10. Kapitel
Genervt setzte ich mich wie schon unzählige Male zuvor in dieser Nacht auf um mein Kopfkissen umzudrehen, sodass die kalte Seite nun zu mir zeigte. Doch auch während ich mich wieder hinlegte, wusste ich, dass das ganze nichts bringen würde.
Die ganze Zeit über hatte ich versucht einzuschlafen, mich jedoch nur von einer Seite auf die andere gedreht, in dem Versuch irgendwann eine geeignete Position zum schlafen zu finden, aber ich war definitiv daran gescheitert.
Wahrscheinlich gingen mir zu viele Gedanken durch den Kopf um schlafen zu können, doch so oft ich es auch schon versucht hatte, sie ließen sich einfach nicht verdrängen.
Noch einmal drehte ich mich auf die andere Seite und schaute nun die lila Vorhänge vor meiner Sitzfensterbank an. Durch einen kleinen Spalt zwischen ihnen, konnte ich den Mond draußen erkennen und einen großen Baum, der auf einer der vielen Weiden vor dem Haus stehen musste.
Ich schloss die Augen und versuchte endlich zu einschlafen, doch stattdessen schossen meine Gedanken zu dem Baum und der Weide, auf der er stehen musste. In dem letzten Jahr hatte ich meinen Blick oft, während ich in meinen Gedankenversunken auf der Fensterbank gesessen hatte, über die Weiden streifen lassen, so dass ich sie alle kannte.
Alle in und auswendig kannte. Auch wenn es mir im Nachhinein fast schon ein bisschen verrückt vorkam, konnte ich genau sagen wie viele Bäume und Sträucher auf jeder von den großen Koppeln standen und vor allem wo sie sich befanden.
Deshalb wusste ich auch, auf welcher der umzäunten Wiesenstücke dieser hier stehen musste. Natürlich war mir das bewusst, denn er stand auf der Weide die ich am öftesten beobachtet hatte. Weil sie der Ort war, an dem meine Eltern gestorben waren. Weil sie Feders Weide gewesen war.
Feder, ihr Name blieb unterbewusst in meinen Gedanken hängen und auf einmal schien ich ganz genau zu wissen, wo ich hingehen konnte.
Heftiger als es nötig gewesen wäre, schlug ich meine Decke zurück und setzte mich auf. Doch es war mitten in der Nacht, durfte ich überhaupt zu ihr?
Unschlüssig schwang ich meine Beine über die Kante meines Bettes, erhob mich und tigerte leise in meinem Zimmer auf und ab, darauf bedacht keinesfalls die anderen zu wecken.
Nein, dürfen durfte ich es ganz bestimmt nicht, aber das hatte nur herzlich wenig mit der Uhrzeit zu tun. Deshalb hatte ich Lino und seinen Eltern auch nichts von meiner Rettung durch Feder, aber auch von meiner Übernachtung in ihrem Stall erzählt. Sie hatten sie zwar behalten, obwohl ich sie hatte verkaufen wollen und darüber war ich inzwischen unendlich froh, doch ich war mir inzwischen sicher, dass sie ziemlich überrumpelt wären, wenn sie wüssten, wie viel mich noch immer mit ihr verband, da ich es ja selber gar nicht verstehen konnte. Nachher würden sie mir den Umgang mit ihr noch verbieten...
Aber sie mussten ja schließlich nicht alles wissen, oder? Und wenn sie es nicht wussten, könnten sie es mir auch nicht verbieten, oder uns sonst wie bestrafen. Es dürfte nur keiner mitbekommen.
Einen Moment lang starrte ich noch zwischen den Spalt des dicken Vorhangs auf die Weiden, die noch immer hell vom Mond beleuchtet wurden, da gestern erst Vollmond gewesen war, bevor ich mich zu meiner Zimmertür herumdrehte.
Als ich ihre kalte Türklinke berührte, keimte ein leichter Schub von Aufregung in mir hinauf. Wie lange war es her, dass ich so etwas gewagt hatte?
Unweigerlich musste ich an die vielen Male denken, bei denen Lino und ich uns immer im Dunkeln aus dem Haus geschlichen hatten, um einen kleinen Mitternachtsausritt zu erleben. Um möglichst wenig aufzufallen, hatte ich an diesen Tagen immer bei ihm, oder er bei mir Übernachtet, damit wir uns nicht noch gegenseitig wecken mussten, weil sonst immer mindestens einer von uns verschlafen hätte.
Doch das war schon Jahre her, damals waren wir vielleicht zwölf oder dreizehn gewesen. Trotzdem würde ich nie vergessen, wie wir im Spätsommer über die mit Mondlicht überfluteten Stoppelfelder galoppiert waren.
Ganz leise öffnete ich die Tür und wechselte meine Hände an den Klinken der Tür so geschickt, dass ich, als ich auf der anderen Seite vor ihr stand, die heruntergedrückte Klinke noch immer in der Hand hielt, nur dass ich mich nun auf ihrer Seite befand, die zum Flur zeigte. Dies hatte den Vorteil, dass man die Tür gleicht wieder hinter sich zu ziehen konnte, und man das Geräusch der Türklinke, anstatt zwei- nur einmal erzeugen musste.
Vorsichtig schlich ich den Flur entlang und ging ganz dicht an der Innenseite die Treppe hinunter, da die Stufen dort nicht so laut knarrten.
Obwohl es schon so lange her war, hatte ich anscheinend keinen von Linos und meinen Tricks vergessen und bei dem Gedanken daran musste ich unweigerlich Lächeln.
So langsam wie möglich zog ich die Tür zu unserem großen Schuhschrank auf um zu vermeiden, dass sie wie sonst immer mit einem lauten Knall gegen den Jackenständer links neben mir flog und griff nach einem alten paar Flipflops von mir, dass sich ganz unten und in der hintersten Ecke befand, da ich sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt hatte.
Vorsichtig öffnete ich die Haustür und überlegte, wie ich sie leicht offenhalten könnte, weil mir nur allzu bewusst war, dass sie bei meinem Glück in der Nacht zufallen und mich somit aussperren würde.
Dabei fiel mir ein, dass Marcellino und ich früher das gleiche Problem gehabt hatten. Da wir damals aber noch um einiges jünger gewesen waren, hatten wir uns einmal einfach dazu entschieden, die Tür sperrangelweit offen stehen zu lassen.
Zuerst hatten wir das auch wirklich für einen guten Plan gehalten, doch es war Frühling gewesen und als wir nach unserem Mondscheinritt wiederkamen, hatten Lino und seine Eltern ein paar neue Hausbewohner gehabt. Dazu zählten zwei Mäusefamilien, auf die ich total neidisch gewesen war, da ich schon immer hatte Kaninchen haben wollen und Mäuse denen, zumindest in meiner Hinsicht damals sehr nahekamen. Ein Amselpaar, dass sich in einem alten Schrank im Abstellzimmer ihr Nest baute und Eier legte, ein verirrtes Eichhörnchen sowie zwei Waschbären.
Doch auch wenn ich das nicht hatte nachvollziehen können, hatten Linos und meine Eltern das nicht so toll gefunden und unseren nächtlichen Ausflügen ein jähes Ende gesetzt.
Zumindest wusste ich jetzt schon einmal, wie ich es nicht machen sollte.
Ich ließ meinen Blick durch unseren Vorflur schweifen und blieb an der Schuhkommode hängen, deren Tür ich noch immer nicht geschlossen hatte um möglichst leise zu sein. Es war vielleicht nicht die beste Idee, doch im Moment fiel mir auch keine bessere ein, sodass ich mich dazu entschloss, einfach einen meiner alten, fast kniehohen Winterstiefel in die Tür zu stellen.
Danach ging ich vorsichtig die fünf Stufen der Steintreppe hinab und schlich leise über den Schotterplatz, da ich wusste wie laut das Knirschen der Kieselsteine zu den Fenstern des ersten Stockwerkes hinaufhallte.
Dieses Mal kam mir der Weg zwischen den Bäumen hindurch zu Feders Weide viel kürzer vor, doch das konnte auch daran liegen, dass ich ihn jetzt schon kannte. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis vor mir der Zaun auftauchte und ich Feder unter dem Apfelbaum im Mondlicht grasen sah.
„Hallo, meine Süße", ich hatte nicht laut gesprochen, doch trotzdem hob sie den Kopf bei dem Klang meiner Stimme und wieherte leise.
Während sie auf mich zutrabte, kletterte ich auf den Zaun und vergewisserte mich, dass sich dieses Mal keine Pfütze auf dem Boden unter mir befand, bevor ich in das weiche Graß sprang, dass an den nackten Seiten meiner Füße kitzelte.
„Kannst du auch nicht schlafen?"
Feder hatte kurz vor mir angehalten und streckte mir neugierig ihren Kopf entgegen.
„Ach Feder...", gedankenverloren kraulte ich ihre Stirn und begann ihr von dem Gespräch und erst einmal überhaupt den Streit zwischen Lino und mir zu erzählen.
Mir war natürlich bewusst, dass sie nichts von dem verstand, was ich ihr sagte, doch ich hatte ihr schon früher immer alles anvertraut, was mich belastet hatte. Außerdem tat es echt gut, mit jedem Wort, das über meine Lippen trat, auch ein Stück der Last von meinen Schultern zu nehmen, die sich durch all meine Gedanken um Lino und den Brief meiner Eltern wie Ziegelsteine auf mich gelegt hatte. Und Feders zufriedenes Schnauben, weil ich sie noch immer streichelte, dass manchmal meinen leisen Wörterfluss unterbrach, schaffte es wie eh und je mich immer weiter zu beruhigen.
„... ich bin echt dankbar dafür, dass du mir trotz allem verziehen hast und dass ich dir so vertrauen kann, weil manchmal denke ich echt, dass du die einzige bist, die ich noch habe.", schloss ich meine Erzählung und Feder wieherte zustimmend. Sofort hob sich meine Laune wieder ein Stück und ich musste Lächeln..
„Mein kleiner Schatz." Ich trat einen Schritt nach vorne und schloss sie in meine Arme.
Ihre Mähne kitzelte in meinem Gesicht und ich wandte mich schnell ab, weil ich einmal niesen musste.
Erst als ich wieder alleine dastand und Feders Körperwärme nicht mehr spürte, bemerkte ich, dass ich angefangen hatte vor Kälte mit meinen Zähnen zu klappern. Auch wenn es tagsüber echt warm war, wurde es in der Nacht noch relativ frisch. Zumindest wenn man nur ein dünnes T-Shirt und eine ebenso dünne und kurze Hose anhatte.
Feder kam auf mich zu und stupste mich vorsichtig an meinem rechten Arm an, fast so, als wollte sie besorgt fragen, ob alles mit mir okay wäre.
Einen Moment lang überlegte ich, ob ich es doch wagen sollte, noch einmal ins Haus zu gehen und mir in meinem Zimmer etwas Wärmeres anzuziehen, doch dann verwarf ich den Gedanken wieder, denn das Risiko dabei jemanden aufzuwecken war viel zu groß.
Suchend sah ich mich auf der Weide um und blieb mit meinem Blick an Feders Unterstand hängen. Das war doch die Idee.
In der Sattelkammer des Hauptstalles auf unserem Hof hatten wir früher immer die ganzen Abschwitzdecken der Pferde gelagert, da sie diese im Sommer natürlich nicht brauchten, in Linos Haus aber auch kein Platz war. Bestimmt konnte ich diese auch als Decken für mich umfunktionieren.
„Warte kurz, ich komme gleich wieder.", sagte ich zu Feder, die mir, als ich wieder zum Zaun ging, und über ihn auf die andere Seite kletterte, etwas enttäuscht hinterher sah.
Aber wo lang jetzt? Ich könnte den ganzen Weg zu unserem Haus zurückgehen, und von da zu unseren Weiden laufen, in deren Nähe auch der Stall stand. Genauer gesagt, führte ein kleiner Weg links vor den Weiden zu dem großen Gebäude, das dort auf einem großen Stück Wiese stand.
Es war taktisch klug gewesen, ihn etwas Abseits zu bauen, da die Pferde dort ruhiger standen und die Fläche auf der sich keine Bäume befanden nur dort so groß gewesen war, dass man hatte den Reitplatz und die kleine Halle gleich danebenbauen können. Außerdem war der Stall doch noch so nah, dass man ihn gut und schnell vom Hauptplatz erreichen konnte.
Andererseits könnte ich auch dem Verlauf von Feders Weide weiter nach unten folgen und mich dann rechts halten, um ihn zu finden.
Doch nachdem ich mich erst gestern im Wald verirrt hatte und nur zu gut wusste, dass ich meinem Orientierungssinn im Dunkeln nicht immer ganz trauen konnte und es vor allem nicht sollte, entschloss ich mich lieber die erste Strecke zu nehmen, auch wenn der Weg etwas länger wäre.
Den Verlauf des kleinen Trampelpfades, der zweimal einen leichten Knicks nach links machte, kannte ich jetzt schon so gut, als hätte ich schon ewig von seiner Existenz gewusst, sodass ich auch an den dunklen Stellen, an denen das Mondlicht nur sehr spärlich durch die dichten Blätter der Bäume rieseln konnte, bis auf einmal nicht stolperte.
Anstatt direkt über den Schotter des Platzes zu laufen, entschloss ich mich lieber auf dem Graß an seinem Rand entlangzugehen, da ich das laute Geräusch der knirschenden Steinchen verhindern wollte. Erleichterung durchflutete mich, als ich endlich den etwa zwei Meter breiten Pfad erreichte, der sich rechts von mir zwischen den Bäumen hindurchschlängelte und dessen Ende ich jedoch schon sehen konnte.
Während ich ihm folgte, schossen mir immer mehr Erinnerungen durch den Kopf, die ich hier schon erlebt hatte. Wie oft ich schon gemeinsam mit meinen Eltern seinem Verlauf gefolgt war, um zu Feder zu gehen, die damals noch hier gestanden hatte oder mit Lino übermutig über die einzelnen Wurzeln gesprungen war, die aus der Erde ragten. Nicht zu vergessen, wie ich tagtäglich dabei geholfen hatte, ganz früh morgens, alle Pferde auf ihre Weiden zu bringen und sie erst wieder abends, wenn es schon dunkel wurde wieder reingeholt hatte.
Als der lange Stall quer vor mir auftauchte, hielt ich unbewusst die Luft an. Keines seiner Details, wie den gepflasterten Bereich um ihn herum und die vielen Metallringe, die an der langen Seite an der Wand hingen, damit man die Pferde bei gutem Wetter auch draußen fertig machen konnte, hatte ich vergessen.
Die roten Holztüren, die sich in der Mitte der langen Seite befanden, sowie an beiden kurzen Enden, auch wenn man diese jetzt nicht sehen konnte, sowie seine roten Dachziegel und die weiße Fassade verliehen ihm das Aussehen von einem Bilderbuchstall und schon als ich ihn das erste Mal gesehen hatte, war er der schönste überhaupt für mich gewesen.
Mir viel ein, wie man im Frühling immer das Schreien der kleinen Vögel hatte hören können, die in ihren Nestern ungeduldig direkt über den Köpfen der Pferde auf mehr Essen gewartet hatten.
Die großen Fenster, die jeweils zu einer Box gehörten, verliehen dem Gebäude noch seine Freundlichkeit und sorgten dafür, dass es auch drinnen schön hell war. Im Sommer hatten wir das Glas aus ihnen immer herausgenommen und zu sehen, wie die Pferde, wenn wir morgens kamen um sie auf ihre Koppeln zu bringen uns schon fröhlich den Kopf entgegenreckten und freudig wieherten war echt total herzerwärmend gewesen.
Doch jetzt war alles ganz ruhig. Nur das Rascheln des Strohs, wenn sie sich ab und zu in ihren Boxen bewegten war leise zu hören.
Einen Moment stand ich still vor der roten Holztür und umfasste mit meiner linken Hand den schweren Ring aus Eisen, bevor ich mir einen Ruck gab und sie langsam daran aufzog.
Das letzte Mal, als ich über diese Türschwelle getreten war, war noch alles gut gewesen, waren meine Eltern noch am Leben gewesen. Ohne es verhindern zu können schossen mir Bilder durch den Kopf, in denen wir noch zwei Tage vor ihrem Tod die Pferde abends gemeinsam von ihrer Koppel reingebracht hatten und wie glücklich wir dabei gewesen waren.
Es versetzte mir einen Stich, uns alle drei so glücklich Lachen zu sehen und schnell zwang ich mich an etwas anderes zu denken.
Bevor ich noch weiter darüber nachdenken konnte betrat ich den Stall und der mir nur allzu vertraute Geruch nach Heu, Stroh und eben Pferd stieg mir in die Nase, von dem mir erst jetzt auf einmal auffiel, wie sehr ich ihn vermisst hatte.
Zielstrebig wandte ich mich nach rechts und ging ein paar Meter zwischen den Boxen links und rechts von mir entlang, bis ich zu meiner linken Seite durch eine Tür in einen Raum einbog, der den Platz von drei Pferdeboxen einnahm. Alle seine Wände wurden von breiten Holzspinten eingenommen, in dem der Sattel, die Trense und das sonstige Zubehör von jeweils einem Pferd hingen.
Doch wo waren die Abschwitzdecken? Früher hatten sie auf den Spinten gelegen, die nicht ganz bis zur Decke reichten, doch jetzt war da nur gähnende Leere.
Mir fielen die kleinen schwarzen Tafeln ins Auge, die an jedem Spind hingen und den Namen des Pferdes angaben. Sie mussten neu sein, denn als ich das letzte Mal hier gewesen war, hatten die Namen noch mit Kreide direkt auf dem Holz gestanden.
Als mein Blick wie zufällig an dem einem Spind hinten in der Ecke hängen blieb, stockte mein Herz kurz. Es war der einzige Spind ohne eine der angeschraubten schwarzen Tafeln oder Beschriftung.
Langsam ging ich auf ihn zu und konnte noch ganz leicht fünf Buchstaben aus Kreide erkennen, die groß und schräg von oben nach unten über die Holztür geschrieben waren.
Ich hatte sie einst geschrieben, doch das war schon mehrere Jahre her. Feder. Vorsichtig fuhr ich mit meinem Finger die Spur der Kreide nach und verwischte sie so nur noch weiter, bevor ich die Tür öffnete und meine angehaltene Luft wieder ausstieß.
Es war alles noch da. Alles stand noch haargenau wie früher in meinem Spind: der Sattel, die Trense, die verschiedenen Schabracken, die Gamaschen, die Putztasche und zuletzt das Halfter, dass meine Eltern mir hatten zu meinem bestandenen Jahrgang hatten schenken wollten.
Wollten, dass Wort hallte merkwürdig in mir nach, denn gekommen waren sie nicht mehr dazu, sodass Marcellino es mir später überreicht hatte. Doch ich hatte es vor lauter Wut und Trauer nur in die eine Ecke des Krankenhauszimmers geschmissen, sodass er es, als er wieder gegangen war, wiedermitgenommen hatte.
Später hatte es mir leidgetan und ich hätte das Halfter und den Strick gerne wiedergehabt, doch ich hatte immer angenommen, Lino hätte es weggeschmissen.
Ich berührte es kurz, doch irgendetwas hielt mich davon ab, es ganz in meine Hände zu nehmen, weshalb ich den extra langen Bodenarbeitsstick, den ich mir schon so lange gewünscht hatte, wieder aus meinen Händen gleiten ließ. Dabei fiel mein Blick auf den Boden des Spintes auf dem eine bunt gepunktete schwarze Fleece Decke lag, die ich mir mal als neue Abschwitzdecke für Feder zu Weinachten gewünscht hatte.
Als ich sie hochhob erinnerte ich mich an die vielen Male, mit denen ich Feder nach einem unserer Trainings oder Ausritte damit abgedeckt hatte um sie zu trocknen. Wie sie im kalten Winter oft vor Hitze dampfend in der Stallgasse gestanden hatte und wie sehr sie es genossen hatte, das weiche Fleece auf ihrem Fell zu spüren.
Vorsichtig schloss ich den Spind wieder, knipste das Licht aus und verließ die Sattelkammer.
Gerne wäre ich noch länger geblieben und hätte mir all die Sachen von Feder und mir weiter angeguckt, doch zu vieles erinnerte mich noch zu schmerzlich an meine Eltern und außerdem wartete Feder auf mich.
Nachdem ich schon aus dem Stall getreten war und gerade die rote Holztür wieder schließen wollte, viel mein Blick auf einen großen Sack voller Möhren.
Feder liebte Karotten, dass wusste ich noch von früher und es würde doch mit Sicherheit keinem auffallen, wenn ein paar fehlen würden, oder?
Die Decke legte ich mir über meinen einen Arm, während ich erneut in den Stall trat und mir noch eine Hand voll Möhren mitnahm. Diese hatte sie sich definitiv verdient.
Leise schloss ich endgültig die große rote Tür und drehte mich um. Auf dem Weg zurück zu Feders Weide freute ich mich schon darauf ihr Gesicht zu sehen, wenn sie sah, was ich ihr mitgebracht hatte.
„Feder", rief ich leise als ich den Zaun ihrer Weide erkannte und ihre Silhouette die noch immer exakt an der gleichen Stelle, an der ich sie vor ein paar Minuten alleine hatte stehen lassen warten sah.
„Ich habe eine Überraschung für dich." Täuschte ich mich oder hatte sie bei dem Wort Überraschung mit ihrem rechten Ohr gezuckt?
Lächelnd legte ich die Decke und die Karotten vor den Zaun, kletterte inzwischen schon viel geschickter als am Anfang über ihn hinüber und kniete mich auf der anderen Seite nieder, um beides durch den Zaun heben zu können.
Feder, die die Möhren natürlich auch schon lange entdeckt hatte, kam auf mich zu und schnappte sich eine der noch immer auf der Pferdedecke liegenden Karotten, bevor ich mich überhaupt nur erheben konnte. Dabei war sie so hastig, dass alle anderen Möhren in das Graß vielen., was sie jedoch keine Sekunde lang zu stören schien.
„Ach Feder!", lachend hob ich sie wieder auf und schlug sie in die Decke ein, sodass sie vorerst nicht darankam. Immer noch grinsend stand ich auf und wischte mir meine Haare aus dem Gesicht, bevor ich, ohne mich noch einmal nach Feder umzudrehen auf den ausladenden Apfelbaum zulief. Denn mir war nur allzu bewusst, dass sie mir sowieso folgen würde, nur ob sie dies wegen mir oder nur der Möhren wegen tat, konnte ich nicht sagen.
An dem dicken Stamm des alten Baumes ließ ich mich nieder und lehnte mich an seine raue Rinde. Tatsächlich war Feder mir gefolgt und stupste mich nun so lange ungeduldig, aber trotzdem vorsichtig an, bis ich es aufgab und ihr noch eine Karotte gab.
Die anderen legte ich jedoch zwischen meine angezogenen Beine und fing an die zusammengefaltete Abschwitzdecke aufzufalten und so über mich auszubreiten, dass meine Beine und mein Oberkörper bedeckt waren.
Erst als ich meinen Kopf hob um ihn hinten gegen den Baum zu lehnen entdeckte ich wie schon gestern die unzähligen Sterne und den Mond am dunklen Himmel. Doch bevor ich ihn noch weiter bewundern konnte, fing Feder schon wieder an zu betteln, sodass ich die Möhren seufzend aus ihrem Versteck holte.
Während ich sie Stück für Stück an Feder verfütterte, kraulte ich ihr die Stirn und sah durch die Löcher des Blätterdaches in den Himmel über mir.
Nur allzu bewusst wurde mir wieder einmal, wie wenig ich im Moment eigentlich wusste. Über Feder, über meine Eltern und was Feder schlussendlich mit ihrem Tod zu tun hatte. Ich wusste eigentlich nur, dass ich gar nichts wusste. Doch vielleicht musste ich jetzt auch gar nicht mehr wissen.
Manchmal kam mir mein ganzes Leben einfach nur vor wie ein einziger Scherbenhaufen und den Brief meiner Eltern, der alles an das ich mich in dem letzten Jahr geklammert hatte in Frage stellte, zeigte mir nur mal wieder, was für große Geheimnisse sie vor mir gehabt haben mussten.
Aber meine Mutter hatte ja auch gesagt, dass ich alles hinterfragen und auf mein Herz hören sollte und wenn mir das sagte, dass Feder trotz allem nichts mit ihrem Tod zu tun hatte, dann hatte sie mir die Chance gegeben, trotz ihrem Ableben Zeit mit Feder verbringen zu können, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen.
Vielleicht musste ich wirklich nicht mehr wissen und sollte mich mit dem begnügen, was ich im Moment hatte: Feder. Denn für jede Sekunde die ich mit ihr verbringen durfte, war ich unendlich dankbar.
Ich spürte wie meine Lieder immer schwerer wurden und wie warm mir inzwischen war. Weil ich mich zum ersten Mal seit langem wohl fühlte, weil ich wusste, dass ich endlich herausgefunden hatte, wo ich hingehörte: zu Feder. Weil ich das erste Mal seit einem Jahr wieder das Gefühl hatte, ein Zuhause zu haben: hier bei Feder, die grade keine fünf Meter von mir entfernt entspannt graste und doch ihre Ohren immer zu mir spitzte, um über mich wachen zu können.
Wahrscheinlich stimmte es, dass mein Leben inzwischen wirklich nicht mehr war als ein paar Scherben, doch Feder war der Kleber der sie zusammen und mich somit am Leben hielt.
Als ich meine Augen schloss und bis zum Morgengrauen in den erholsamsten Schlaf fiel, den ich seit langem gehabt hatte, wurde mir bewusst, dass ich noch nicht einmal mehr begreifen konnte, wie unendlich wichtig mir Feder war und das ich mich echt fragte, wie ich es jemals ein ganzes Jahr ohne sie hatte aushalten können, wie ich überhaupt auf die Idee gekommen sein konnte, sie verkaufen zu wollten.
Denn sie war die einzige die mir noch geblieben war und sie bedeutete mir inzwischen nicht weniger als mein Leben.
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