19. Kapitel

Keine Sekunde nachdem ich meine Augen auch nur einen Spalt breit geöffnet hatte machte sich das leichte Pochen in meinem Kopf bemerkbar, dass ohne das ich es verhindern konnte immer schlimmer wurde.

Schwach kniff ich meine Augen wieder zu und drehte mich auf die andere Seite, doch mitten in der Bewegung stoppte ich, denn irgendetwas irritierte mich. Doch was?

Erst als ich mich zurückdrehte, obwohl mein schmerzender Kopf mir zuzuschreien schien, dass ich bloß still liegen bleiben sollte, realisierte ich was es war: der Untergrund auf dem ich lag war merkwürdig weich. Nachdem ich all die Nächte in Feders Stall auf dem Boden verbracht hatte, kam mir das seltsam unnatürlich vor.

Aber warum war ich eigentlich nicht bei Feder? Genervt schlug ich nun doch die Augen auf und stockte als ich auf die lila Vorhänge in meinem Zimmer blickte.

Einzelne Bilder von dem Ball gestern Abend huschten mir durch den Kopf und zeigten mir Fia, die Milan glücklich anlächelte oder wie ich mit Lino tanzte.

Auf einmal machte sich Verunsicherung in mir breit, denn ich wusste, dass nicht der ganze Abend so schön verlaufen war, auch wenn ich nicht mehr sagen konnte, was passiert war. Hatte ich etwa getrunken? Ich hatte mich noch nie so wirklich an Alkohol herangewagt und vielleicht hatte ich es gestern deshalb übertrieben? Nein, eigentlich konnte ich mir das nicht vorstellen, aber meine Kopfschmerzen und die bleierne Müdigkeit, die noch immer auf mir ruhte, raubten mir meinen Verstand.

„Lotte?"

Erschrocken fuhr ich herum und verzog gleich darauf vor Schmerzen mein Gesicht.

„Alles ok?", fragte Lino und ich konnte die Besorgnis aus seiner Stimme heraushören auch ohne sein Gesicht zu sehen, da ich das meine in den weichen Kissen vergrub.

Ganz vorsichtig nickte ich, aber bereute es sofort wieder, als die Kopfschmerzen in meinem Schädel zu explodieren schienen. Ich fragte mich in diesem Moment gar nicht, was Lino in meinem Zimmer machte, sondern war einfach nur froh, dass er da war.

Vorsichtig drehte ich meinen Kopf so, dass ich ihn erkennen konnte und blinzelte ein paar Mal gegen das helle Licht in meinem Zimmer an, das hinter mir durch die Vorhänge schien.

Marcellino saß in seiner dunklen Anzugshose und seinem Hemd auf dem Schaukelstuhl, der sonst auf dem lilafarbenen Teppich in meinem Zimmer stand, aber den er sich jetzt ganz nah an mein Bett herangeschoben haben musste.

Mein Blick blieb jedoch an etwas ganz anderem hängen: an dem großen schwarz verschmierten Fleck auf dem weißen Stoff des Hemdes an der linken Seite seines Oberkörpers, der verdächtig nach Wimperntusche aussah.

Er erinnerte mich an etwas, das mir jedoch vorkam als wäre es schon Monate her und das mir jetzt noch nicht einmal einfallen wollte, nicht zuletzt, weil ich viel zu schwach war um danach in meinem Gedächtnis zu suchen.

„Wie geht es dir?", er sprach sehr leise wofür ich ihm total dankbar war, denn jedes Geräusch fühlte sich wie eine kleine Explosion hinter meiner Stirn an.

„Ganz gut", meine Stimme klang total rau und erst jetzt merkte ich wie sehr meine Kehle brannte. Zudem war mir bewusst, dass ich mir meine Lüge noch nicht mal selber abkaufen konnte und dass ich ein erbärmliches Bild vor Lino abgeben musste.

Er sah mich noch immer unverwandt an und auch ich sah jetzt zu ihm hoch in sein Gesicht. Als ich jedoch das glitzernde smaragdgrün in seinen Augen entdeckte, dass schon wie gestern das braun zurückzudrängen schien, stockte ich.

Gestern. Mit einem Mal waren alle Erinnerungen wieder da: meine Rückblende an die ich mich noch immer nicht erinnern konnte, aber im Moment hätte es mich auch sehr gewundert wäre mir jetzt eingefallen, wo und wann sie sich abgespielt hatte, wie ich aus dem Ballsaal gelaufen und mich im Wald versteckt hatte. Aber vor allem wie Lino mich vollkommen fertig gefunden und mich getröstet hatte und wie ich ihm schließlich gestanden hatte, warum ich mich die ganze Zeit so zurückgezogen hatte.

Vor lauter Kopfschmerzen hatte ich zwischenzeitlich meine Augen geschlossen, aber ich öffnete sie noch einmal um mich zu vergewissern, dass er noch immer bei mir war, auch wenn er wusste, dass ich die Schuld trug.

Doch noch immer saß er neben mir und nahm jetzt sogar meine Hand in seine. Wie sehr ich mich verkrampft hatte, als mir eingefallen war, was gestern alles geschehen war merkte ich erst, als er meine Faust wieder öffnete und so verhinderte das sich meine Fingernägel noch weiter in meine Handinnenfläche bohrten.

„Alles ist gut, Lotte, ich bin da...", fuhr er ganz zärtlich fort und ich schloss wieder meine Augenlieder und hörte einfach nur auf den sanften Klang seiner Stimme: „hier bist du in Sicherheit und es wird dir nichts passieren, das verspreche ich dir."

Die Zärtlichkeit mit der er mit mir sprach schaffte es tatsächlich mich so weit zu beruhigen, dass wieder frische Luft in meine Lungen strömte, von der mir vorher gar nicht bewusst gewesen war, dass ich sie angehalten hatte.

„Egal was passieren wirst, ich werde dich nicht mehr alleine lassen, nie mehr, okay?"

Am liebsten hätte ich gesagt, wie viel es mir bedeutete, dass er gerade bei mir war und das alles für mich tat, doch meine Kopfschmerzen wurden immer schlimmer.

„Danke", brachte ich noch schwach hervor und erwiderte den leichten Druck seiner Hand bevor ich wieder in einen traumlosen Schlaf viel, ohne mich dagegen wehren zu können.

Das erste das ich wieder bemerkte, war die große aber doch feine Hand, in der noch immer meine viel Kleinere ruhte und mich daran erinnerte, dass Lino noch immer bei mir war.

Ganz vorsichtig, aus Angst meine Kopfschmerzen wieder zurückzuholen, drehte ich mich so, dass ich ihn ansehen konnte und musste schmunzeln, als ich sah, dass auch er in der Zwischenzeit eingeschlafen sein musste. Die dunklen Ringe unter seinen Augen verrieten mir jedoch auch, dass er das bitter nötig zu haben schien, sodass ich mich dazu entschied ihn weiter mit an die weichen Polster gelehntem Kopf schlafen zu lassen.

Erst jetzt wurde mir bewusst, wie dankbar ich ihm dafür war, dass er gestern seinen Ball verpasst hatte um bei mir zu sein, auch wenn ich wusste wie wichtig er ihm gewesen sein musste, da er die ganze letzte Woche über nichts anderes geredet hatte. Doch trotzdem war er bei mir gewesen und hatte sich um mich gesorgt, nachdem ich den Saal und den Tanz mit ihm so abrupt verlassen hatte und sich, als er mich gefunden hatte, rührend um mich gekümmert.

Noch immer konnte ich mich nicht genau an alles erinnern was gestern passiert war, doch ich wusste das das in Schocksituationen durchaus üblich war, schließlich war es bei dem Tod meiner Eltern zuerst genauso gewesen.

Aber je mehr man sich damit auseinandersetzte, umso detailreicher kamen auch die Erinnerungen wieder zurück, auch wenn ich mich inzwischen fragte, ob man das überhaupt immer wollte.

Dieses Mal war das jedoch anders, denn ich war mir sicher, dass ich mich wieder erinnern wollte. Ich wusste noch das ich mich Lino endlich anvertraut hatte und dass er mich gegen all meiner Erwarten nach meinem Geständnis nicht allein gelassen oder angeschrien hatte, dass nicht gesagt hatte, dass er mich nie wieder auch nur ansehen würde, sondern mich sogar vor mir selber und meinen Gedanken beschützt hatte.

Vielleicht bereute ich meine Entscheidung auch deshalb nicht, auch wenn ich immer noch nicht sagen konnte, ob ich sie richtig getroffen hatte, doch seitdem ich mich ihm ehrlich geöffnet hatte, hatte mich trotz allem eine Leichtigkeit ergriffen, die ich schon ganz lange nicht mehr gespürt hatte. Denn sein Handeln hatte mir gezeigt, wie viel ich ihm noch immer bedeutete.

Ja, dass zwischen uns noch alles wie früher war, auch wenn sich alle anderen denkbaren Umstände geändert hatten und dass ich außer Feder noch jemandem hatte, dem ich wirklich vertrauen konnte.

Er war es gewesen, der mich wieder daran erinnert hatte, wie viel Feder mir bedeutete, wie sehr wir zusammengehörten, aber vor allem, wie aussichtslos es war sich dagegen zu wehren ihr zu vertrauen wenn ich es einfach tat. Doch das war nicht alles gewesen, denn nur dank ihm hatte ich erkannt, dass ich mich auch gar nicht dagegen wehren musste ihr zu vertrauen, weil man manches einfach nur so hinnehmen konnte wie es war und es gar nicht ändern sollte.

Durch ihn hatte ich erkannt, dass ich nicht mehr alleine war, genauso wenig wie ich es wahrscheinlich jemals gewesen war und dass er und Feder immer bei mir sein zu würden. Wir konnten die Umstände mit denen wir leben mussten zwar nicht mehr ändern, doch wir konnten lernen mit ihnen umzugehen und Marcellino hatte mir gestern gezeigt, dass wir das zusammen schaffen würden. Denn auch wenn ich noch nie so wirklich daran geglaubt hatte, hatte ich durch ihn erfahren, dass es tatsächlich leichter war, wenn man nicht versuchte mit allem alleine klarzukommen und das hätte ich mir ohne ihn wahrscheinlich niemals getraut einzugestehen.

Leise wollte ich mich aufsetzen, doch schon bei dem Knistern meiner Bettdecke schreckte Lino wieder aus seinem Schlaf hoch und mustert mich besorgt: „Alles okay?"

„Ja, alles gut.", erwiderte ich, doch fühlte mich gleichzeitig furchtbar schlecht ihn ausversehen aufgeweckt zu haben, denn er sah vollkommen fertig aus.

„Wie lange sitzt du hier schon?", fragte ich deshalb.

„Die ganze Nacht, wieso?"

„Du weißt das du das echt überhaupt nicht hättest für mich tun müssen, oder?"

„Nein, weil es für mich nicht infrage kam dich jetzt allein zu lassen.", er lächelte sein schiefes Lino-Lächeln: „Wie geht es dir eigentlich?"

„Besser", antwortete ich und bemerkte, dass das tatsächlich stimmte, denn selbst meine Kopfschmerzen hatten sich auf ein leichtes Stechen in der Stirn reduziert. Einen Moment überlegte ich noch, weil ich nicht wusste ob jetzt der richtige Zeitpunkt war um Lino mit Fragen zu bombardieren, aber ich musste einfach eine Antwort haben: „Was ist gestern eigentlich noch alles passiert?"

Lino fuhr sich einmal durch die Haare, als würde er überlegen wo er am besten anfangen sollte, bevor er zu sprechen begann: „Also an den Teil bis du in meinen Armen eingeschlafen bist, erinnerst du dich ja wahrscheinlich noch, oder?"

Statt einer Antwort nickte ich bloß und wartete gebannt darauf das er weitersprach.

„Ich habe dich echt noch nie so fertig gesehen, in all den Jahren noch nicht und das hat mir ziemlich Angst gehabt, andererseits habe ich dich und deinen Rückzug endlich verstehen können und mir tat es fürchterlich leid, dass ich nicht schon früher darauf gekommen bin, dass du dir die Schuld geben könntest. Zuerst wusste ich nicht was ich tun sollte, doch mir war klar, dass du nach Hause musstest und so habe ich meinen Vater angerufen und ihn gebeten uns jetzt schon abzuholen."

Bei dem Gedanken daran, dass sein Vater nun auch von meinem Geheimnis wissen könnte, wurde mir mit einem Mal ganz schlecht, doch Lino beruhigte mich sofort wieder: „Keine Angst, er weiß von nichts."

„Aber wie hast du ihm dann erklärt warum ich so fertig war?"

„Das würde ich dir in der Tat auch gerne erklären, doch dazu müsstest du mich vielleicht mal ausreden lassen.", seine Stimme war streng, doch ich wusste, dass er nur so tat, denn seine Augen funkelten belustigt.

Das ich immer und überall dazwischen quatschte, gerade wenn ich aufgeregt war machte ich schon seitdem ich denken konnte und auch wenn es in der Grundschule besser geworden war, da meine Lehrerin jedes Mal mit mir geschimpft hatte, wenn ich es tat, machte ich es zuhause noch immer.

„Ich gebe mir Mühe.", mehr konnte ich in diesem Moment nicht versprechen, doch an dem Grinsen das auf Linos Lippen lag, konnte ich erkennen, dass das wohl reichen würde.

„Also... nachdem ich ihn angerufen hatte, saß ich noch ein bisschen mit dir in dem Wald, da man ja mindestens zwanzig Minuten anfahrt von unserem Hof hat und ich wusste, dass mein Vater somit ja gar nicht früher da sein konnte. Außerdem hatte ich Milan, Jan, Sophie und Zoe ebenfalls gebeten nach dir zu suchen, doch wollte nicht, dass sie dich so sahen, weil ich dachte anders wäre es vielleicht besser für dich..."

Nur ganz knapp konnte ich mich davor zurückhalten, wieder dazwischenzureden, auch wenn ich Marcellino dieses Mal nur gesagt hätte, wie dankbar ich ihm dafür und im Allgemeinen für alles war. Aber so begnügte ich mich nur mit einem Nicken und einem leichten Lächeln.

„...irgendwann bin ich dann mit dir in meinen Armen zur Straße hochgelaufen und habe etwas abseits von der Tanzschule die letzten fünf Minuten auf meinem Vater gewartet. Der hat zuerst auch einen ziemlichen Schreck bekommen, als er dich in meinen Armen hat liegen sehen. Doch ich konnte ihn davon überzeugen, dass du nur zu viel Alkohol getrunken hättest und danach einen Nervenzusammenbruch gehabt hast."

„Und das hat er dir wirklich geglaubt?"

„Jap. Irgendwie stimmt es ja sogar, bis auf die Sache mit dem Alkohol. Wegen der habe ich auch gleich auf der Rückfahrt mächtig Ärger von ihm bekommen, da ich nicht besser auf dich aufgepasst habe."

„Oh man, Entschuldigung.", peinlich berührt sah ich ihn an, aber bewunderte ihn auch gleichzeitig dafür, wie sehr er sich für mich eingesetzt hatte.

„Alles gut. Es war auch nur halb so schlimm, denn du lagst ja hinten auf der Rückbank und ich saß dort neben dir um auf dich aufzupassen und so habe ich nur die Hälfte von dem mitbekommen, was mein Vater mir an den Kopf geworfen hat."

„Oh", mehr konnte ich im Moment einfach nicht sagen, denn ich war zu gerührt darüber, wie sehr mich Lino in den Schutz genommen und dadurch selber den Ärger bekommen hatte.

„Sie es doch Mal positiv: Mein Vater war wirklich sehr besorgt um dich und das zeigt ja, wie sehr du mittlerweile zu uns gehörst, oder?"

Lino schaffte es tatsächlich, dass sich ohne das ich es so recht wollte bei diesen Worten ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete.

„Auf jeden Fall.", fuhr er fort, ohne dass ich noch länger über seine Worte nachdenken konnte: „Habe ich dich hier aus dem Auto ins Haus und die Treppen hoch in dein Zimmer getragen. Du warst aber so fertig, dass du davon gar nichts mehr mitbekommen hast..."

Jetzt musste ich Lino doch dazwischenreden: „War ich nicht viel zu schwer für dich? Das ist doch gar nicht gut für deinen Rücken!"

„Das sagst du zu demjenigen, der auf einem Pferdehof lebt und teilweise den ganzen Tag nichts anderes tut als Sättel hin- und herzuschleppen?"

Bei seinen Worten musste ich Lachen, auch wenn ich wusste, dass sie nicht ganz stimmten. Nur an den Tagen, an denen wir das Leder pflegten, waren wir alle damit beschäftigt die Sättel von der Sattelkammer zu unserem Garten hinter dem Haus zu tragen, da man sie dort am besten putzen konnte und später auch wieder zurück. Auf die Dauer und die Länge des Weges wurden die Sättel meistens jedoch irgendwann ziemlich schwer.

„Als du im Bett lagst und geschlafen hast, habe ich mir noch den Stuhl herangeschoben um bei dir sein zu können. Ich habe dich noch nie so verzweifelt und verloren erlebt und ich wollte das du wenigstens dieses eine Mal weißt, dass ich bei dir bin.", seine Stimme klang bitter und ich konnte sehen wie er schluckte bevor er weitersprach: „In letzter Zeit habe ich dich viel zu sehr alleingelassen, obwohl du mich wahrscheinlich gebraucht hättest. Ich meine hätte ich mich früher nicht so leicht von dir abwimmeln lassen, hätte ich vielleicht schon vorher bemerkt wie schlecht es dir wirklich ging und... und hätte dir viel früher helfen können..."

„Hey", ganz leicht drückte ich seine Hand, die noch immer in meiner ruhte, denn ich wusste wie schwer es ihm fiel das auszusprechen was er gerade sagte: „Du hättest gar nichts ändern können, weil ich dich nämlich immer von mir weggestoßen habe, aus Angst du würdest es irgendwann erfahren."

„Aber weißt du denn jetzt nicht, wie sehr es helfen kann über manche Dinge zu sprechen?"

„Ja, jetzt schon, dank dir.", ich lächelte ihn an: „Aber vorher doch nicht. Da hatte ich Angst, dass es noch realer werden würde, wenn ich es aussprechen würde."

„Das heißt du hast es dann lieber in dich hineingefressen?"

„Genau, also bis gestern zumindest, weil es mir da auf einmal zu viel geworden ist. Aber ich hatte wirklich Angst, dass du aufstehen und gehen würdest als ich es dir erzählte, weil ich es nur zu gut hätte verstehen können."

„Ach Lotte.", Marcellino seufzte und ich bemerkte wie sehr ihn das mitnahm: „Du hast keine Schuld, denn deine Eltern haben frei entschieden."

„Ich weiß, dass kannst du so einfach sagen und vielleicht werde ich es dir auch irgendwann glauben, wenn du es mir über Jahre hinweg jeden Tag sagst. Doch fest steht auch, dass ich es hätte verhindern können, einfach indem ich erst gar nicht gefragt oder ihnen geschrieben hätte, dass sie es doch nicht machen brauchten."

„Aber du konntest es doch vorher gar nicht wissen."

„Vielleicht nicht, aber Fakt ist, dass wenn ich sie nicht gefragt hätte, sie jetzt wahrscheinlich immer noch leben würden.", ich holte einmal tief Luft bevor ich weitersprach: „Doch jetzt weiß ich, dass auch Dinge die man nicht mehr ändern kann, leichter zu ertragen werden können, wenn man mit anderen darüber spricht. Und das weiß ich nur wegen dir... also danke, danke das du einfach immer für mich da gewesen bist, denn ich weiß mittlerweile echt nicht mehr was ich ohne dich machen würde. Du hast mir gezeigt, dass ich nicht alleine bin, sondern dass ich dich und Feder habe und das hat mir mehr geholfen als alles andere es tun könnte."

Ganz leicht bemerkte ich, wie Lino seine Hand in der er meine hielt anspannte: „Ich wünschte ich hätte dich trotzdem nicht so oft und so lang alleine im Regen stehen lassen."

Bei seinen Worten hatte ich wieder schlagartig das Gefühl, dass da etwas wäre was ich eigentlich wissen müsste, an das ich mich jedoch nicht mehr erinnern konnte. Und sosehr ich mich auch danach streckte um es greifen zu können, im Moment war ich einfach noch zu klein.

Als ich jedoch Marcellinos Blick auf mir spürte und von meiner Blümchenbettdecke nach oben in seine Augen sah, verflog dieses Gefühl wieder um den tausenden Schmetterlingen platzmachen zu können, die von jetzt auf gleich wieder in meinem Bauch und meinem Kopf zu toben schienen.

Für einen Moment verlor ich mich in seinen Augen in denen ich jedes Mal eine ganze Welt entdecken konnte, doch dann fing er wieder an zu sprechen und holte mich somit sanft zurück ins hier und jetzt: „Auf jeden Fall warst du so fertig, dass du das gar nicht mehr bemerkt hast. Aber ich wollte für dich da sein können, wenn was ist, also bin ich geblieben.", er fuhr sich erneut durch die Haare und mir fielen wieder die dunklen Ringe unter seinen Augen auf.

„Ist mein Stuhl wirklich so ungemütlich?", erst schien Lino nicht zu verstehen was ich meinte, doch als ich auf seine Augenringe deutete, die er selber wohl erst eben gerade wahrgenommen hatte, als er verwundert in den großen Spiegel in der Zimmerecke schräg vor sich geblickt hatte um zu sehen was meine Geste bedeuten sollte, musste er schmunzeln.

„Nein, dein Stuhl ist super, aber dein Schlafrhythmus irgendwie nicht." Mein Blick musste wiederspiegeln wie wenig ich mit seiner Antwort anfangen konnte, denn er sprach von alleine weiter: „Du musst ziemlich schlecht geträumt haben, denn du bist ein paar Mal schreiend aufgewacht und ich habe Minuten gebraucht um dich wieder so weit zu beruhigen, dass du wieder einschlafen konntest...", Lino stockte und ich wusste ganz genau, dass er überlegte ob er noch fortfahren sollte, doch anscheinend überzeugte ihn, dass ich vorsichtig mit meinem Daumen über seinen Handrücken fuhr: „Außerdem wollte ich auch gar nicht schlafen, damit ich dich wecken konnte wenn du wieder schlecht geträumt hast."

Er war wirklich die ganze Nacht für mich wachgeblieben nur um sicherzustellen, dass es mir gutging?

Die Albträume hatte ich seit dem Unfall mit meinen Eltern fast jede Nacht, auch wenn ich das Lino bestimmt nicht erzählen würde, zudem waren sie auch nicht mehr so häufig vorgekommen, seitdem ich bei Feder schlief. Heute Nacht musste allerdings wieder ziemlich schlimm gewesen sein, was nach gestern Abend ja auch kein Wunder war. Das erklärte dann auch meine Kopfschmerzen von heute Morgen.

„Das... das ist echt wahnsinnig Lieb von dir.", innerlich stöhnte ich über meine lahme Antwort, aber an Marcellinos Strahlen konnte ich erkennen, dass es ihn wirklich freute.

„Nein jetzt mal im Ernst, Lino. Wärst du gestern nicht gewesen, dann...", ich fuhr nicht fort, weil es tausend Möglichkeiten gab, wie das noch hätte enden können, doch er schien es auch so zu verstehen.

„Hey, das ist doch klar.", er lächelte mich aufmunternd an und seine Augen funkelten glücklich.

„Nein, das ist es eben nicht.", beharrte ich: „Und deshalb bin ich dir noch viel dankbarer. Außerdem tut es mir echt fürchterlich leid, dass ich dir deinen Ball so ruiniert habe.", unsicher schaute ich wieder auf das mir nur allzu vertraute Blümchenmuster meiner dünnen Bettdecke.

„Das stimmt doch gar nicht!"

„Stimmt es wohl, du hast doch seit einer Woche über nichts anderes mehr geredet.", noch immer hielt ich meinen Blick gesenkt.

„Ja, aber ich habe mich nur so sehr darauf gefreut, weil du mitgekommen bist. Ohne dich wäre es nämlich nur halb so schön gewesen. Und du hast den Abend doch gar nicht ruiniert, na ja das Ende war vielleicht früher und anders als geplant, aber bis dahin war es doch echt total schön, oder nicht?"

Ich nickte und Lino legte seine Hand ganz vorsichtig unter mein Kinn und zwang mich so ihn wieder anzusehen.

„Außerdem sind manche Dinge eben wichtigster als der schönste Ball der ganzen Welt und du bist das ausnahmslos immer für mich."

Bei seinen Worten machte mein Herz einen großen Hüpfer und ich war unendlich froh ihn zu haben. Er war schon immer ein fester – und auch total wichtiger – Bestandteil meiner Welt gewesen und ich war froh das er es anscheinend trotz allem immer noch war.

Ganz leise keimte Gefühle in mir auf, die ich schon lange nicht mehr ohne Schuldgefühle gespürt hatte. Nur ganz leicht, aber trotzdem spürte ich die Zuversicht und das Gefühl der Geborgenheit so intensiv wie zuvor seit Monaten nicht mehr, aber auch noch etwas anderes: Glück.

Ja ich war glücklich, trotz allem. Denn gestern Nacht war mir bewusst geworden, was für tolle Freunde ich eigentlich hatte und wie sehr ich mich immer auf sie verlassen konnte. Feder und Lino hatten mir Stück für Stück gezeigt, dass mein Leben doch lebenswert war, egal wie kompliziert es sich manchmal gestaltete. Von ihnen hatte ich in den letzten Wochen gelernt, dass man nicht immer auf alle Fragen eine Antwort haben musste, dass man nicht alles ändern konnte was passierte aber, dass es immer einen Weg gab mit dem zu leben was passiert war.

Dank Feder hatte ich wieder herausgefunden was es eigentlich bedeuten konnte zu Leben und sie hatte mir wieder auf magische Art und Weise verständlich gemacht, warum sie der Sinn meines Lebens war und Lino war immer bei mir gewesen und hatte mir helfen wollen, auch wenn ich das erst jetzt bemerkt hatte.

Wahrscheinlich würden die beiden nie etwas an der Tatsache verändern können, dass ich mir die Schuld an dem Tod meiner Eltern gab, doch Lino hatte recht gehabt, denn über Dinge zu reden half wirklich. Das ich mich den beiden anvertraut hatte war vielleicht das Beste gewesen, dass mir jemals passiert war, denn auch wenn sie das Geschehene nicht mehr ändern konnten, schafften sie es die Last des Ganzen so mit mir zu teilen, dass es mir besser damit ging.

Denn ich wusste jetzt, dass sie jede meiner Sorgen ernstnahmen, immer für mich da waren und mich einfach so akzeptierten wie ich war und genau das gleiche würde ich auch für sie tun, immer.

Sie hatten mir das gezeigt, was ich vergessen hatte: Ich war nicht allein, denn Feder und Lino würden immer bei mir sein und das war das Beste das mir hätte passieren können, denn die beiden waren mindestens die besten Freunde auf der ganzen Welt und eigentlich noch so unbeschreiblich viel mehr.

Nur mühsam konnte ich mich von seinem Blick lösen, der noch immer zärtlich auf mir ruhte. Doch das musste ich zwangsläufig, als ich an meine Bettkante rutschte und Lino in meine Arme schloss.

Ein paar Mal atmete ich seinen mir nur allzu vertrauten Geruch ein, der nach Wald, seinem Aftershave, Stroh, Heu und natürlich Pferden duftete, bevor ich mich wieder von ihm löste.

„Danke", flüsterte ich leise um die Stimmung um uns herum nicht zu zerstören und drückte noch einmal seine große mir inzwischen merkwürdig vertraute Hand bevor ich meine von ihm löste.

„Ich glaube, ich würde jetzt ganz gerne zu Feder gehen, wenn dir das nichts macht."

„Nein alles gut.", er lächelte mich an: „Ich wollte sowieso runter gehen und meine Eltern suchen, die sich bestimmt schon Sorgen um dich machen. Du hast heute also freie Bahn."

Lino stand auf und ging zu meiner Zimmertür.

„Warte!", rief ich ihm leise hinterher als er schon dabei war die Klinke mit seiner Hand hinunterzudrücken: „Ich weiß du hast früher immer gesagt, dass ich mich nicht so oft bedanken soll, aber danke für alles."

Marcellino lachte leise als er durch die Tür ging und sie wieder hinter sich zuzog.

Ein paar Sekunden saß ich noch in meinem Bett um unser Gespräch für mich zu rekapitulieren und meine Gedanken von heute und gestern Nacht zu sortieren, doch danach gab ich stöhnend auf und schob sie einfach beiseite, denn mir war bewusst, dass das sowieso keinen Sinn hatte.

Jetzt war etwas ganz anderes an der Reihe und auch wenn ich Feder gestern noch heimlich kurz gegen Mittag besucht und ihr eine Möhre als Leckerli mitgebracht hatte, freute ich mich riesig sie wiederzusehen.

Mit einem Ruck schlug ich die Bettdecke zurück und bemerkte erst beim Aufstehen, dass ich noch immer mein Kleid von gestern Abend trug.

Barfuß tapste ich über die alten Holzdielen bis vor meinem Spiegel und musterte mich. Meine Hochsteckfrisur war wie schon erwartet nicht einmal mehr in dem Knoten aus blonden Haaren zu erkennen, doch dafür sah mein Gesicht erstaunlich normal aus, doch das lag einfach daran, dass erst Linos Hemd und danach mein Kopfkissen mein Make-up verschluckt hatten.

Zuerst überlegte ich noch zu duschen, meine Haare zu entknoten und etwas anderes anzuziehen als das Kleid, dass ohne meine Absatzschuhe leicht über den Boden schliff, doch jede Faser meines Körpers schien sich danach zu sehnen, zu Feder auf die Weide zu stürmen und sie wiederzusehen.

Mit einem Mal konnte ich es kaum noch erwarten Feder wieder in meine Arme zu schließen und sie an ihrem Stirnwirbel unter ihrer dichten Mähne zu kraulen, sodass ich ohne auch nur eine weitere Sekunde auf mein Spiegelbild zu achten kehrt machte.

Mit Vogelnestfrisur, barfuß und wehendem Kleid, stürmte ich aus meiner Zimmertür und sprang nur wenige Sekunden später die fünf Stufen vor unserer Eingangstür in die spitzen Schottersteine der Einfahrt hinab.

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