16. Kapitel

Das raue Holz unter meinen Fingern kam mir inzwischen so vertraut vor, dass ich genau wusste wo sich seine Splitter befanden und ihnen so ausweichen konnte.

Die Nacht war stockfinster und so hob ich mein Bein ohne etwas zu sehen über den Zaun, setze das zweite nach und sprang auf seiner anderen Seite wieder hinunter. Doch in der letzten Zeit hatte ich das so oft getan, war unzählige Male mitten in der Nacht auf Feders Weide gesprungen, da die Chance so am geringsten war entdeckt zu werden.

Vor Marcellino musste ich mich jetzt ja nicht mehr verstecken und ich war ihm dafür immer noch zutiefst dankbar, doch noch während ich ihm vor anderthalb Wochen stürmisch umarmt hatte, hatte er angedeutet, dass ich jedoch auch jetzt nicht würde aufhören können, meine Zeit, die ich gemeinsam mit Feder verbrachte zu verheimlichen.

Denn er kannte mittlerweile mein Geheimnis und auch wenn ich somit gehofft hatte, nicht mehr nur nachts zu Feder zu schleichen, wussten seine Eltern eben noch von nichts von alldem. Und auch wenn es mir ein bisschen komisch vorgekommen war, hatte Lino mich auch gebeten, Feder mit keinem Wort vor ihnen zu erwähnen – natürlich zu unserem Schutz.

Auch wenn sie wussten, dass Lino sie nach ihrem Verkauf zurückgeholt hatte und Feder nun auf der Weide abseitsstand, waren sie nie wirklich begeistert über die Entscheidung gewesen, die er damals getroffen hatte. Denn sie hatten laut ihm auch Angst vor der Schimmelstute und wenn sie wüssten, wie viel mich noch immer verband würden sie mir den Umgang mit Feder vielleicht verbieten, wie es auch Lino zuerst gewollt hatte.

Deshalb konnte ich weiterhin nur zu Feder, wenn es draußen dunkel war und ich mir sicher sein konnte, dass jeder außer mir im Haus schlief. Aber auch wenn ich gerne Tagsüber bei Feder gewesen wäre, war ich im Grunde einfach nur dankbar dafür, dass ich es überhaupt noch konnte.

Ich spürte ein mir nur allzu bekannten Windhauch in mein Gesicht wehen und bemerkte, dass Feder sich an mich herangeschlichen haben musste.

„Hallo meine Maus", lächelnd streichelte ich über ihre Stirn und Mähne hinunter bis zu ihren Nüstern. Mir war bewusst, dass es aufgrund von Feders Größe und auch ihrem Charakter eigentlich so gar nicht passte, aber Maus war mein neuer Spitzname für sie geworden. Vielleicht einfach, weil es einfach so widersprüchlich war, oder weil mich Feders Scheues Verhalten gegenüber anderen – oder bessergesagt Lino – eben doch an eine Maus erinnerte, auch wenn diese bestimmt nicht so sehr versucht hätte mich vor ihm zu beschützen.

Wie früher legte ich meine Stirn an ihre und strich ihr mit meinen Händen über die Wangenknochen, während ich diese vertraute und einfach so selbstverständliche Geste genoss.

„Hey", eine leise Stimme drang in mein Ohr, doch erst Sekunden später realisierte ich es wirklich. Lino.

Nur ungern drehte ich mich zu dem Zaun, von dem aus seine abwartende, fast schon schüchterne Begrüßung gekommen war und suchte hinter ihm nach seiner Silhouette. Doch es war so dunkel, dass ich nichts erkennen konnte.

Erst als Lino sich bewegte bemerkte ich ihn und sah ihn nicht hinter dem Zaun stehen, sondern auf ihn sitzen.

„Störe ich?", seine Stimme war ganz ruhig, doch ich spürte auch ohne seine Gesichtszüge sehen zu können, dass er verunsichert war, denn der Streit von Feder hatte uns wieder voneinander entfernt und das leichte Vertrauen das sich zwischen uns gebildet hatte bedenklich ins Wanken gebracht.

Wie lange saß er wohl schon da?

Auf seine Worte viel mir zuerst keine Antwort ein, denn störte er? Ja, ich liebte es bei Feder zu sein, auf ihrer Weide unter dem Apfelbaum in den Sternenhimmel zu blicken und mit ihr über alles reden zu können und genoss jede Sekunde die ich mit ihr verbringen konnte, doch störte Lino uns gerade?

„Nein, alles gut komm ruhig rüber.", rief ich ihm leise zu, da meine Angst zu groß war, dass seine Eltern vielleicht doch wachwerden könnten, wenn wir zu laut waren, auch wenn mir eigentlich bewusst war, dass diese Weide sich dafür viel zu weit von dem großen Haus entfernt befand.

Gebannt beobachtete ich, wie Lino vorsichtig von dem Zaun ich das trockene, doch trotzdem weiche Graß sprang und auf mich zukam. Wenige Meter von mir und Feder blieb er unschlüssig stehen, doch ich wusste nicht ob es an Feder lag, die schon wieder ihre Nüstern blähte, oder an mir.

Einen Moment schwiegen wir, da keiner von uns so richtig wusste was wir sagen sollten und Lino senkte unsicher seinen Blick. Es musste eine Ewigkeit her sein, dass ich ihn so schüchtern erlebt hatte und irgendwie tat er mir leid.

Vielleicht verriet ich ihm auch deshalb Feders und meine Pläne für heute Nacht, oder einfach, weil mir das Schweigen das wie eine stille Wand zwischen uns schwebte zu unangenehm wurde.

„Feder und ich wollten heute einen Spaziergang machen...", einen paar Sekunden zögerte ich noch: „... möchtest du eventuell mitkommen."

„Ja, sehr gerne."

Als hätte Feder gewusst worüber wir geredet hätten, knuffte sie mich härter als nötig in meinen Rücken, fast so als wollte sie mir sagen wie wenig ihr das gefiel. Doch so gut es ging versuchte ich sie zu ignorieren.

Lino stand noch immer ein bisschen Abseits und das wunderte mich sehr, denn ich glaubte nicht, dass es an Feder lag. Jedoch war er mir gegenüber noch nie so zurückhaltend gewesen, sondern war früher auch nach einem Streit, der nicht sehr häufig zwischen uns vorgekommen war – wahrscheinlich könnte ich die Male sogar an einer Hand abzählen – sofort auf mich zugekommen. Und natürlich war zwischen uns sofort alles wieder gut gewesen, da wir eigentlich immer zusammengehalten hatten.

Warum verhielt er sich dann dieses Mal so anders? Ein ganz komisches Gefühl stieg in mir auf, das gleiche das mich auch schon erobert hatte, als wir uns um Feder gestritten hatten, doch ich versuchte es zu ignorieren und wieder zu verdrängen.

Stattdessen ging ich mit Feder an meiner Seite los und rief zu Lino über meine Schulter, dass er mitkommen sollte, bevor wir uns den mit Bäumen bewachsenen Teil von der Koppel näherten.

Den ganzen Weg bis zum Zaun war ich in meinen Gedanken versunken und überlegte ob es wirklich schlau war Lino, der noch immer mit einem Meter Abstand hinter uns lief das Tor im Zaun zu zeigen. Erst als wir fast angekommen waren, schaffte ich es mich von meinen Zweifeln zu befreien, denn schließlich hatte er gesagt, dass er Feder und mir vertraute.

Also würde er auch das Tor hinnehmen, das er bestimmt noch nicht kannte, da es so gut durch die Sträucher und Bäume verdeckt wurde und damit auch die Spaziergänge, die Feder und ich unternahmen.

Der Riegel, der verhinderte, dass es aufschwang und das Tor so fast wie einen ganz normalen Teil des Zaunes aussehen ließ klemmte durch die mittlerweile eigentlich tägliche Benutzung nicht mehr ganz so Dolle wie am Anfang, doch war noch immer meilenweit davon entfernt um als leichtgängig beschrieben werden zu können.

Als ich mich niederkniete, um ihn leichter verschieben zu können, spürte ich Linos Blick auf meinem Rücken und drehte mich zu ihm um.

Fragend sah er mich an: „Kein Halfter?"

„Wir brauchen keins, du wirst schon sehen."

Er wirkte noch immer nicht ganz überzeugt, doch trotzdem drehte ich mich wieder um und versuchte weiter das Tor zu öffnen, dass wenige Sekunden später aufsprang, sodass ich mich wieder aufrichtete.

„Mein Spaziergang, meine Regeln.", mit diesen Worten und einem leichten Lächeln im Gesicht öffnete ich das Tor und sah Feder zu, die mit hoch erhobenem Schweif an mir vorbeitrabte und bedeutete Lino ihr zu folgen. Ich ging als letztes durch das Tor und verschloss es wieder, bevor ich Feder folgte, die schräg nach rechts getrabt war und keine fünf Meter vor uns auf mich wartete.

Schon allein an ihrem Blick konnte ich erkennen, wie wenig es ihr gefiel, dass Marcellino mitkommen musste und schaffte es gerade nur so mir ein Grinsen zu verkneifen, da sie mich einfach viel zu sehr an ein trotziges Kleinkind erinnerte.

Anscheinend schien aber nur ich ihren missfallen zu bemerken, denn Lino ging still neben mir her und war damit beschäftigt nicht über die Stöcker zu stolpern, die unter der Laubschicht vom letzten Jahr und wegen der Dunkelheit kaum zu erkennen war.

Bevor ich aber anfangen konnte mit ihm zu reden, hatten wir zu Feder aufgeschlossen, doch anders als sonst galoppierte sie nicht wieder weiter um interessiert an ihr unbekannten Pflanzen oder Tieren zu schnüffeln. Unweigerlich musste ich an den Igel von neulich denken, an dem sie trotz meines Ratschlages es nicht zu tun unbedingt hatte riechen wollen und ihr erschrockenes Quieken, als sie mit seinen Stacheln in Berührung gekommen war. Hinterher hatte es bestimmt eine geschlagene Stunde gedauert, sie ihr alle aus ihrer Oberlippen- und Nüstern Partie zu ziehen, da sie nie stillhalten wollte und sie hatte mir schrecklich leidgetan, auch wenn ich mich gleichzeitig insgeheim fragen musste, wie man nur so dämlich sein konnte. Dieses Mal jedoch blieb sie stehen und versuchte sich sogar zwischen mich und Lino zu drängen, wobei ich ihr ansehen konnte, wie unwohl sie sich in seiner Gegenwart fühlte.

„Feder", überrascht sah ich zu ihr und merkte erst jetzt, dass sie inzwischen wie eine Mauer auf meiner rechten Seite zwischen Lino und mir herlief um mich vor ihm abzuschirmen.

Doch sosehr ich sie auch zu verstehen versuchte, ich wurde aus ihrem komischen Verhalten nicht schlau. So etwas hatte sie noch nie gemacht und es wirkte wirklich fast so, als wollte sie mich vor ihm beschützen, doch aus welchem Grund?

„Seit wann bist du denn so misstrauisch?", vorsichtig fuhr ich ihr über die Mähne, die ihren muskulösen Hals hinabviel während sie weiter neben mir herging.

Ein paar Mal versuchte ich mich vor ihr oder hinter ihr entlang auf Linos Seite zu schleichen, der ein paar Meter Abstand von Feder hielt, da auch er zu bemerken schien wie aufgebracht sie war. Aber egal wie ich es versuchte, sie hielt mich entweder von Anfang an ab und ließ mich gar nicht an ihr vorbei gehen oder zwängte sich wieder zwischen ihn und mich und wieherte mir anschließend anklagend zu.

Was sollte das alles? Einerseits fand ich es echt lieb von ihr, dass sie mich so sehr beschützen wollte, doch andererseits fand ich ihr Verhalten auch vollkommen übertrieben. Wenn ich ihr sagte, dass wir Lino vertrauen konnten, war es ihre Sache ob sie das tat, aber eben auch meine Sache ob ich ihm nun vertraute, oder nicht. Nur weil sie ihm nicht traute konnte Feder doch nicht damit durchkommen auch für mich bestimmen zu wollen, selbst wenn das nur aus Sorge geschah.

Doch was mich mit Abstand am meisten ärgerte war, dass sie so einfach damit durchkam. Nein das ging so nicht weiter.

Noch einmal versuchte ich zielstrebig vor ihr sie Seite zu wechseln um bei Lino zu sein, doch sie buffte mich dafür hart an mein linkes Schulterblatt, dessen Schulter daraufhin zu schmerzen anfing. Mir war bewusst, dass das nicht ihre Schuld gewesen war, sondern daran lag, dass sie vor etwas über einem Jahr gebrochen worden und trotz vollständiger Heilung noch immer etwas schmerzempfindlich war, aber gerade ging sie echt zu weit.

Wütend drehte ich mich zu ihr um. „Feder!", anders als sonst sprach ich ihren Namen nicht ganz sanft und liebevoll aus, sondern ziemlich bestimmt. Genaugenommen viel bestimmter und härter als ich es ursprünglich gewollt hatte, doch jetzt konnte ich es auch nicht mehr ändern. Dafür wählte ich liebere Töne als ich weitersprach: „Könntest du das bitte lassen?"

Einen Moment lang glaubte ich, dass jetzt endlich Frieden einkehren würde, doch ich hatte mich getäuscht, denn Feder Schnaubte nur unzufrieden und drängte sich wieder rechts neben mich, oder genaugenommen zwischen mich und Lino, wie eine Wand.

Ohne weiter nachzudenken hielt ich an und wusste, dass sie ebenfalls stehenbleiben würde, alleine schon um zu verhindern das ich wieder die Seiten wechselte – oder es zumindest versuchte.

„Was soll das?", gereizt starrte ich Feder an doch sie schwieg, da sie ja nicht mal wissen konnte was ich gerade sagte und mir wurde bewusst, dass ich so auch nicht weiterkommen würde. Also Taktikwechsel.

„Ich finde es wirklich sehr nett, dass du mich beschützen möchtest...", eilig suchte ich nach den richtigen Worten: „... neulich auf der Weide hast du auch ganz richtig gedeutet, dass ich nicht allzu erfreut war Lino zu sehen, aber wir haben miteinander geredet und das alles hat sich wiedergegeben. Danke, dass du mich so beschützt, aber Lino und ich sind Freunde und das wird auch immer so bleiben und du musst mich wirklich nicht vor ihm in Schutz nehmen."

Unsicher suchte ich Linos Blick und erhoffte darin versichert zu bekommen, dass ich das richtige machte, doch er schaute nur auf den Boden. War er verlegen? Eigentlich musste ich mich irren doch in dem schwachen Mondlicht, dass durch die Blätter zu uns nach unten schien, wirkte es fast so als hätten seine Wangen sich gerötet.

Von ihm konnte ich im Moment also auch nichts erwarten, doch das musste ich auch gar nicht, denn im Grunde war es ja eine Sache zwischen Feder und mir. Doch wenn ich ehrlich war, wusste ich auch gar nicht wie ich darauf reagieren sollte, denn die Tatsache, dass sie mich beschützen wollte, fand ich herzallerliebst. Allerdings hatte ich echt keine Ahnung warum sie es so dermaßen übertrieb.

Doch jetzt musste ja eigentlich alles geregelt sein, oder? Anscheinend hatte ich mit meiner Annahme die Realität weit verfehlt, denn Feder schnaubte jetzt nicht nur missbilligend, sondern wieherte auch einmal und das ziemlich laut und protestierend.

Lag es vielleicht nicht nur an meiner Unsicherheit, die ich neulich ausgestrahlt haben musste, als Marcellino nach unserem Streit um Feder auf ihrer Weide aufgetaucht war und die mittlerweile natürlich schon längst wieder verflogen war? Die Erinnerung an meine erste und komplett unverhoffte Begegnung mit ihr nach einem Jahr viel mir wieder ein, besonders als Feder Lino auf sich zukommen gesehen hatte, umgedreht und schnellstmöglich weggaloppiert war. Vielleicht hatte sie sich gar nicht erschreckt, weil er zu schnell und nach mir rufend auf uns beide zugestürmt war, sondern weil er eben er selber, also Marcellino gewesen war.

Warum sonst sollte sie mich vor ihm beschützen, wenn sie ihn selber so wenig mochte, ja sogar Angst vor ihm hatte? Weil sie Angst um mich hatte, wenn er in meiner Nähe war, doch wieso?

Für einen ganz kurzen Augenblick hatte ich das Gefühl, da wäre etwas, das vor langer, langer Zeit passiert war, aber dass ich so Doll verdrängt hatte, dass ich nicht mehr wusste was es war. Doch der Gedanke daran war viel zu schwach um ihn erfassen zu können was es war und ich wusste das ich es nicht herausfinden würde, egal wie angestrengt ich es auch versuchen würde und wie dicht es an der Oberfläche meines Unterbewusstseins schwebte, nicht heute zumindest.

Erst als Feder mich vorsichtig an stupste und mich in die Gegenwart zurückholte bemerkte ich, dass sich die kleinen Härchen an meinen Armen zu einer Gänsehaut aufgestellt hatten.

Gerade als ich den Mund aufmachen wollte, redete Lino an mich gewandt dazwischen: „Ist es nicht vielleicht sogar gut, wenn sie dich so sehr beschützt? Denn zum einen zeigt es, wie viel du ihr bedeuten musst und zum anderen wie sehr sie in für dich gefährlichen Situationen für dich kämpfen würde, was ja eigentlich eine total tolle Eigenschaft von ihr ist."

Das ausgerechnet er auf Feders Seite sprang überraschte mich total, auch wenn ich nicht so recht wusste wieso: „Ja schon und ich bin ihr auch total dankbar dafür, dass ihr so viel an mir liegt, aber... aber ich erwarte auch von ihr, dass ich Zeit mit meinem beste Freund verbringen kann, ohne von ich dauernd davon abgehalten zu werden, nur weil sie ihn voller unrecht als gefährlich eingestuft hat."

Für eine Sekunde huschte ein Schatten über sein Gesicht, von dem mir das erste Mal seit langem wieder auffiel wie schön es eigentlich war. Doch als ich einmal blinzelte war dieser schon wieder verschwunden, sodass ich mir nicht sicher war, ob ich ihn mir nur eingebildet hatte. Dafür könnte ich schwören, dass seine Wangen sich schon wieder leicht rötlich färbten.

Auch wenn ich es eigentlich gar nicht beabsichtigt hatte, freute es mich, dass es ihm scheinbar so viel bedeutete von mir als mein bester Freund bezeichnet zu werden, ich freute mich sogar ziemlich sehr darüber.

Doch ohne noch weiter daran zu denken und auf das komische flatternde Gefühl zu hören, dass ich schon so lange nicht mehr in meiner Magengegend verspürt hatte, wandte ich mich jetzt wieder Feder zu.

„Danke, dass du mich so sehr beschützt, das bedeutet mir echt viel...", begann ich erneut und redete wieder ganz leise und liebevoll weiter um sie zu beruhigen: „... doch ich würde mir auch wünschen, dass du akzeptiert, wenn ich deinen Schutz gerade nicht möchte, okay? Ich verstehe ja schließlich auch, dass du Lino nicht traust, auch wenn ich absolut nicht nachvollziehen kann wieso, doch dann möchte ich auch, dass du es eben akzeptiert, dass ich ihm vertraue und zwar voll und ganz. Deshalb brauche ich deinem Schutz vor ihm nicht, auch wenn es nur lieb gemeint ist und ich möchte das du nichts dagegen unternimmst, wenn ich Zeit mit ihm verbringen möchte. Auch wenn das jetzt wieder öfter vorkommen wird, da wir Freunde sind und das unter Freunden einfach selbstverständlich ist."

Feder hatte keines meiner Worte verstehen können, doch allein mein Tonfall und meine Mimik und Gestik hatten ihr verständlich gemacht, was ich von ihr wollte.

Unwillig schabte sie mit ihrem linken Huf auf der Erde, doch sie war nicht mehr so uneinsichtig wie zuvor und ich wusste, dass meine Botschaft bei ihr angekommen sein musste, auch wenn sie ihr definitiv nicht gefiel. Aber ich wusste auch, dass ich mich auf sie verlassen konnte und sie deshalb auf mich hören würde.

Wie in letzter Zeit so häufig strich ihr ihr die Mähne aus den Augen die noch immer aufmerksam auf mir ruhten und kraulte für einen Moment ihre Lieblingsstelle, ihren Stirnwirbel, bis sie ihre Nüstern nicht mehr geräuschvoll vor lauter Aufregung blähte.

Die ganze Zeit über versuchte ich ihr Wortlos mitzuteilen, dass sie keine Angst haben musste solange ich bei ihr war, weil ich sie immer beschützen würde. Angst, erst jetzt war mir aufgefallen, wie viel sie davon selber gespürt haben musste und trotzdem war sie dageblieben und hatte mich beschützt.

Aber wieso? Das alles ergab doch überhaupt keinen Sinn. Warum sollte sie Angst vor Lino haben, demjenigen den ich wahrscheinlich länger kannte als ich denken konnte und dem ich immer blind vertraut hatte und es auch immer tun würde?

Zusammen mit dem unguten Gefühl, dass erneut in mir aufflammte und dass ich überhaupt nicht einordnen konnte, verdrängte ich diese Gedanken wieder und konzentrierte mich wieder auf Feder.

Ich brauchte gar nichts zu sagen, denn wir verstanden uns auch ohne Worte. Alles ist gut, solange ich bei dir bin wird dir nichts passieren, denn das würde ich niemals zulassen, vertrau mir nur, versuchte ich ihr über meine Körpersprache zu vermitteln.

Tatsächlich wurde sie immer ruhiger und auch wenn sie noch immer angespannt war und Marcellino in keiner Sekunde aus den Augen ließ, konnte ich an ihren Ohren, dessen eines sich in meine Richtung drehte erkennen, dass ihre Angst kleiner geworden war.

Behutsam gab ich ihr noch einen Kuss auf ihre Nasenspitze, bevor ich mich wieder zu Lino umdrehte und wir unseren Spaziergang fortsetzen. Immer wieder versuchte ich nicht an die einzige Frage zu denken, die mir unaufhörlich vor all meinen anderen Gedanken schweben zu schien: Warum? Warum war Feder so ängstlich gegenüber ihm? Warum versuchte sie dennoch mich vor ihm zu schützen? Aber vor allem: Warum hatte sie Angst um mich wenn Lino bei mir war?

Auf keine diese Fragen hatte ich eine Antwort und so gab ich das Grübeln nach einer Weile leise seufzend auf und nahm mir vor mich ein anderes Mal weiter damit zu beschäftigen.

Feder trottete inzwischen hinter uns her und auch wenn ich sie nicht sehen konnte spürte ich ihre wachsamen Blicke auf mir, fast so, als ob sie mich aus der Entfernung noch immer beschützen wollte.

Bis hierher konnte ich ihre Aufregung spüren, doch ich war mir sicher, dass Lino davon nichts mitbekam. Auch wenn ich Feder vorhin einen Teil ihrer Angst hatte nehmen können, ganz war es mir nicht gelungen und somit blieb meine Frage ohne Antwort nach dem Warum zumindest unterbewusst in meinem Gedächtnis.

Jedoch schien sie mir so weit zu vertrauen, dass sie nicht mehr versuchte mich vor Lino durch sich selber zu schützen, was eine weitere Sache war die ich nicht verstand, nachdem mir bewusst gewesen war, dass sie sich echt vor ihm fürchtete. Nur eines ihrer gelegentlichen unzufriedenen Schnauben zeigten mir wie wenig Feder diese Situation gefiel, was Lino ebenfalls nicht zu bemerken schien, doch er kannte sie ja auch lange nicht so gut wie ich. Zudem hatte er für so etwas noch nie ein so feines Gespür gehabt wie ich und besonders wenn ich bei Feder war wusste ich auch ganz ohne Worte oftmals auf was sie hinauswollte.

„Weißt du was?", Lino riss mich mit seiner Frage vollkommen unerwartet aus den Gedanken, doch ich war froh das er unser gemeinsames Schweigen beendete, auch wenn es nicht unangenehm gewesen war. Wir hatten nur beide unseren eigenen Gedanken nachgehangen und nun wollte er seine wohl mit mir teilen.

„Was denn?", ehrlich interessiert sah ich ihn an.

„Wir haben Tipsy vor ein paar Tagen das erste Mal mit Mo zusammen auf die Weide gebracht und sie sind seit der ersten Sekunde ein Herz und eine Seele."

Erst nach ein paar Sekunden viel mir ein, das Tipsy die Isländer Stute sein musste, die sie auf dem Pferdemarkt gekauft hatten. Das Mo jetzt nicht länger alleine auf der Koppel stehen musste, sondern endlich in Gesellschaft war freute mich sehr für ihn, da ich mir das immer gewünscht hatte.

„Schön", ich nickte wie um meine Worte zu unterstreichen und spürte, dass sein Blick von der Seite auf mir ruhte.

„Heute habe ich sie sogar schon nebeneinander im Schatten einer Buche liegen und sich gegenseitig ihr Fell pflegen sehen."

Nur zu gut konnte ich mir vorstellen wie die beiden dicht aneinander gekuschelt dalagen und sich gegenseitig kraulten. Mo war natürlich als Shetlandpony ein ganzes Stück kleiner, doch egal wie viel Mähne Tipsy als Isländerin wohl haben musste, Mos hatte viel dichteres Fell. Selbst im Sommer und ich hatte mich früher immer gefragt, wie er das in der Hitze überhaupt ausgehalten hatte, doch das schien ihm nichts auszumachen.

„Da hat Tipsy aber wohl deutlich mehr zu tun als er."

Lino lachte leise neben mir und ich wusste, dass er genau wie ich an die paaren Male denken musste, in denen wir versucht hatten, Mo den ganzen Staub aus seinem Fell zu putzen. Wir hatten immer mehrere Stunden gebraucht und auch wenn die Obere Fellschicht dann immer Lackschwarz geglänzt hatte, hatte man ihm nur einmal auf den Hals klopfen müssen, um fast in einer Staubwolke zu ersticken. Am Ende hatte nur eine Dusche mit ganz viel Seife geholfen, obwohl wir wegen Mos Ungeduld und eher verhaltenen Beziehung zu Wasser danach fast genauso nass gewesen waren wie er selber.

Auch ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen und es überraschte mich selber, wie leicht es mir viel mit Lino zu sprechen. Schon früher hatten wir immer etwas gefunden, worüber wir uns hatten unterhalten können und so war uns auch nach Tagen oder ganzen Wochen, in denen wir mit keinem außer uns Zeit verbrachten nicht langweilig geworden.

Aber ich war mir nicht sicher gewesen, ob das nach dem Jahr, in dem ich ihn fast immer angeschwiegen hatte und ihm ausgewichen war noch genauso unverändert war, doch anscheinend waren meine stillen Zweifel unbegründet gewesen.

Die ganze Zeit redeten wir über die verschiedenen Pferde auf unserem Hof und die Abenteuer, die wir als Kinder zusammen erlebt hatten. Wie lange war es her, dass ich so offen über meine Vergangenheit redete, von der Zeit in der meine Eltern noch Lebten und damit riskierte die alten Wunden wieder aufzureißen und generell so viel Wörter über meine Lippen huschten? Bestimmt über ein Jahr, vor jenem verhängnisvollem Unfall.

Mir wurde erst jetzt so richtig bewusst, wie sehr mir Lino gefehlt hatte und nicht nur er, sondern auch die offene, vertraute Art in der wir miteinander sprechen konnten. Doch am allermeisten waren es die Dinge gewesen, die wir früher zusammen erlebt hatten, was aber noch lange nicht bedeutete, dass unsere Eltern sie uns alle erlaubt oder auch nur von ihnen gewusst hatten. Zusammen konnten wir uns jedoch über jede Regel hinwegsetzen, denn wir hatten auch zusammen den Ärger ertragen – wenn wir dann aufgeflogen waren – und dann war es nur noch halb so schlimm gewesen.

Am schönsten waren mir immer die Nachmittage in Erinnerung geblieben die kurz nachdem ich in seine Klasse gekommen war, stattgefunden haben mussten. Wir waren nach der Schule nicht noch mit unseren Freunden in die Stadt, ins Schwimmbad oder zum Eis essen und Kaffeetrinken gegangen, sondern waren zu zweit nach Hause gefahren.

Zu zweit hatten wir uns dort auf eine der großen Weiden im Schatten der Bäume gesetzt und oft Stundenlang hatte Marcellino mir versucht den Stoff zu erklären, den ich noch nachholen musste.

Manchmal waren wir beide erst nachdem wir draußen wegen der Dunkelheit nichts mehr sehen konnten in unsere Häuser gegangen und hatten aufgehört zu lernen. Die Nachmittage, die wir dadurch jedoch zusammen verbracht hatten, im Schatten und hohen Graß der Koppeln, waren jedoch wunderschön gewesen. Zudem waren sie auch der einzige Grund, warum sich meine Noten nach der plötzlichen Verschlechterung in der neuen Klasse, nach einer Zeit auch wieder verbessert hatten.

Als ich einen Blick nach rechts warf, erkannte ich an seinen schiefen Lächeln dass Lino ebenfalls daran denken musste.

Hatte ich mich eigentlich jemals dafür bedankt, wie viel Mühe er sich damit gemacht hatte mir alles begreiflich zu machen, was ich nicht verstanden hatte?

„Danke"

Er blieb überrascht stehen und wandte sich zu mir: „Wofür denn?"

„Dafür, dass du mir damals so sehr geholfen hast, den jetzt im Nachhinein glaube ich, dass ich das ohne dich echt nicht gepackt hätte."

Lächelnd sah er mich an und auf einmal hatte ich wieder das Gefühl, dass tausend Schmetterlinge in meinem Bauch fliegen würden.

„... und für die unendlich schönen Nachmittage auf den Weiden.", setzte ich noch hinterher und vorsichtig trat Lino noch einen Schritt auf mich zu.

Einen Moment standen wir nur ganz still da, keine dreißig Zentimeter voneinander entfernt und schauten uns gegenseitig in die Augen. Wie hatte ich nur vergessen können, dass das grün-braun seiner Iris so geheimnisvoll schimmerte, wenn es vom Licht des Mondes angestrahlt wurde?

Ich hatte das Gefühl zu fallen, aber gleichzeitig zu fliegen und von Lino gehalten zu werden. Mit einem Mal schien die Zeit um uns herum stillzustehen und es gab nichts mehr um mich herum, außer Marcellino und mich.

Behutsam nahm er meine linke Hand in seine und ein Kribbeln jagte an den Stellen an denen er mich berührte durch meine Haut, meinen ganzen Arm hinauf direkt zu meinem Herzen das mächtig ins Stolpern kam.

Nur mühsam schaffte ich es schließlich mich von seinen Augen loszureißen, die mir gerade eine ganze Welt präsentieren zu schienen und meinen Blick aus seinem wunderschönen Gesicht, auf unsere Hände zu lenken.

Fliegen, fallen und gleichzeitig gehalten werden, auch wenn es paradox war, genauso fühlte es sich an und ich wusste nicht ob Lino es mitbekam, doch er schien mir jeden klaren Gedanken zu rauben.

„Du, ich wollte dich was fragen."

Wieder sah ich hinauf in seine hübschen Augen, doch bemühte mich dieses Mal nicht zu sehr in seinem Blick zu verlieren und nickte anstatt einer Antwort schwach.

„Dieses Wochenende ist der Ein Ball von unserer Tanzschule...", wie durch Nebel drang seine Stimme zu mir: „... und ich wollte dich fragen, ob du mich eventuell begleiten würdest?"

Von einer Sekunde auf die andere war der Nebel verschwunden und Alarmglocken schrillten in mir. Ohne es wirklich zu bemerken trat ich einen Schritt zurück und nahm meine Hand aus seiner.

„Hey, was ist denn los?", betroffen sah Lino mich an und ich wusste, dass er nicht mit so einer Reaktion gerechnet hatte.

Aber ich konnte nicht, denn mir wurde bewusst, dass all seine Freunde und damit auch meine mit ihm an derselben Tanzschule und somit im selben Tanzkurs waren.

Milan, Zoe, Jan und allen voran Fia. Sie war die einzige meiner Freunde gewesen, die mich im Krankenhaus oder in der Zeit nach dem Unfall besucht hatte, doch ich hatte sie immer Abgewiesen, sodass auch sie es irgendwann aufgegeben hatte, mich irgendwann aufgegeben hatte.

Würde ich mit Lino zu seinem Abschlussball gehen, würde ich sie alle wiedersehen, doch wollte ich das? War ich da überhaupt schon bereit für?

„Ist es wegen unserer Freunde?", er sah mich aufmerksam an und mir wurde bewusst, dass er mich nur allzu gut kannte.

Ich senkte meinen Kopf und sah auf den Waldboden unter meinen dreckigen Wanderschuhen.

„Ach Lotte...", er ging wieder einen Schritt auf mich zu: „Ich habe es dir nicht gesagt, weil ich dachte, dass es dir damals zu viel gewesen wäre, aber sie haben immer wieder gefragt wie es dir geht. Und Sophie fragt sogar immer noch regelmäßig nach dir."

Weiterhin sah ich hinab aber mich rührten seine Worte, auch wenn ich es eigentlich nicht wollte. Ganz genau betrachtete ich das Blatt, das von einem Ahornbaum stammen musste und zwischen meinen Füßen im Schlamm lag.

„Du brauchst echt keine Angst davor haben sie wiederzusehen, denn ich weiß, dass sie sich alle einfach nur freuen würden. Und wenn nicht, bin ich ja auch noch da."

Für ihn klang das alles so einfach und selbstverständlich, doch mich hatte er noch lange nicht überzeugt. Klar, ich hatte Angst davor Fia und die anderen wiederzusehen, nach so langer Zeit, nicht wegen ihnen, sondern wegen diesen doofen Fragen, mit denen alle einen immer durchlöchern wollten. Aber es waren ja nicht nur Lino und Milan, Jan, Fia und Zoe da, sondern auch noch viel mehr andere Schüler und Schülerrinnen von meiner alten Schule. Seit dem Tod meiner Eltern hatte ich versucht jeden Menschen, mittlerweile abgesehen von Lino zu meiden und das würde ich dort nicht mehr können. So vielen Menschen war ich nach dem Unfall nicht mehr begegnet und jetzt damit anzufangen überzeugte mich nicht.

„Wirklich, wenn was seinen sollte, bin ich bei dir. Und es würde dir bestimmt guttun und dich mal auf andere Gedanken bringen."

Insgeheim wusste ich, dass Lino trotz allem wahrscheinlich sogar rechthaben würde, doch irgendetwas hielt mich davon ab Ja zu sagen. Es lag nicht an ihm, gewiss nicht, doch ich traute mich einfach nicht.

Vollkommen unerwartet trat er noch einen Schritt auf mich zu und strich mir ganz vorsichtig eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die ich noch nicht einmal bemerkt hatte. Danach legte er seine kalte, kräftige Hand an meine Wange und schob leicht meinen Kopf nach oben um mich zu zwingen ihn wieder anzusehen.

„Außerdem", fuhr er leise und keine zehn Zentimeter von meinem Gesicht entfernt fort: „würde ich mir wünschen, dass du mit mir kämst."

An dem Leuchten in seinen Augen konnte ich erkennen, dass er die Wahrheit sprach und ohne mir recht zu überlegen was das bedeuten würde fiel ich mit einem zögerlichen „Und ich wünsche mir mit dir kommen zu können" in seine Arme.

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