17. Kapitel
Genervt zog ich die letzte goldene Haarnadel wie bestimmt schon fünf Mal zuvor wieder aus meiner Hochsteckfrisur und streckte meinem ich im Spiegel die Zunge raus. Mir war durchaus bewusst, dass ich es umso schlimmer machte, je öfter ich versuchte sie perfekt an die Stelle in meine Haare zu navigieren an der ich sie haben wollte, doch egal was ich auch machte, anscheinend wollte sie einfach nicht so wie ich.
Zwar hatte ich einen kleinen Schminktisch in meinem Zimmer, ebenfalls ein Geschenk von Linos Eltern zu meinem Umzug, doch ich hatte ihn noch nie benutzt. Dies hier war sozusagen also seine Einweihungspartie, doch leider hatte ich mich für Make-up und Frisuren noch nie wirklich interessiert.
Ja klar, ein paar Mal hatte ich mit Fia zusammen ein paar Ideen ausprobiert, zum Glück auch eine Hochsteckfrisur, die ich mir nun machen konnte – oder es zumindest versuchte, denn im Moment scheiterte ich immer an der letzten Nadel.
Die ganzen Spiegel, durch die man spiegelverkehrt denken musste, verwirrten mich nämlich ziemlich und dass meine Hände inzwischen vor Aufregung zitterten erleichterte diese Sache auch nicht gerade.
Schließlich schaffte ich es doch noch, lange nicht ganz perfekt, aber ich ließ es so gelten und fixierte meine Frisur, an der ich jetzt seit geschlagenen anderthalb Stunden saß mit einer gefühlten Tonne Haarspray das ich mir von Linos Mutter hatte ausleihen dürfen.
Einen Moment betrachtete ich mein Werk noch kritisch, nicht nur meine Haare, sondern auch mein dezentes Make-up, für das ich ebenfalls eine Dreiviertelstunde gebraucht hatte und bei dem ich zwischendrin so laut geflucht hatte, dass Lino besorgt in mein Zimmer gekommen war.
Allerdings hatte ich ihn sofort wieder rausgeschmissen, da er noch nichts sehen durfte, weil ich mir fest vorgenommen hatte ihn zu überraschen.
Als mein Blick jedoch auf meinem Handy hängen blieb, das durch eine Nachricht aufblitzte und mir so eher ungewollt die Uhrzeit verriet, sprang ich von dem kleinen, ebenfalls weißen Hocker auf. Ich hatte gewusst, dass ich nicht gut in der Zeit war, aber das es auf einmal so spät war... Nein ich hatte keine Zeit weiter darüber nachzudenken.
Eilig schritt ich auf meinen Schrank zu und versuchte mich zu beruhigen. Lino und ich hatten uns vorgenommen um 19:30 Uhr das Haus zu verlassen, also hatte ich noch etwas mehr als eine Viertelstunde.
Eigentlich sollte da mehr als genug Zeit sein, denn ich musste nur noch mein Kleid anziehen, doch genau darin lag das Problem. Das letzte Mal das ich es überhaupt gesehen hatte, war vor einem Jahr gewesen und wirklich getragen hatte ich es noch nie.
Gedankenverloren öffnete ich die breite Tür und suchte auf der vollen Kleiderstange nach dem leichten Tüllstoff. Es dauerte ein paar schreckliche Minuten, bis ich es ganz an der linken Seite fand, natürlich in der entgegengesetzten Ecke, in der ich zu suchen begonnen hatte. In der Zwischenzeit hatte ich mich sogar schon mit den Gedanken auseinandersetzen müssen, ob ihm nicht doch etwas zugestoßen sein konnte, sodass meine Erleichterung bei seinem Anblick noch tausend Mal größer war.
Ursprünglich war es eigentlich für den Abschlussball nach der zehnten Klasse gewesen und meine Eltern hatten es mir geschenkt, doch nach dem Unfall am Nachmittag waren am Abend weder Lino noch ich in der großen, festlich geschmückten Turnhalle unserer Schule erschienen.
Ob es mir überhaupt noch passte? Seitdem hatte ich es nicht noch einmal anprobiert aber sollte es mir tatsächlich zu klein sein, hätte ich streng genommen trotzdem keine andere Wahl, da ich einfach kein zweites Kleid besaß das mir nicht viel zu kurz war.
Denn auch wenn ich kaum wuchs, war ich das letzte Mal vor ein paar Jahren Kleider shoppen gewesen, sodass ich die zwei alternativen, die ebenfalls noch in meinem Kleiderschrank hingen sofort vergessen konnte.
Fünf Minuten später stellte ich jedoch erleichtert fest, dass mir das Kleid noch immer passte. Genaugenommen passte es mir sogar perfekt und ich hatte nur so lange zum Anziehen gebraucht, da es sich ziemlich schwierig gestaltet hatte den letzten Rest des Reisverschluss an meinem Rücken alleine hochzuziehen, aber letztendlich ich hatte es dennoch geschafft.
Triumphierend trat ich vor den großen Spiegel in meinem Zimmer und ließ meinen Blick über die verschiedenen lagen Tüll und Stoff des Kleides schweifen, die bis zum Boden reichten. Bis zu meiner Taille war es eng genschnitten und ging ab da in einen dank den Tüll weitschwingenden Rock auf.
Schon seit ich denken konnte, hatte ich mir ein Kleid gewünscht, dass einen Prinzessinnenrock Rock hatte, doch dank des weichen anderen Stoffs sah es nicht kindlich, sondern einfach wunderschön aus. Zudem hatte es keine Träger und betonte so mein Dekolleté mit der zarten Silberkette mit dem Herzchen Anhänger die ich immer trug und die meine Eltern mir irgendwann einmal zu Ostern geschenkt hatten.
Langsam drehte ich mich hin und her um das Kleid auch von hinten sehen zu können und genauso wie vor einem Jahr liebte ich noch die Farben des dunklen Fliedertons, des leichten Blaus und dem hellen Rosa, die sich mit den dezenten, aber funkelnden Strass Steinen perfekt ergänzen.
Als ich mit meiner Mutter damals in der nächstgrößeren Stadt nach Kleidern gesucht hatte, hätte ich nie gedacht, alle meine Lieblingsfarben kombinieren zu können und ich hatte stundenlang nur mehr oder weniger zufrieden gefühlte hundert andere Kleider anprobiert, bis ich dieses hier in der hintersten Ecke eines Ladens ganz unscheinbar gefunden hatte.
Sofort hatte ich mich verliebt, doch erst als ich es angezogen hatte, war ich mir sicher gewesen, dass es perfekt war, da ich zuvor nicht gewusst hatte, wie es wirken würde. Aber alle Zweifel hatten sich damals als völlig unbegründet herausgestellt, denn es sah einfach nur wunderschön und trotz der vielen Farben und des schon fast pompösen Rockes gar nicht zu märchenhaft aus, was meine erste Befürchtung gewesen war.
Trotzdem beäugte ich mein Spiegelbild noch kritisch. An sich war es wunderschön aber ich war in dem letzten Jahr immer so unscheinbar wie es nur möglich war gewesen und nun war ich das ziemliche Gegenteil davon. Passte es eigentlich überhaupt zu mir?
Im Hintergrund hörte ich ein Klopfen an der Tür und erwiderte ein „Kannst reinkommen.", doch mein Blick lag noch immer auf dem Spiegel.
Als ich durch ihn plötzlich jemanden hinter mir stehen sah, zuckte ich vor Schreck zusammen, bevor ich mich umdrehte und Lino in Jackett und Anzugshose vor mir stehen sah. Ich hatte ihn noch nie so gesehen musste aber zugeben, dass es ihm total gutstand. Er wirkte durch das weiße Hemd bestimmt ein oder zwei Jahre älter und die dunkelblaue Hose betonte seine Beine.
Allerdings blieb mein Blick wie so oft an seinen Augen hängen, in denen heute ein aufgeregtes und geheimnisvolles Funkeln lag.
„Du siehst wunderschön aus.", sagte er fast tonlos und ich spürte wie das prickelnde Gefühl der Leichtigkeit, das ich immer öfter verspürte, wenn ich mich in seiner Gegenwart befand wieder aufkeimte.
„Ja?"
„Total. Hör doch einmal auf an dir zu zweifeln, du bist perfekt so wie du bist und nicht anders, okay? Und das Kleid unterstreicht das übrigens total." Noch immer sah ich in seine glitzernden Augen, die wie immer so viel Lebensfreude und Abenteuerlust versprühten und als er mir vorsichtig eine Haarsträhne, die sich gelöst haben musste hinter mein Ohr strich fing mein Herz erneut an zu stolpern und auch nachdem er seine Hand schon wieder gesenkt hatte konnte ich noch genau spüren, an welchen Stellen er mich ganz sanft berührt hatte.
„Danke" Mit zwei Sätzen hatte Lino es geschafft all meine Zweifel beiseite zu Fegen und ich wusste nicht einmal mehr, warum ich sie überhaupt gehabt hatte und worüber sie eigentlich gehandelt hatten.
„Dreh dich noch mal um."
Im ersten Augenblick wusste ich nicht so recht, was er nun damit bezwecken wollte, doch natürlich tat ich was er mir gesagt hatte und als es sich um meine Taille ganz leicht straffte viel mir wieder das Taillenband ein, dass ich auf meinem Rücken noch zu einer Schleife hatte binden wollen. Doch scheinbar übernahm Marcellino das gerade für mich.
„Fertig", zufrieden trat er einen Schritt zurück und ich drehte mich noch einmal vor dem Spiegel, bevor ich meine kleine Clutch, die ebenfalls einen dunkelfliederfarbenen Ton hatte von meinem Bett nahm und es gerade noch so schaffte sie wieder zu schließen, nachdem ich auch mein Handy in ihr verstaut hatte. Aber warum mussten die bitte auch immer so klein sein? Damit konnte ja auch kein Mensch vernünftig zu recht kommen.
Die Schuhe mit den etwa sieben Zentimeter Absätzen, die ich mir nur gekauft hatte um auch mal größer zu wirken hatte ich, da sie noch vollkommen neu waren bereits bevor ich mit dem Make-up angefangen hatte in meinem Zimmer angezogen um wenigstens ein bisschen über zu können.
Als ich nun jedoch vor den schmalen Stufen der Treppen stand, war ich mir auf einmal nicht mehr so sicher, ob das wirklich eine kluge Idee gewesen war, da ich schon mit dem langen Kleid vollkommen überfordert war.
Mehr oder weniger elegant schritt ich so also die Stufen hinab und krallte mich mit meiner linken Hand am Geländer fest um mit der Rechten mein Kleid anheben zu können. Mir war bewusst das die Schuld allein bei mir lag, da ich zuvor noch nie auf hohen Schuhen gelaufen war, doch trotzdem ärgerte ich mich über mich selber.
Geistesgegenwärtig fing Lino mich auf, als ich einmal bedenklich ins Schwanken geriet, doch bei jedem Schritt wurde ich zum Glück schon ein bisschen sicherer und meisterte selbst die fünf Stufen und den Schotter vor dem Haus ohne weitere Probleme.
Linos Vater hatte netterweise angeboten uns fahren zu können, und wir hatten natürlich sofort angenommen, da die Busse schon um diese Uhrzeit nur noch einmal in drei Stunden fuhren und später dann gar nicht mehr fahren würden.
Vorsichtig kletterte ich auf die Rückbank des dunkelblauen Range Rovers, darauf bedacht nirgendwo mit meinem Kleid hängen zu bleiben und ließ mich erleichtert auf den Sitz plumpsen. Ich möchte dieses Auto das schon seit Jahren zu dem Hof gehörte, vielleicht nicht zuletzt, weil es im Sonnenlicht glitzerte, aber auch weil Lino und ich in seinem Kofferraum früher immer Zelten gespielt hatten.
Bei dem Gedanken wie wir fast sämtliche Pferdedecken zum Auto geschleppt und sie danach in seinem Kofferraum ausgebreitet hatten, um unser Lager aufzubauen schlich sich ein Lächeln auf mein Gesicht.
„Na Madam, ist da jemand doch glücklich mitgekommen zu sein?", neckte mich Marcellino, der inzwischen auch zu mir nach hinten auf die Sitzbank gerutscht war und gerade dabei war die Tür zu schließen.
„Könnte man so deuten.", gab ich nur als Antwort, obwohl ich inzwischen total froh war, dass Lino es geschafft hatte mich zu überzeugen und drehte meinen Kopf zum Fenster.
Als wir von unserem Hof fuhren und die Bäume immer schneller an uns vorbeizogen, wurde mir das erste Mal bewusst, wie lange ich schon nicht mehr unser Grundstück und den Wald verlassen hatte.
Zuerst grübelte ich nach wie lange es wohl her sein musste, dass ich das letzte Mal in die Stadt gefahren war, ob es sich um Wochen oder Monate handelte, doch ziemlich schnell kam ich zu einer ganz anderen Antwort die mich selber mehr schockierte als ich es zugeben wollte: etwas über ein Jahr war es her.
Wahrscheinlich hatte Lino mich auch aus diesem Grund gefragt, ob ich ihn nicht begleiten wollte und mittlerweile war ich echt froh, dass er es mir nicht nur angeboten, sondern mich auch noch überzeugt hatte, denn sonst wäre ich bestimmt niemals mitgekommen.
Die Bäume zogen immer weiter an uns vorbei und die Minuten, in denen ich nur staunend aus dem Fenster blickte, wegen der Geschwindigkeit, in der ich mich schon so lange nicht mehr bewegt hatte und weil ich fast vergessen hatte, wie viel mehr es außer unserem Hof noch gab verstrichen wie im Flug.
Erst als wir auf den großen, aber heute trotzdem vollkommen überfüllten Parkplatz der Tanzschule fuhren, in der Lino seit ein paar Jahren regelmäßig tanzte und so auch fast regelmäßig Bälle hatte, sah ich wieder ins Wageninnere.
Vollkommen ruhig starrte er auf sein Handy neben mir während die Aufregung in mir immer weiter anstieg. Für einen Moment hoffte ich, dass Linos Vater einfach keinen Parkplatz finden würde und wir so wieder nach Hause fahren würden.
Tatsächlich fanden wir keine Parklücke mehr, aber anstatt wieder wegzufahren, hielt Linos Vater den Wagen mitten auf dem schmalen Weg zwischen den Autos einfach an und Lino öffnete seine Tür.
Er sprang hinaus und der Schotter, der den Boden bildete knirschte unter seinen Schuhen. Mir fiel das nicht ganz so leicht wie ihm, da ich Angst hatte mit dem Stoff meines Kleides irgendwo hängen zu bleiben und ihn kaputtzureißen. Doch nachdem das Auto hinter uns bereits zweimal genervt gehupt hatte, schaffte auch ich es ohne mein Kleid zu beschädigen aus dem Wagen zu steigen, meine Clutch vom Rücksitz zu nehmen und die Autotür zuzuschlagen.
Vollkommen orientierungslos sah ich mich ein paar Sekunden lang um. Ich war hier auch mal gewesen, als ich meinen Grundkurs gemacht hatte, doch anders als Lino hatte ich danach aufgehört und war somit seit Ewigkeiten nicht mehr dem pompösen Gebäude nahegekommen.
Auf jeden Fall hatte ich den Parkplatz viel kleiner in Erinnerung gehabt und auch nicht damit gerechnet, dass heute so viele kommen würden.
„Komm mit." Lino ging zielstrebig auf den Eingang des großen Gebäudes zu vor dem viele Zweierpärchen Fotos von sich machen ließen und ich folgte ihm unsicher. Mit so vielen Menschen hatte ich nicht gerechnet und die ganze Situation überforderte mich ein bisschen.
Jedoch schien wenigstens Lino zu wissen wohin wir mussten und ging ganz ruhig durch die gläserne Eingangstür um drinnen etwas abseits auf mich zu warten.
Draußen war es wie in letzter Zeit immer ziemlich heiß gewesen, doch erst als ich durch die Tür in die große kühle Eingangshalle trat bemerkte ich wie warm auch mir gewesen war.
Noch allzu gut konnte ich mich an den Marmorboden erinnern, der genau wie damals noch immer den Boden flieste und an die Glasfront neben der Eingangstür, durch die man einen guten Blick nach draußen auf den Parkplatz hatte.
„Alles Ok?", Linos grün-braune Augen musterten mich besorgt doch ich nickte: „Es ist nur ein bisschen viel auf einmal."
Er sah mich weiterhin aufmerksam an: „Versuch es einfach zu genießen."
Bei seinen Worten entspannte ich mich ein bisschen. Genießen, stimmt das war wahrscheinlich das Ziel des Ganzen und einfach einen schönen Abend zu haben.
Außerdem was war denn bis jetzt so Schlimmes passiert? Mich hatte niemand auf den Unfall angesprochen, genaugenommen hatte noch niemand außer Lino mit mir gesprochen und selbst erkannt hatte mich scheinbar noch keiner, oder einfach nicht wahrgenommen. Aber dafür war ich im Moment sogar sehr dankbar.
Trotzdem warteten Lino und ich bis sich der Parkplatz immer weiter lehrte und wir fast ganz alleine in der Eingangshalle standen, sodass ich das Treiben noch eine Weile lang hatte beobachten können.
„Wollen wir?", Lino sah mich ganz ruhig an und ich nickte langsam.
Wir folgten den anderen aus der Eingangshalle einen länglichen Flur hinab zu einer großen, geöffneten Tür, aus der nicht nur laute Musik, sondern auch zahlreiche Stimmen drangen.
Lino ging als erstes durch den hellen Türrahmen, doch ohne zu zögern folgte ich ihm und sah in den großen Saal, in dem auch ich damals meinen Abschlussball gehabt hatte. Allerdings waren die zahlreichen Tische, an denen damals Eltern und sonstige Gäste gesessen hatten auf die Hälfte halbiert wurden und auch wenn das hier trotzdem ein Ball war, glich die Atmosphäre eher der einer Party.
Ich hatte jedoch keine zehn Sekunden Zeit um den Saal und seine Gäste weiter zu mustern und erleichtert festzustellen, dass ich nicht die einzige war, die sich für ein bodenlanges Kleid entschieden hatte, bis es immer leiser um mich herum wurde und sich auf einmal keiner mehr zu unterhalten schien. Dafür spürte ich jetzt jeden einzelnen Blick auf mir und die Musik, die mir vorhin noch so laut erschienen war, kam mir auf einmal viel zu leise vor.
Trotzdem wiederstand ich dem Drang mich wieder umzudrehen, aus der Tür zu laufen und einfach zu verschwinden, obwohl dieser Gedanke im Augenblick nur allzu verlockend war. Doch ich zwang mich einfach Lino hinterherzulaufen, der sich gerade einen Weg durch die Menge bahnte.
Wie zufällig ließ er seine Hand so weit zu mir nach hinten schwenken, dass sich unsere Finger berührten, aber ich wusste das er mir so signalisieren wollte, dass er bei mir war und dass ich ihm einfach weiter folgen sollte.
Mir war bewusst das alle Blicke in diesem Raum auf mir ruhten und dass die Personen, die zu ihnen gehörten scheinbar auch noch nach einem Jahr noch wussten wer ich war. Das prickeln, das sich von meinen Fingern, die Lino berührt hatte meinen ganzen Arm hinaufzog schaffte es jedoch mir den Wunsch zu nehmen fliehen zu wollen, sodass ich weiterhin mit gesenktem Kopf hinter ihm herging.
„Lotte", eine aufgeregte Stimme schrie auf einmal durch den Saal und ich hörte viel zu laut wie Stühle ungeduldig beiseitegeschoben und Leute gebeten wurden beiseite zu treten.
Mit meinem ganzen Mut hob ich meinen Kopf und sah mich um. Noch immer musterte mich jeder aus dem großen Saal neugierig, doch aus der linken Ecke, auf die Marcellino noch immer zielstrebig zuging, waren auf einmal Geräusche zu hören und wenige Sekunden später blieb Lino plötzlich stehen.
„Mensch Lino, ich kann ja gar nicht glauben, dass du das geschafft hast." Erst als sich Fia an Lino vorbeidrückte und dabei geflissentlich das gemeckerte eines mir unbekannten Mädchens ignorierte, das sie dabei beiseitegedrängt hatte, wurde mir bewusst, woher mir die Stimme so bekannt vorgekommen war.
Doch was mich am meisten überraschte war nicht die Tatsache, dass Sophie überhaupt zu mir kam, denn es war typisch für sie immer neue Sachen auszuprobieren und etwas zu wagen, sondern dass sie dabei wie ich es schon an ihrer Stimme vermutet hatte vor Freude strahlte.
Bevor ich auch nur einen weiteren Gedanken zu Ende denken konnte, fand ich mich in einer ihrer herzlichen Umarmungen wieder, die ich fast ebenso sehr vermisst hatte wie sie selber.
Als sie sich von mir löste hatte sie ein warmes Lächeln auf ihren vollen Lippen, doch in ihren schokoladenbraunen Augen konnte ich immer noch die Überraschung erkennen.
„Was machst du denn hier?", bevor ich überhaupt eine Chance hatte ihr zu antworten, sprach Fia schon wieder weiter: „Weißt du eigentlich wie sehr ich dich vermisst habe?"
Jetzt musste ich diejenige sein, die die Überraschung ins Gesicht geschrieben stand, denn Lino pflichtete ihr schnell bei: „Sie hat das ganze Jahr über mindestens einmal jeden Tag gefragt wie es dir ging, nur du hast mich ja nie so weit erzählen lassen, dass ich es dir hätte sagen können."
Ein verblüfftes „Echt?" war alles was mir über die Lippen kam, doch im nächsten Moment ärgerte ich mich darüber, es überhaupt gesagt zu haben. Erst als wir ein paar Sekunden schwiegen wurde mir bewusst, dass auch die anderen wieder angefangen hatten sich zu Unterhalten oder zu tanzen, sodass es nicht nur hörbar lauter geworden war, sondern ich auch nicht länger bei allen im Mittelpunkt stand. Erleichtert entspannte ich mich etwas und fing dann unsicher von neuen an: „Ich meine, du wolltest echt noch wissen wie es mir geht, obwohl ich mich nie bei dir gemeldet habe?"
„Klar!"
„Du hast dir echt noch Sorgen um mich gemacht, obwohl ich dich nie zu mir gelassen habe, wenn du bei mir warst oder auch nur ein Wort gesprochen habe?"
„Natürlich!", ihre Augen blitzten für eine Sekunde verräterisch auf und mir wurde bewusst, dass ich sie mit meinem Verhalten doch ziemlich verletzt haben musste. Deshalb zögerte ich umso mehr, bevor ich meine letzte Frage stellte, in dem Bewusstsein wie erbärmlich ich dabei wirken musste. Doch egal, ich musste es einfach wissen, schließlich hatte Fia ja auch über ein Jahr für mich gekämpft, obwohl ich sie nur ignoriert hatte und jetzt wollte ich wenigstens dieses eine Mal für sie das gleiche tun: „Und du magst mich immer noch, obwohl ich das letzte Jahr über so getan habe als würdest du mir vollkommen egal sein, was echt nicht stimmt und niemals stimmen wird und könntest dir vielleicht sogar vorstellen wieder mit mir befreundet zu sein?"
„Hey", sie sah mich ernst an: „Nur weil es dir richtig scheiße ging, wegen der Sache mit deinen Eltern und wir dir alle nicht helfen konnten, obwohl wir alles gegeben haben, heißt das noch lange nicht, dass wir nicht mehr befreundet sind. Ich meine, daran das deine Eltern gestorben sind konnten wir ja alle sowieso leider nichts mehr ändern, aber dass du nicht wolltest das wir dich trösten und dir helfen ist doch vollkommen ok. Vielleicht hätte ich mir manchmal gewünscht das du dich meldest, doch mir war bewusst wie schlecht es dir ging und deshalb habe ich das auch gar nicht von dir erwartet. Du bist schließlich meine beste Freundin und mich wirst du nie mehr los, das müsstest du doch eigentlich wissen!"
Erneut schloss sie mich in ihre Arme und ich war so von ihr gerührt, dass ich nur mit großer Mühe meine Tränen zurückhalten konnte.
„Es tut mir so leid.", flüsterte ich und sie löste sich wieder von ihr.
„Hey, du darfst jetzt nicht anfangen zu weinen, denk an das schöne Make-up. Du hast anscheinend doch viel von mir gelernt, obwohl ich dich schon fast als hoffnungslosen Fall abgestempelt hatte."
„Aber Hallo, so untalentiert war ich doch gar nicht!", protestierte ich jetzt und konnte auch das Wasser in ihren Augen erkennen als sie vielsagend ihr Gesicht verzog, in Gedanken an meine vielen, total missglückten Versuche von früher, bevor wir beide Lachen mussten.
„Achso übrigens, ich habe Lino nur so mit Fragen wie es dir geht durchlöchert, weil er mir irgendwann verboten hat zu dir zu kommen und es dich selber zu fragen, denn er meinte du brauchtest Ruhe und Zeit. Deshalb war es ja absolut klar, dass ich dann von ihm erfahren musste wie es dir ging um immer auf dem neuesten Stand gehalten werden zu können.", Fia lächelte ihr schiefes Lächeln als sie auf einmal zwei Arme von hinten umschlangen und sie um hundertachtziggrad drehten.
„Nicht das Luftholen vergessen Fifi", sagte mir eine ebenfalls vertraute Stimme und als sie sich kurz darauf auf die Zehenspitzen stellte um Milan zu küssen, überraschten die beiden mich gar nicht. Schon vor einem Jahr hatte Sophie für ihn Geschwärmt und hatte mir stundenlang erzählen können wie toll er war und wie viel Spaß es machte mit ihm zusammen Eis essen zu gehen. Von Lino hatte ich mehr oder weniger erfahren, dass es Milan ähnlich gehen musste und ich hatte es Fia immer sagen wollen, doch er hatte es mir erst auf der Busfahrt nach Hause vor den Sommerferien erzählt und so war ich nicht mehr dazu gekommen ihr das zu erzählen.
Doch zum Glück schienen sie sich auch so gefunden zu haben. Es versetzte mir einen Stich in meinem Herzen, dass so gar nicht mitbekommen zu haben und mir wurde bewusst wie viel ich verpasst haben musste. Umso glücklicher war ich jedoch sofort wieder Willkommen bei ihnen zu sein.
Erst jetzt viel mir auf, dass Sophie ihre sonst so langen Haare, die ihr bis zu ihrer Hüfte gereicht hatten bis zu dem unteren Anfang ihrer Schulterblätter gekürzt hatte. Dadurch wirkten sie jedoch um einiges voller und das dunkle braun, dass perfekt zu ihren Augen passte harmonierte wunderschön mit dem dunkelroten, langen Kleid das sie heute trug.
Auch Milan beäugte ich möglichst unauffällig, doch wirklich viel hatte sich an ihm nicht verändert. Seine dunkelblonden Haare trug er immer noch in der gleichen für Jungs ziemlich typischen Frisur, aber er war bestimmt um einiges gewachsen.
Nachdem Fia sich wieder zu mir gewandt hatte und von hinten noch immer von Milan umarmt wurde, hatte sie ein seliges Lächeln.
„Wir sind jetzt schon seit fast elf Monaten zusammen", erzählte sie glücklich, ohne, dass ich sie überhaupt danach gefragt hätte.
„Ich freue mich so unglaublich für euch!", meine Worte ließen Fia noch mehr erstrahlen und sie drehte sich erneut zu Milan um ihn zu küssen.
Heimlich musste ich mir eingestehen, dass ich sie mir genauso vorgestellt hatte, wenn ich damals überlegte, was für ein Paar sie wohl zusammen ergeben würden und anscheinend hatte ich recht damit gehabt, dass sie perfekt zueinander passten. Allerdings hatte ich keine Zeit weiter darüber nachzudenken, denn keine zehn Meter sah ich Zoe und Jan, die auf uns zukamen.
Zoe hatte ihre rot-orangen, taillenlangen Korkenzieherlocken nicht hochgesteckt, sondern ein paar vordere Strähnen nach hinten genommen. Ich vermutete, dass sie sie dort zusammengeflochten hatte, war mir aber noch nicht sicher, da ich es von hier aus nicht erkennen konnte. Ihr Kleid war dunkelviolett und passte damit zu ihren dunkelblauen Augen und ihren blauen Schuhen. Im Gegensatz zu Fias und meinem Kleid, reichte ihres ihr nur bis kurz über ihr Knie, doch damit konnte sie gut ihre schlanken Beine zeigen, die ich schon immer bewundert hatte.
Jan hinter ihr trug wie Lino und Milan Jackett und Anzugshose, aber nicht in blau oder schwarz, sondern in dem gleichen dunkelvioletten Farbton wie Zoe. Am meisten verwunderten mich aber ihre ineinander verschlungenen Hände. Was mich allerdings nicht wunderte, war die Tatsache, dass Zoe ihre Hand vorne trug und zielstrebig vor Jan ging, der ihr brav folgte.
Wir waren auch gute Freunde gewesen und daher wusste ich wie selbstbewusst Zoe war und hatte schon immer insgeheim vermutet, dass sie die Hosen Anhaben würde, wenn sie einen Freund fand. Aber ausgerechnet Jan?
Es lag nicht an ihm und ich fand auch, dass die beiden total gut zueinander passten, aber vor einem Jahr hatten sie den ganzen Tag nichts anderes getan als sich gegenseitig zu ärgern und zu streiten.
Lino der noch immer neben mir stand fing meinen verwunderten Gesichtsausdruck auf und beugte sich vor. „Was sich neckt das liebt sich.", flüsterte er in mein Ohr und ich musste Lachen. Es war die ganze Zeit über so offensichtlich gewesen, warum hatte ich es eigentlich bemerkt?
In diesem Moment blieben die beiden neben Fia und Milan stehen, die sich noch immer küssten und Zoe löste sich kurz von Jans Hand um mich zu umarmen. „Das ist ja eine Überraschung."
„Ja das stimmt.", Jan war schon immer der Stillste von uns allen gewesen und deshalb wunderte es mich seine Schüchternheit überhaupt nicht, auch wenn Zoe ihm diesbezüglich ziemlich gutzutun schien.
„Lino hat mich überzeugt.", erklärte ich und Zoe fing an zu Lachen.
Da Marcellino neben mir jedoch weiterhin schwieg, war ich diejenige die verwundert „Was denn?", fragte.
„Der Waschlappen der sich schon Wochen zuvor ständig bei uns ausgeheult hat, weil er sich nicht getraut hat dich zu fragen, aber es so gerne wollte?"
Auch Fia und Milan Lachten und als ich mich zu Lino umdrehte, in der festen Erwartung gleich einen ordentlichen Konter von ihm zu hören, sah ich nur wie er mit roten Wangen verlegen auf den Boden starrte.
„Selbst, wenn schon, am Ende hat er sich ja doch getraut.", fiel Milan dazwischen und rettete die Situation für Lino dessen Dankbarkeit man in dem Blick, mit dem er ihn danach musterte nicht übersehen konnte.
„Weißt du was?"
Ich schüttelte den Kopf als Zoe mich fragend ansah, hatte aber gar keine Zeit zu antworten, da Fia schon für sie weitersprach: „Du hast so unglaublich viel verpasst!"
Während Fia und Zoe mir in den Kommenden anderthalb Stunden abwechselnd und wie schon seit eh und je sich gegenseitig ins Wort fallend erzählten, was alles an der Schule, aber auch bei ihnen passiert war, suchten Lino, Jan und Milan einen leeren Stehtisch für uns alle, die am hinteren Ende des Saales standen. Als sie endlich einen gefunden hatten holten sie Getränke für uns alle, die schon leer waren, bis die beiden mit ihren Erzählungen überhaupt erst die Herbstferien erreicht hatten.
Auch die Jungs fielen immer öfter mit ein und erzählten Dinge aus ihrer Sicht und ich konnte nicht mehr sagen, wie lange ich schon nicht mehr so viel gelacht hatte. Zugleich fühlte sich alles aber total vertraut und genauso wie früher an und für einen Moment vergaß ich alles andere um mich herum außer diesen Saal, mit seinen vielen lauten Stimmen, der Musik und natürlich meine Freunde.
Als sie mir das ganze letzte Jahr, oder wie Fia, die noch fünf Stunden am Stück hätte weiterreden könnte es immer wieder betonte, nur das absolut nötigste erzählt hatten, verschwanden Zoe und Jan auf der Tanzfläche. Wahrscheinlich hörte Fia auch nur auf zu reden, weil Milan sie ebenfalls zu einem Tanz entführte, doch auch wenn ich Sophies so Lebensfrohe Art liebte, war ich doch froh eine Pause von den Geschichten des letzten Jahres zu bekommen. Einfach weil mein Schädel von den ganzen eben neu erfahrenen Dingen schon jetzt zu platzen drohte.
„Darf ich?", ich hielt Lino seinen Becher mit dem letzten Rest Bier hin und trank es aus, bevor er überhaupt nur nicken konnte.
„Doch froh hier zu sein?", fragte er mich stattdessen so leise, dass ich es kaum hören konnte.
„Ja total. Danke noch mal für die Einladung und auch das Überreden. Ich glaube sonst wäre ich echt nicht mitgekommen, aber jetzt wo ich weiß wie schön es hier ist und wie schön es ist meine Freunde wiederzusehen, hätte ich es echt bereut nicht mitgekommen zu sein." Irrte ich mich oder strahlten seine Augen bei meinen Worten noch mehr als zuvor.
„Danke das du mitgekommen bist.", sagte er stattdessen und als ich nicht so recht wusste was ich darauf antworten konnte, setzte er für mich ziemlich überraschend: „Hättest du auch Lust mit mir zu tanzen?", hinterher.
Unsicher sah ich auf den Boden. „Ich weiß nicht Lino..."
„Warum denn nicht?"
„Weil es Jahre her ist, dass ich das letzte Mal getanzt habe und ich nicht nur lange nicht so gut bin wie du, sondern auch Angst um deine Füße habe."
Marcellino lachte jedoch nur bei meinen Worten und zog mich hinter sich her in Richtung der Tanzfläche. „Davor brauchst du keine Angst haben, glaub mir. Erstens fände ich es überhaupt nicht schlimm und zweitens zeige ich dir wie es geht, okay?"
„Gerne" brachte ich nur schlicht hervor, da ich ihm nicht zeigen wollte, wie sehr ich mich eigentlich darüber freute, dass er mir anbot mit ihm zu tanzen.
Nachdem er uns einen freien, wenn auch nur kleinen Platz ausgesucht hatte, lege er wie selbstverständlich eine Hand an meine Taille und hielt mir die Rechte abwartend hin. Etwas unsicher legte ich meine Hand in seine und meine Linke vorsichtig auf seine Schulter.
An den Stellen, an denen er mich berührte, kribbelte es und während er anfing die ersten Schritte zu machen und ich ihm nur ungeschickt folgen konnte, wuchs das Kribbeln in meinen Bauch zu Millionen von kleinen Schmetterlingen heran.
Ganz geduldig erklärte mir Lino immer und immer wieder die Schrittfolge und führte mich und inzwischen war ich mir ziemlich sicher, dass wir Rumba tanzten, doch aufgrund meiner nicht vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten würde ich nicht darauf wetten wollen.
Als ich Lino einmal ausversehen mit dem spitzen Absatz meiner Sandale auf den Schuh trat sagte er zwar nichts, aber an der Art und Weise wie er kurz das Gesicht verzog, wusste ich, dass ich ihm doch wehgetan haben musste.
„Oh Entschuldigung! Das wollte ich wirklich nicht.", brachte ich peinlich berührt hervor, doch seine Augen glitzerten schon wieder und ich wusste das er sich darüber amüsierte wie sehr ich mich entschuldigte.
„Andererseits...", setzte ich deshalb hinterher: „...habe ich dich ja auch vorhin gewarnt."
Er sah mich lächelnd an: „Und deshalb trägst du keine Schuld?"
„Ja genau. Es war praktisch ein Risikogeschäft deinerseits."
„Das Risiko gehe ich für dich aber gerne ein."
Ich spürte wie ich bei seinen Worten errötete und vergrub mein Gesicht in seinem Hemd. Ganz ohne nachzudenken zog ich meine rechte Hand aus seiner und legte sie so über seine Schulter, dass ich sie mit meiner Linken umfassen konnte.
Erst als er seine Hand daraufhin ganz leicht an meine Taille legte, mich so ebenfalls umschlang und ich noch einen Schritt auf ihn zugehen musste, sodass unsere Körper fast nichts mehr trennte und ich seine Wärme schon durch mein Kleid hindurch spüren konnte, merkte ich wie viel der Anspannung schon von mir abgefallen war.
Die Lieder wechselten doch ich achtete gar nicht auf sie, hörte auf etwas ganz anderes und ließ mich einfach von Lino führen. Denn sein Herzschlag, den ich durch den dünnen Stoff schlagen hören konnte, war das beruhigendste Geräusch das ich jemals gehört hatte, auch wenn es gerade ganz schön schnell schlug, genauso wie meins.
Für diesen langen, aber doch viel zu kurzen Augenblick schien die ganze Welt um uns herum stillzustehen und jede Einzelne von Linos prickelnden Berührungen jagte eine Energiewelle durch meinen gesamten Körper.
Irgendwann nahm ich meinen Kopf von seiner Brust und sah zu ihm auf. Die Intensität seines Blickes mit dem er mich musterte und das smaragdgrün in seinen Augen, das aus dem braun mehr hervorstach als jemals zuvor ließen mich schaudern, aber in einer angenehmen Art und Weise.
Unsere Blicke verhakten sich ineinander und ich hatte das Gefühl in seinen Augen zu versinken, zu fallen und gleichzeitig mit ihm zu fliegen. Als sein Blick weiterschweifte und er an meinen Lippen hängen blieb, setzte mein Herzschlag für einige Sekunden aus und ein Wunsch ergriff mich, den ich schon lange nicht mehr gespürt hatte und von dem ich bis eben gar nicht mehr gewusst hatte, dass er noch meiner war.
Nur mit Mühe schaffte ich es mich für wenige Sekunden, von seinen Augen, in denen in diesem Moment so viele Gefühle lagen, die ich zum ersten Mal nicht deuten konnte loszureißen und sah mir ganz genau seine restlichen Gesichtszüge an.
Seine kleine Stupsnase, die für mich jedoch so perfekt wie keine andere wirkte, seine glatte und reine Haut, seine Wangenknochen und seine vollen Lippen, die auf einmal eine Anziehungskraft auf mich zu haben schienen und meinen Wunsch immer mehr vergrößerten.
Und dann doch wieder seine Augen, die mich ebenfalls mit einem so zärtlichen Blick musterten, dass ich fast glaubte in ihnen zu schmelzen.
Ganz leicht beugte ich mich nach vorne, ganz langsam immer weiter zu ihm hin und auch er senkte seinen Kopf. Nur noch wenige Zentimeter schienen uns auf einmal voneinander zu trennen und ich konnte meinen Herzschlag in meinen Ohren rauschen hören, als sein warmer Atem leicht auf mein Gesicht wehte.
Auch mit den hohen Schuhen fühlte ich mich auf einmal viel zu klein. Wollte noch größer sein und ihm immer näherkommen.
Vorsichtig stellte ich mich auf meine Zehenspitzen und lehnte mich ganz leicht an ihn um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Der Abstand zwischen uns wurde immer kleiner, die Schmetterlinge die ich die ganze Zeit zu ignorieren versuchte in meinem Bauch immer größer...
„Aber wir vertrauen dir, immer und egal was du machst oder machen wirst mein kleiner Engel."
„Genau und das wird auch immer so bleiben."
„Ich euch auch", im Gegensatz zu den beiden anderen Stimmen, die ich seit dem Tag auf Feders Weide schon kannte, war diese hier für mich neu und ungewohnt hoch, obwohl mir ihre Worte am bekanntesten von allen vorkamen.
„Das ist aber lieb von dir mein Sonnenschein. Und egal was passiert, vergiss nicht, wir werden immer bei dir sein."
„Ich auch bei euch."
„Das ist aber süß."
Die Stimmen waren viel deutlicher als letztes Mal und ich konnte nun auch Hintergrundgeräusche hören, wie das Knarzen, dass sich genau wie das meines früheren Kinderbettes anhörte.
„Möchtest du noch eine Gutenachtgeschichte hören?"
„Nein, möchte ich nicht, weil ich bin ja noch gar nicht müde! Viel lieber möchte ich gekitzelt werden."
„Na wenn das so ist."
Wieder hörte ich das Knarzen und das Geräusch das eine Bettdecke machte, wenn sie bewegt wurde. Ich wusste, dass die Person, das kleine Mädchen von der ich einfach wusste, dass sie zu der hellen Kinderstimme gehören musste, sich unter der dicken Decke versteckte. Genauso deutlich hörte ich ihr Quietschen, als die Bettdecke über ihr einfach weggezogen wurde. Wie sie vergnügt mit ihren Beinen strampelte um den Händen ihres liebevollen Vaters zu entkommen, der sie kitzeln wollte.
Ich wusste was passierte, allein weil ich die Geräusche hörte. Doch erst als ich ihr glockenhelles und engelsklares Lachen hörte, begriff ich welche Szene sich dort wirklich abspielen musste.
„Lotte...?", mit einem Mal nahm ich all die Geräusche um mich herum wieder war, die nun jedoch viel zu laut und künstlich klangen, doch allem voran war da ihr Lachen in meinem Kopf, dass ich besser kannte als jedes andere.
„Lotte, was ist denn los?", Linos Stimme drang wie durch Watte zu mir durch und ich blinzelte um nicht mehr so verschwommen zu sehen, doch anstatt das sich meine Sicht klärte, spürte ich nur warme Tropfen die meine Wange hinabrannen.
Das Glücksgefühl von vor wenigen Sekunden war verschwunden und hatte gleich alle Schmetterlinge mit sich hinab in unendliche Tiefen gerissen.
Ich kannte dieses vor Glück strahlende Lachen, ich kannte die Personen die zu den beiden anderen Stimmen gehörte und auf einmal ergab alles einen Sinn, auch wenn ich mich noch so sehr dagegen wehrte.
Eine Hand strich vorsichtig über mein Gesicht um meine Tränen zu trocknen, doch sie flossen nur immer schneller über mein Gesicht.
„Hey, ich bin bei dir, alles ist gut, oder?", Lino versuchte mich zu beruhigen doch ich konnte ganz deutlich die Panik aus seiner Stimme heraushören.
Nein, nichts war gut, doch das konnte ich ihm nicht sagen. Es gab nur einen logischen Grund, warum mir die hohe Stimme und ihr helles lachen so vertraut vorkamen und ich sie irgendwoher gekannt hatte, warum das Knarzen des Bettes genau wie das von meinem früheren klang, warum ich intuitiv gewusst hatte was passieren würde, doch ich traute nicht es mir selber einzugestehen.
Doch ich kannte die beiden Menschen die zu den erwachsenen Stimmen gehörten, oder viel mehr gehört hatten denn sie waren auf tragische Art und Weise bei einem Unfall vor etwas mehr als einem Jahr verstorben.
Das Lachen war nicht irgendein Lachen gewesen, es war meines, nur damals war ich eben noch viel kleiner gewesen. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, doch das musste ich auch nicht, denn es tat auch so genug weh. Wir waren so eine glückliche Familie gewesen, bis Feder vor einem Jahr alles zerstört hatte.
Nein falsch, bis ich alles zerstört hatte, denn eigentlich war es allein meine Schuld gewesen...
Ein kleiner Teil in mir wollte noch immer daran glauben, dass Feder nichts mit dem Tod meiner Eltern zu tun hatte, doch all die Bilder und Fakten, die Tage, Wochen und Monate voller Trauer die hinter mir lagen drängten ihn immer weiter zurück bis er ganz verschwand.
„Lotte...", verzweifelt nahm Lino mein Gesicht in seine beiden Hände doch durch meine Tränen konnte ich seine sonst immer so beruhigenden Augen fast gar nicht erkennen.
In diesem Moment wusste ich nicht mehr, wie ich auch nur eine Sekunde an Feders Unschuld hatte glauben können, denn nach allem was ich selber erlebt hatte stand fest, dass sie es gewesen sein musste.
Wieder hallte das so unschuldige, fröhliche Lachen in meinem Kopf nach. Ja, da war noch alles gut gewesen, aber jetzt?
Aus vorbei, einfach alles. Ich würde egal was ich tat nie wieder meine Eltern sehen, sie nie wieder umarmen können. Meine ganze Welt war nach wie vor total zerstört.
Ich riss mich von Lino los, drehte ihm den Rücken zu und rannte blind auf den Ausgang zu.
Vielleicht hatte ich nur nicht daran glauben wollen, dass Feder für ihren Tod verantwortlich war, da dieser Gedanke viel zu schmerzhaft war. Nicht wegen Feder, sondern wegen mir. All die fürchterlichen Erinnerungen die ich sonst einfach immer verdrängt und heute wirklich einmal vergessen hatten, keimten wieder in mir auf und ich konnte und wollte sie nicht länger verdrängen.
Denn solange ich diesen Fakt verdrängte, konnte ich auch verdrängen, dass in echt noch jemand ganz anderes die Schuld trug.
Doch ich konnte mir nicht selber länger etwas vorlügen, von dem ich insgeheim wusste, dass es nicht stimmte. Ich konnte nicht mehr länger vor der Realität weglaufen, auch wenn ich es noch so gerne wollte um den ganzen Schmerz und den Schuldgefühlen wenigstens für ein paar Sekunden zu entfliehen.
„Charlotte bleib stehen!" Lino schien mir nachzurennen, doch ich musste jetzt alleine sein. Alle hatten mich so freundlich empfangen obwohl ich eigentlich etwas ganz anderes verdient gehabt hätte. Ohne weiter acht auf die anderen zu nehmen, drängte ich durch die Menschenmassen und versuchte einfach nur irgendwie schneller zu sein als Marcellino.
Denn in der Realität trug ich die Schuld an allem und zwar ganz allein.
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