20. Kapitel
Ungeschickt versuchte ich auch mit meinem zweiten Bein auf die unterste Latte des Holzzaunes zu klettern und dabei gleichzeitig mein Kleid hochzuhalten. Dieses Mal gestaltete es sich schwieriger über den Zaun zu klettern, da ich am liebsten vermeiden wollte, dass der weiche Stoff ihn überhaupt nur berührte, um nicht irgendwo mit ihm hängen zu bleiben.
Auch wenn es deutlich länger dauerte als sonst, schaffte ich es schließlich doch noch auch seine Oberste Latte zu überwinden und tatsächlich auf der anderen Seite – sogar ohne hinzufallen – wieder hinabzuspringen. Doch noch während meines Sprunges in das weiche Graß, dass ganz leicht unter meinen Füßen kitzelte, hörte ich das leise Geräusch von reißendem Stoff.
Fluchend betrachtete ich den Tüll, der am Ende meines Kleides ziemlich zerrissen war, doch fragte mich schon wenige Sekunden später warum ich mich eigentlich ärgerte. Denn ich hatte etwas, oder jemanden entdeckt, der all meine Wut auf mich selber schon wieder verblassen ließ.
„Feder!", ich rannte über die Wiese auf sie zu und musste lachen als sie aufhörte zu grasen und mir verwirrt von der anderen Seite der Weide entgegenblickte. Als sie nach ein paar Sekunden fröhlich wiehernd auf mich zugetrabt kam, die sie wohl auch gebraucht hatte um sich zu überzeugen, dass es wirklich ich war, die nach ihr rief, obwohl es noch gar nicht dunkel war, bemerkte ich, wie sehr ich sie seit gestern Abend vermisst hatte.
„Oh, Maus, ich muss dir so viel erzählen", fing ich an obwohl ich mir noch nicht mal sicher war ob sie mich schon hören konnte und schloss sie dann doch erst in meine Arme, bevor ich ihr von gestern Nacht berichtete.
Die ganze Zeit über hielt ich sie dabei ganz fest umschlungen und flüsterte in ihre Halsbeuge was ich erlebt hatte. Mir war natürlich klar, dass sie nicht verstehen konnte was ich sagte, doch trotzdem tat es gut ihr davon zu erzählen.
Immer wenn ich bei ihr war, kam es mir so vor als würde sie einen Teil der Last von meinen Schultern nehmen, sodass ich wieder freier atmen konnte.
„... auf jeden Fall ist mir dank Lino bewusst geworden, wie wichtig du mir bist und das ich dir immer vertrauen werde, egal was auch geschehen sein mag, oder eben auch nicht.", noch immer ging mir der Brief von meinen Eltern nicht aus dem Kopf, von dem ich Lino bis jetzt noch nichts erzählt hatte, denn jedes Mal wenn ich kurz davor war, schien mich doch immer irgendetwas davon abzuhalten. Denn auch wenn es nahezu unmöglich war, glaubte ich noch immer, dass Feder in echt, anders als ich unschuldig war.
Schnell schüttelte ich den Kopf und versuchte die Gedanken daran zu verdrängen.
„Du bist mir nämlich wichtiger als alles andere auf dieser Welt Maus und das wird auch immer so bleiben."
Feder wieherte einmal fröhlich und ich wusste, dass sie auch wenn sie nicht verstanden haben konnte, was meine Worte bedeuteten glücklich war.
„Ja meine Maus, du wirst mich jetzt nicht mehr los!", schmunzelnd drückte ich ihr einen Kuss auf ihre Nüstern und musste einfach lachen, als sie mich daraufhin freudig mit ihrer Nase in mein Gesicht zurückstupste. Auch wenn ich mich sehr darüber freute und es schon fast als ein, ich werde auch nie mehr von deiner Seite weichen deutete hob ich schützend meine Arme.
Ohne noch weiter darüber nachzudenken, wandelte ich meinen plötzlichen Geistesblitz in die Realität um und drehte mich so schnell um und lief davon, dass ich bestimmt erst zwei Sekunden später Feders glückliches Quietschen hörte, bevor sie meine Verfolgung aufnahm. Doch diese Zeit hatte mir schon gereicht um bis zum Apfelbaum zu gelangen und mich hinter seinem dicken Stamm zu verstecken.
Den Vorsprung den ich daraus bekommen hatte, dass Feder die Kurve lange nicht so schmal nehmen konnte wie ich nutzte ich um auf die Bäume am anderen Ender der Weide zu zu rennen, auch wenn ich wusste, dass Feder mich bis dorthin schon lange eingeholt haben würde.
Der Tüll und die vielen lagen Stoff meines Kleides wehten um mich herum und ich spürte wie sich die Reste meiner Frisur immer weiter lösten, währen der stoßweise Atem der in meinem Nacken wehte und von Feder kam immer wärmer wurde je näher sie mir kam.
In derselben Sekunde in der sie mich berührte fuhr sie auch schon quietschend wieder herum und stob davon. Lachend rannte ich hinter ihr her, doch der Abstand zwischen uns wurde immer größer.
„Hey Feder!", rief ich bereits vollkommen außer Atem: „Ich fordere einen Nachteilsausgleich wegen meinem Kleid!". Aber Feder drehte sich nicht mal zu mir um und buckelte nur einmal vergnügt, bevor sie abrupt wendete und vor meinen Augen wieder auf den Wald zu rannte.
„Du hast es so gewollt.", ich fing an ihr zu folgen und bemerkte, dass sie in den Bäumen mir gegenüber durch ihre Größe tatsächlich im Nachteil war. Vielleicht hatte sie gemerkt, dass ich heute tatsächlich ein wenig mehr Hilfe brauchte?
Während sie sich so schnell wie nur möglich durch die dichten Sträucher und Büsche zwängte und dabei auch noch versuchte den dicht an dicht stehenden Baumstämmen auszuweichen holte ich immer weiter zu ihr auf.
Mit meiner linken Hand ließ ich mein Kleid los, dass ich zuvor mit beiden Händen hochgehalten hatte, um vorne nicht auf seinen Saum zu treten und streckte sie schräg von mir nach Feder aus, die keine zwei Meter mehr von mir entfernt war.
Allerdings trat da ein Baum in ihren Weg und sie musste stark nach links ausweichen, sodass ich sie nicht mehr zu fassen bekam und sich unser Abstand wieder vergrößerte. Trotzdem hastete ich immer weiter hinter ihr her und berührte sie schließlich an ihrem rechten Hinterbein.
Bevor ich mich jedoch überhaupt umdrehen konnte, lehnte sie sich so weit zur Seite, dass sie mich ganz leicht an meiner Hand mit ihrer Flanke berührte und schnaubte einmal ehe sie wieder weiterrannte.
„Feder!", ich versuchte streng zu wirken, aber konnte mein Lachen doch nicht zurückhalten: „Hast du noch nie etwas von der drei Sekunden Regel gehört?"
Doch anstatt mir zu antworten, galoppierte sie mit einem fröhlichen Wiehern weiter und ich nahm wieder ihre Verfolgung auf.
Als ich sie dieses Mal kurz vor dem Zaun endlich einholte, drehte ich mich sofort um, nachdem ich ihr Fell mit meinen Fingern gestreift hatte und rannte zwischen zwei dicht stehenden Bäumen wieder in die Richtung, die zu ihrem Unterstand führen musste.
Immer wieder konnte ich trotz meinem Versuch mein Kleid hochzuhalten spüren wie es über die Erde schliff und an spitzen Dornenranken hängen blieb, über die ich jedoch so gut es ging immer drüber sprang, damit meine nackten Füße verschont blieben.
Die dünnen Äste auf die ich trat und die sich teilweise ziemlich spitz in meine Fußsohlen stachen knackten, wenn sie unter meinem Gewicht brachen und ich wusste, dass sich der Abstand zwischen mir und Feder immer weiter vergrößerte, da ich sie immer leiser hinter mir her galoppieren hörte.
Doch als die Abstände der Bäume vor mir immer weiter wurden und Laub und herabgefallene Zweige Graß wichen, bemerkte ich, dass ich in dem Wald meinen Vorsprung zu ihr noch weiter hätte vergrößern müssen um überhaupt den Hauch einer Chance zu haben vor ihr zu ihrem Stall zu gelangen.
Trotzdem rannte ich immer weiter auf den bereits verwitterten Unterstand zu und konnte nicht verhindern vor Schock und Freude laut aufzuschreien, als sie vollkommen unerwartet so dicht hinter mir war, dass ihre Nüstern auf einmal meinen Hinterkopf berührten.
Es kam mir so vor als wären wir noch etliche Male jeweils den anderen fangend über die ganze Weide gelaufen und meine Beine fingen schon an bei jedem Schritt zu schmerzen den ich tat, doch das vergnügte Strahlen in Feders Augen, das ich jedes Mal sah wenn sie mich gefangen hatte und ich mich zu ihr umdrehte, ließ mich noch immer lächeln.
Jedoch war gerade Feder dabei mir nachzujagen, denn ich hatte sie bei einem rasanten Sprint zwei Runden um den Apfelbaum mehr eingeholt als sie es erwartet hatte und hatte sie gerade noch so an ihrer Kruppe fangen können, als sie ihre Hinterhand wieder weit unter ihren Mittelpunkt schob um neuen Schwung zu holen.
Feder, deren Hufe ich immer lauter auf das trockene Graß hinter mir aufschlagen hörte und dadurch wusste, dass sie mich bald erreicht haben würde, jagte mir ein paar Adrenalinstöße durch meinen Körper und ich beschleunigte meine Schritte noch einmal so schnell ich konnte.
Dabei rutschte mir der weiche Stoff meines Kleides jedoch aus den Händen und auch wenn ich es zuerst gar nicht bemerkte, stellte es sich später als fataler Fehler raus. Denn nun schliff mein Ballkleid auch vorne mindestens fünf Zentimeter über der Erde und keine zwei Meter später trat ich auf seinen Saum.
Mit einem überraschten Aufschrei geriet ich ins Stolpern und meine Welt geriet für Sekunden gefährlich ins Schaukeln, bevor ich auf den Boden fiel.
Durch das weiche, wenn auch bereits etwas vertrocknete Graß wurde mein Sturz jedoch soweit gebremst, dass ich gar nicht so recht bemerkte, wie schnell ich dem Boden immer näherkam und wie plötzlich mein Fallen auf einmal stoppte.
Feder quiekte ebenfalls überrascht hinter mir und schaffte es gerade noch so rechtzeitig vor mir zu bremsen, während ich mich eher ungeschickt von meinem Bauch auf meinen Rücken drehte und mir die Hände vors Gesicht schlug, um nicht von der Sonne geblendet zu werden.
Danach konnte ich mein Lachen nicht mehr zurückhalten, als ich daran dachte was für eine schicke Figur ich beim Fallen abgegeben haben musste.
Ganz vorsichtig stupste Feder mich an und ich nahm meine Hände von den Augen um sie erkennen zu können. Wäre sie ein Mensch gewesen, hätte sie jetzt ganz sicher gefragt ob alles okay wäre, dass konnte ich nur zu gut an ihrer Mimik erkennen. Diese hellte sich jedoch auf als sie erkannte, dass mein ganzer Körper nur vor Lachen bebte und nicht, weil ich weinte und sie schnaubte mir ein paar Mal direkt ins Gesicht, fast so als würde sie sich mit mir amüsieren.
„Pause?", fragend sah ich sie an und sie schnaubte noch einmal mit hoch erhobenem Kopf, bevor sie ihn wieder senkte und mich zu mustern schien. Noch immer funkelte der Spaß in ihren Engelsblauen Augen und ich fühlte mich als ich wie so oft zuvor in ihnen versank so frei wie schon lange nicht mehr.
„Du hast meinetwegen auch gewonnen!", ein zufriedenes, wenn auch leises Wiehern zeigte, mir dass sie nur allzu sehr damit einverstanden zu sein schien und dass wir uns auch ohne Worte perfekt verstanden.
Ihre Mähne kitzelte auf meinem Gesicht als sie den Kopf noch weiter zu mir herabsenkte und ich vorsichtig über ihre Nüstern fuhr.
„Es ist nicht immer alles so wie es scheint mein kleiner Engel"... Eigentlich hätte ich ab dem ersten Satz gar nicht weiterhören müssen um zu begreifen was jetzt passierte, doch ich schaffte es auch nicht mich davon loszureißen.
„Wenn wir dir eines für dein weiteres Leben mitgeben könnten, dann sei es, dass du immer so neugierig bleibst wie du jetzt bist und immer alles hinterfragst."
„Nur so hast du die Chance die Wahrheit zu ergründen, auch wenn es manchmal einfacher ist die Wahrheit zu erfahren, als sie sich selber auch einzugestehen..."
„Jetzt ist aber genug!" Die bestimmte, aber auch total liebevolle Stimme meiner Mutter versetzte mir einen Stich in meinem Herzen, als sie meinen Vater genauso wie früher auch oft mich sanft verwarnte, obwohl ich nicht ganz verstand wieso. Die Umgebung um mich herum verschwamm und fast schon konnte ich uns alle drei auf meinem Kinderbett sitzen sehen, wie wir es früher, als ich noch ganz klein gewesen war jeden Tag gemacht hatten. „Möchtest du jetzt nicht lieber deine Gutenachtgeschichte hören?"
„Jaaaaa! Bitte."
„Okay", begann mein Vater und tief in mir drin schienen mir seine folgenden Worte merkwürdig vertraut, auch wenn ich mich nicht mehr an sie erinnern konnte. „Stell dir vor, dass es in dieser Welt viel mehr gibt als wir Menschen sehen und begreifen können..."
„Ist das nicht auch so Papa... ich glaube auf jeden Fall an Trolle und Feen, und an Einhörner, ja Einhörner gibt es sowieso."
Vor meinem inneren Auge konnte ich meinen Vater amüsiert schmunzeln sehen, doch diese Erinnerung verblasste wieder bevor ich sie mir überhaupt einprägen konnte.
„Ja, es mag sein, dass es Einhörner, Feen, Elfen und Trolle gibt, ganz bestimmt sogar, wenn du an sie glaubst, doch heute Abend wollen dir deine Mutter und ich von etwas anderem eine Geschichte erzählen."
„Wovon denn?", hörte ich mich mit neugieriger piepse Stimme selber fragen.
„Von dem das vielleicht länger auf dieser Erde herrscht als der Anbeginn der Zeit, doch das seit jeher für ein Gleichgewicht zwischen allen Elementen und allen Lebewesen sorgt..."
„Genau", unterbrach mein Vater meine Mutter und in diesem Moment war ich mir ganz sicher, dass ich das von ihm haben musste. Doch bei den beiden war es schon immer etwas ganz Besonderes gewesen: sie unterbrachen sich nicht gegenseitig, sie ergänzten genau das was der andere noch hatte sagen wollen. Sie waren einfach bei allen Dingen die sie getan hatten eine Einheit gewesen, doch besonders hatte ich das früher immer genossen, wenn sie mir eine Geschichte erzählt hatten und ihre einzelnen Sätze zu ganzen Abenteuern verschmolzen waren. „Doch Strenggenommen, ist es nicht nur eine Sache von der wir dir heute erzählen wollen, sondern es sind zwei."
„Diese beiden Mächte sorgen für das Gleichgewicht, das unter allen herrscht: den Dingen, den Pflanzen und Tieren und auch in dir."
„Sie werden niemals zusammengehören, sondern immer das Gegenteil voneinander sein, doch vielleicht müssen sie das auch, denn nur dadurch schaffen sie es alles im Gleichgewicht zu halten."
„Versteh uns nicht falsch, sie sind keine Feinde, jedenfalls waren sie das bisher nicht, doch auch wenn sie es wollen würden, sie dürften sich gegenseitig nicht verstehen, nicht zu sehr zumindest..."
„Du musst dir vorstellen, dass diese Mächte jedoch nicht allein funktionieren, doch es gibt ein paar ganz besondere Menschen, hineingeboren in zwei Familien, die dazu bestimmt sind, über sie zu herrschen."
„Man kann die Mächte nicht beurteilen, es gibt nicht wie sonst in der Welt ein gut oder böse, ein richtig oder falsch denn nur zusammen sind sie eins und alleine nichts."
„Zwischen ihnen lebte ewiger Frieden, bis auf einmal etwas geschah mit dem keiner gerechnet hatte..." mein Vater verstummte ziemlich plötzlich und ich konnte mir nur zu gut vorstellen wie meine Mutter ihm mit ihrem Ellenbogen sanft in die Seite fuhr um ihn am Weitersprechen zu hindern.
„Denn auf einmal gab es jemanden ganz besonderes, ja eine Prinzessin sozusagen, die als einzige die Wahl hatte zu entscheiden zu welcher Seite sie gehören würde. Doch nicht nur das..."
„...sie hatte auch mehr Fähigkeiten, als alle anderen Sternenhüter, die Hüter der Mächte zusammen. Für welche Seite auch immer sie sich entscheiden würde, mit ihr würde diese Macht über die andere siegen können."
„Das Problem war nur, dass beide Mächte davon wussten, nur hatten sie keine Ahnung wer dieses Mädchen sein könnte. Somit brach ein stiller Krieg zwischen ihnen aus..."
„...ja, du kannst es dir wie ein stilles Kräftemessen der beiden Mächte vorstellen, die sonst seit eh und je für das Gleichgewicht von allen gesucht hatten."
„Nur das kleine Mädchen konnte jetzt noch verhindern, dass aus dem Kräftemessen ein Krieg wurde, der alles aus dem Gleichgewicht bringen und somit ins Chaos stürzen konnte."
Ich hörte wie die kleinere Version meiner Selbst stark die Luft einsog und wusste das mein Vater nun meiner Mutter einen warnenden Blick zuwerfen würde, auch wenn ich von all dem nichts sehen konnte.
„Hat sie es denn geschafft?"
„Na klar hat sie das, meine Prinzessin.", die Stimme meiner Mutter klang ganz liebevoll und ich wusste das sie damals versucht hatte mir die Angst zu nehmen, wegen der meine hohe Stimme sogar angefangen hatte zu zittern. „Und weißt du auch warum sie das geschafft hat?"
Ich hörte nichts doch wusste aus Intuition, dass ich schüchtern meinen Kopf geschüttelt haben musste.
„Weil sie immer auf ihr Herz gehört hat!" Vor meinem inneren Auge konnte ich sehen wie meine Mutter mir meine blonden, zu dem Zeitpunkt noch viel kürzeren Haare aus dem Gesicht strich und mein Vater mir ganz vorsichtig an die Stelle stupste, an der sich mein Herz befand.
Während die Erinnerungen schon wieder zu verblassen begannen, hörte ich wie schon beim letzten Mal mein helles, fröhliches Lachen und konnte mir vorstellen wie sehr ich an diesem Abend mit meinen Eltern noch im Bett getobt haben musste, auch wenn ich mich nicht mehr daran erinnern konnte.
Ganz automatisch fasste ich mir mit meiner rechten Hand ebenfalls dorthin, wo ich mein Herz noch immer erstaunlich schnell schlagen hören konnte und bildete mir fast ein, spüren zu können wie mein Vater mich damals berührt hatte.
„Weil sie auf ihr Herz gehört hat!", hallte die leise Stimme meiner Mutter noch einmal in mir nach, bevor meine Rückblende immer weiter verblasste je mehr ich verzweifelt versuchte daran festzuhalten.
Sanft spürte ich einen warmen Windhauch über mein Gesicht streichen und blinzelte ein paar Mal um die Tränen aus meinen Augen zu vertreiben die ich erst jetzt bemerkte.
Feder schaute noch immer auf mich herab, aber im Gegensatz zu ein paar Sekunden zuvor war das freudige Funkeln aus ihren Augen gewichen und hatte etwas platzgemacht, von dem ich schwören konnte, dass es Besorgnis war.
Mein Herz schlug mir noch immer bis zum Hals und ich hörte das Blut viel zu laut in meinen Ohren rauschen, sodass alles um mich herum zu verstummen und zu verschwimmen schien.
Was war das gewesen? Warum tauchten diese Erinnerungen immer dann auf wenn ich sie am allerwenigsten erwartete und warum konnte ich mich sonst nicht mehr an sie erinnern? Es waren eindeutig Bruchstücke von früheren Momenten in meinem Leben, doch warum konnte ich mich nicht daran erinnern sie jemals erlebt zu haben?
Ein kalter Schauer fuhr mir der Rücken hinab und trotz der Hitze um mich herum wurde mir auf einmal eiskalt.
Sie fühlten sich so echt an, zweifellos hatte ich sie wirklich einmal erlebt, doch warum wusste ich das nicht mehr? Aber noch viel wichtiger: warum fing ich jetzt an mich wieder an sie zu erinnern?
Ganz vorsichtig fühlte ich Feders kühle Nüstern über meine linke Wange streichen und ich wusste das sie wissen wollte, ob mit mir alles in Ordnung war. Am liebsten hätte ich ihr das einfach gesagt, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob das wirklich stimmte, doch als ich meine Mund öffnete kam kein Ton über meine Lippen.
Das Rauschen des Blutes in meinen Ohren hatte jedoch inzwischen so weit nachgelassen, dass ich auch die Geräusche um mich herum wieder ein wenig wahrnehmen konnte. Ich hörte Feders nervöses Schnauben und ein immer wieder stockendes Keuchen, von dem ich erst Sekunden später erschrocken realisierte, dass es von mir stammen musste.
Unter mir spürte ich den trockenen Rasen und über mir die Sonne, die noch immer auf uns beide hinab schien und ich versuchte meinen Atem immer weiter zu beruhigen, indem ich nur noch gleichmäßig ein- und ausatmete.
Langsam setzte ich mich erneut auf und schaffte es gerade noch so mich mit ausgebreiteten Armen auszubalancieren, um nicht wieder nach hinten zu fallen.
Feder tänzelte nervös um mich herum, aber beruhigte sich sichtlich, nachdem ich mich wieder hingesetzt hatte.
„Alles gut", presste ich hervor obwohl sich zeitgleich ein riesiger Klos in meiner Kehle breitmachte und ich nur mit Mühe meine Tränen zurückhalten konnte.
Auch wenn ich es am liebsten gar nicht zugegeben hätte, das ganze machte mir wahnsinnig Angst. Woher kamen all die Momente aus meinem Leben, an die ich mich jedoch selber nicht mehr erinnern konnte und was wollten sie mir sagen?
Mehr als tausend Fragen schienen gleichzeitig durch meinen Kopf zu schwirren, doch auf keine von ihnen hatte ich eine Antwort. Wie ich das alles hasste. Alles was meine Eltern mir hinterlassen hatten, waren hunderte von offenen Fragen gewesen und jedes Mal wenn ich dachte auch nur eine von ihnen lösen zu können, warf ich stattdessen tausend neue auf.
Frustriert schlug ich auf den trockenen Boden und kniff die Augen zusammen, als eine sandige Staubwolke in die Höhe gewirbelt wurde. Feder hatte sich total erschreckt und war bestimmt zwei Meter zur Seite gesprungen und musterte mich jetzt verunsichert. Sofort tat sie mir leid, da sie ja gar nicht einordnen konnte woher meine plötzliche Wut kam und wem sie eigentlich galt.
„Entschuldigung Maus, das war wirklich nicht so gemeint."
Vorsichtig trat Feder wieder näher zu mir heran und auf einmal strömten die Worte nur so aus mir heraus, ohne dass ich es verhindern konnte: „Ich hasse es nur so viel nicht zu verstehen! Kaum denke ich, dass jetzt gerade wirklich einmal alles gut ist, kommt da nächste Problem mit seinen hundert Fragen auf die ich keine Antwort habe."
Feder musterte mich interessiert und ich zog meine Beine an und umschlang sie wie fast immer mit meinen Armen: „Ich weiß, dass du mir gezeigt hast, dass man nicht auf jede Frage eine Antwort braucht und vielleicht bin ich auch so weit gekommen, dass ich das jetzt auch wirklich verstehen kann, doch es verwirrt mich alles. Zuerst der Brief meiner Eltern, von dem ich die Botschaft zwischen seinen Zeilen noch immer nicht verstanden habe und es inzwischen auch aufgegeben habe, da ich es wahrscheinlich auch niemals tun werde und jetzt diese... diese Rückblenden, die ich ebensowenig verstehe."
Ich legte meinen Kopf auf die Knie und vergrub mein Gesicht in meinen Händen: „Ich habe keine Ahnung was sie bedeuten Feder, sie sind einfach nur da und werden immer häufiger und länger ohne, dass ich überhaupt weiß wieso. Jede Rückblende zeigt mir ein Stück aus meinem Leben, an das ich keinerlei Erinnerung mehr habe, obwohl ich es doch kennen müsste, aber wenn ich es sehe kommt es mir trotzdem merkwürdig bekannt vor. Ich weiß, dass diese Erinnerungen früher wirklich stattgefunden haben müssen, aber warum kann ich mich dann nicht mehr an sie erinnern? Und wie viel habe ich möglicherweise noch so verdrängt, und was..."
Erst als Feder mir beruhigend über meine Haare blies, schaffte sie es meinen Redefluss zu stoppen und ich konnte noch einmal über das nachdenken, was gerade einfach so aus mir herausgesprudelt war. Doch alles was ich gesagt hatte, empfand ich genauso wie ich es eben laut ausgesprochen hatte, auch wenn ich nicht gedacht hätte, dass ich es so einfach würde in Worte fassen können.
Aber es stimmte, das ganze machte mir ganz schön Angst, ein ganzes Stück mehr als ich eigentlich zugeben wollte.
Vorsichtig stupste Feder mich an meinen Kopf um mir zu signalisieren, dass ich sie ansehen sollte und nur wiederstrebend hob ich ihn von meinen Knien und sah zu ihr hinauf. Eine Weile sah sie mir einfach nur ganz tief in meine Augen, als wollte sie herausfinden was ich wirklich fühlte, doch ich hinderte sie nicht daran, sondern ging in dem strahlendem blau der ihren verloren.
Irgendwann kam sie noch ein paar Schritte näher und senkte ihren Kopf so weit, dass wir uns fast auf Augenhöhe befanden. Nur ganz vorsichtig atmete sie aus und die warme Luft die aus ihren Nüstern wehte, trocknete eine einzelne Träne, die einsam meine Wange hinablief.
„Weißt du...", fuhr ich ganz leise fort: „... manchmal wünsche ich mir nichts sehnlicher als einfach einmal für eine Weile hier zu verschwinden und nicht die Person sein zu müssen, die ich nun gerade bin. Manchmal wünsche ich mir einfach, nur für ein paar Minuten oder Stunden an einem anderen Ort zu sein um das alles hier hinter mir lassen zu können, wenigstens für ein bisschen. Denn um ehrlich zu sein, ich vermisse es die Freiheit zu spüren, von der ich dachte, dass ich ihr früher so nah gewesen wäre."
Feder schnaubte leise, fast so als würde sie mir zustimmen wollen und pustete mir noch einmal so doll in mein Gesicht, dass alle meine Haare nach hinten wehten und ich Lächeln musste, bevor sie sich wieder ein paar Schritte von mir entfernte.
Zuerst wusste ich nicht, was sie vorhatte und vermisste ihre Wärme, die mich bis vor einer Sekunde noch so tröstlich umgeben hatte, doch als ich sah, dass sie sich keine zwei Meter von mir entfernt niederkniete, machte mein Herz einen so großen Sprung wie schon lange nicht mehr.
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