.

Woher kamen mir diese Rückblenden so vertraut vor? Obwohl ich darauf eine Antwort hatte, traute ich mich nicht sie auch nur zu denken, aus Angst sie könnte dann tatsächlich noch realer werden als sie es wahrscheinlich sowieso schon war.

Doch waren sie nicht sowieso schon viel zu real? Auch wenn sie mir Momente aus meiner Kindheit zeigten, an die ich mich selber nicht mehr erinnern konnte? Oh ja, das waren sie. Aber noch viel mehr verängstigte mich, dass ich das Gefühl hatte diese Rückblenden schon einmal erlebt zu haben, obwohl ich mich nicht mehr an sie erinnern konnte.

Mit einem Mal schaffte ich es nicht mehr meine Tränen zurückzuhalten und mein ersticktes Keuchen wurde zu einem leisem, hemmungslosen schluchzen. Was wollte mir mein eigenes Leben damit sagen? Was hatten meine Eltern mir über diese beiden Mächte erzählen wollen? Denn für mich stand fest, dass dies vielmehr als nur eine erfundene Gutenachtgeschichte war. Aber noch viel wichtiger: warum bestand mein kleines, erbärmliches Leben in letzter Zeit aus gefühlten tausenden von Fragen, auf die ich überhaupt keine Antworten fand? Und wenn doch, warf die Antwort nur noch eine Million neue Fragen auf.

Zudem kam, dass diese Rückblenden nicht regelmäßig kamen oder immer weniger wurden, nein sie häuften sich immer mehr und mittlerweile war es so schlimm, dass ich mich schon fast gewundert hatte, warum ich heute noch keine gehabt hatte.

Fast jeden Tag riss mich ein solches Ereignis einfach vollkommen aus meinem Konzept und ich war nur zu froh, dass mir das abgesehen von dem Ball noch nie vor anderen Menschen passiert war.

Was die sich sonst über mich denken würden, wollte ich gar nicht wissen. Aber vielleicht hätten sie ja auch einfach nur recht? Vielleicht war ich gerade dabei durchzudrehen?

Doch warum kamen mir diese Rückblenden dann so unheimlich vertraut vor? Warum hatte ich das Gefühl sie in weiter Ferne schon einmal erlebt zu haben, wenn ich mich gar nicht an sie erinnern konnte?

Ein lautes Schluchzen durchfuhr mich, aber ich gab mir alle Mühe mich weiter zusammenzureißen, denn ich wollte nicht das Lino mich noch hörte und dann weinend in meinem Bett fand. Er würde sich nur Sorgen machen und das wollte ich vermeiden.

Warum um alles in der Welt hatte ich jedes Mal danach das Gefühl, dass da noch so viel mehr war als ich im Moment verstand. Dieses überfiel mich in letzter Zeit nämlich auch immer häufiger, besonders wenn ich bei Lino war, auch wenn ich keine Ahnung hatte, worauf es hinauswollte.

Es schien mir nur zu sagen, dass da noch etwas war, was ich einst mit Sicherheit gewusst hatte, doch an das ich mich nun nicht mehr erinnern konnte. Aber egal wie hoch ich mich im Geiste streckte, es fehlten noch immer ein paar Zentimeter bevor ich diese Erinnerung würde erfassen können. Auch wenn der Abstand zwischen mir und dem, dass ich scheinbar vergessen hatte allmählich immer kleiner wurde, schien es mir trotzdem noch immer viel zu weit weg.

Aber warum? Warum konnte ich mich nicht mehr daran erinnern?

Die Tränen rannen mir heiß meine Wangen hinab, doch ich ließ es einfach geschehen und zog zwischen zwei Schluchzern meine Nase hoch.

Das ich mich an diese eine Sache nicht erinnern konnte, war ja noch okay, doch die Rückblenden... Mit jeder die ich hatte wurde ich mir immer sicherer, dass sie wirklich aus meinem früheren Leben stammen mussten, auch wenn ich mich nicht mehr an sie erinnern konnte. Schon seitdem ich sie das erste Mal erlebt hatte, war mir das eigentlich bewusst gewesen, doch ich hatte es immer bestmöglich verdrängt.

Nun konnte ich es jedoch nicht weiter verdrängen. Diese Rückblenden, wie ich sie immer nannte, da mir einfach kein besserer Name eingefallen war, waren Teil meines früheren Lebens. Jedoch konnte ich mich weder an sie erinnern, noch was davor oder danach passiert war. Und auch wenn ich mich verzweifelt dagegen zu wehren versuchte, hatte ich das Gefühl, dass da noch so viel mehr war von dem ich in diesem Moment noch nichts wusste und an das ich mich eigentlich aber auch erinnern können müsste.

Tausende von Fragen, keine einzige Antwort, daraus schien zurzeit mein ganzes Leben zu bestehen und aus der einen, kleinen Tatsache, dass ich mich an manche Erlebnisse aus meiner Kindheit einfach nicht mehr erinnern konnte. Jedoch wusste ich, dass ich das eigentlich können müsste und ausgerechnet jetzt kamen diese Erinnerungen wieder in mir hoch, ohne dass ich wusste sie schon einmal erlebt zu haben.

Ich konnte mich nicht mehr an sie erinnern, wusste aber gleichzeitig auch, dass ich sie schon einmal selber gemacht hatte. Doch noch viel drängender war das Gefühl das mir in jeder Sekunde zuzuschreien schien, dass ich mich daran erinnern musste um die ganze Wahrheit zu ergründen, die anders war als sie in diesem Moment für mich zu sein schien.

Fest stand, dass da noch viel mehr war als die Dinge an die ich mich jetzt noch erinnern konnte und das bereitete mir einfach nur eiskalte, unbeschreiblich große Angst.

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