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Tame und Maelor
In der klaren Morgenluft, die vom Wald aus in unseren Garten gekrochen war, lag der Geruch von frischem Kaffee auf der Veranda. Ich hatte mich in eine kuschelige Decke gehüllt und mir Fallen Stars auf den Schoß gelegt. Gemächlich trank ich meinen Kaffee und versank in dem Buch. Es war ein perfekter Moment, der so ruhig hätte weitergehen können, doch das Klingeln des Telefons ließ mich unerwartet zusammenzucken. Bis ich realisierte, dass ich nicht Eleanor hieß, das war die Protagonistin aus Fallen Stars, sondern Tame, war meine Mutter schon ran gegangen.
"Dee!", lachte sie in den Hörer. "Dee! Was für eine Überraschung!"
Ich schluckte und bemerkte eine Träne, die mir über die Wange gelaufen war und sich an meinem Unterkiefer gesammelt hatte. Tante Dee, eigentlich hieß sie Dorothea Wilkins, war die Schwester meiner Mutter, und ich wollte sie umbringen: Mein perfekter Moment war vorbei, denn das Gespräch konnte dauern. Dabei mochte ich Dee normalerweise, weil sie immer etwas schräg drauf war und mich mit ihren Geschichten begeisterte, die sie auf ihren Weltreisen gesammelt hatte. Dee war in vielen Dingen das Gegenteil meiner Mutter. Sie hatte einen erfolgreichen Geschäftsmann geheiratet, der überall auf der Welt ein Haus besaß, weshalb sie ständig auf Achse war. Ihr gefiel dieses Leben, da machte es ihr auch nichts aus, dass sie ihn mit seiner Arbeit teilen musste. Meine Mutter dagegen war bodenständig und hatte meinen Vater geheiratet, der sie auf Händen trug und ihr so viel Aufmerksamkeit wie nur möglich bescherte.
Ich klappte das Buch zu und trank meinen inzwischen kalt gewordenen Kaffee aus, während im Hintergrund die aufgeweckte Stimme meiner Mutter ins Telefon schnatterte. Nachdenklich wickelte ich mir die Wolldecke fest um den Körper. Die heißen Tage waren erst mal vorüber, mein Lieblingsplatz auf der Veranda deswegen nicht weniger interessant. Hier konnte ich stundenlang sitzen und träumen oder mir den Kopf über Gott und die Welt zerbrechen. Oder, so wie jetzt, über die einhundertsechzig Seiten des Romans, die ich gleich nach dem Aufstehen schon verschlungen hatte.
Das Buch war zum Heulen traurig und schaurig schön zugleich. Es war unheimlich, wie sehr es mich von Anfang an gefesselt hatte. Ich wollte weiter darin lesen, konnte nicht genug davon bekommen, aber ich hielt mich selbst davon ab. Wenn ich jetzt keine Pause machte, würde ich heute nicht mehr davon loskommen, denn wenn ich bei all den unzähligen Büchern, die ich bereits gelesen hatte, eines gelernt hatte, dann, dass man immer wieder eine Pause machen sollte, bevor man in Tränen aufgelöst und verstört das Universum infrage stellte. Oder womöglich sein eigenes, unbedeutendes Leben.
Ich brachte das Buch gerade in mein Zimmer, als mein Handy auf der Bettdecke vibrierte. Es war Holly.
Ich schnellte vor und nahm den Anruf entgegen, froh über die Ablenkung. Ich wusste, sie würde mich aufheitern und zum Lachen bringen, obwohl ich mich oft sehr über ihre spontanen Einfälle ärgerte. Aber an diesem Tag traf keines davon zu. Holly brachte mich weder zum Lachen, noch musste ich mich über sie ärgern.
"Jake wurde angefahren. Er wollte gerade was ausliefern und dann in Pause gehen ... Aber dann ...", sagte sie stockend und brach den Satz ab. Es klang total aufgelöst, als würde sie von Heulkrämpfen geschüttelt, und ich verstand den Zusammenhang nicht richtig. Holly weinte nie, was mich noch mehr verunsicherte.
Dann, bevor ich auch nur antworten konnte, hörte ich ein jämmerliches Schluchzen. Ich riss mich zusammen. "Holly, Süße, beruhige dich. Erzähl mir alles Stück für Stück."
Jake lag im Krankenhaus, wie ich nun erfuhr. Es hatte einen Unfall im Lagerhaus am Wide River gegeben, wo er in den Ferien als Gabelstaplerfahrer jobbte. Das Henley Falls Lagerhaus war eine Art monströses Gartencenter, in dem es alles an Zubehör gab, das die Herzen großer und kleiner Landbesitzer höher schlagen ließ. Jake war gerade bei der Ausgabe von Sperrgut gewesen, als ihn auf dem großen Platz ein heranfahrender PKW gerammt hatte.
Nur drei Minuten später saß ich in meinem Jeep und fuhr los, auf dem schnellsten Weg zum Krankenhaus. Bereitwillig hatte ich Holly versprochen, dass ich sofort kommen würde, aber ich war angespannt und an jeder Ampel, an der ich halten musste, schimpfte ich auf die Verzögerung.
Inzwischen hatte sich der Himmel zugezogen. Über mir waberte eine Mischung aus sich schnell bewegenden Wolkenmassen in sämtlichen nur erdenklichen Grauschattierungen. Als ich in den Parkplatz einfuhr, prasselten bereits die ersten Regentropfen auf meinen Jeep nieder. Ein paar Minuten später fand ich klitschnass in dem allgemeinen Wirrwarr der Gänge meine beste Freundin im Wartezimmer sitzend vor.
"Holls!" Ich fiel ihr um den Hals, drückte sie und machte sie ganz nass. Holly ließ es geschehen. Sie war so froh, mich zu sehen, dass es ihr egal war. Erst Minuten später wichen wir etwas voneinander ab.
"Wie geht es Jake?", erkundigte ich mich sanft. Ich sah ihr den Kummer an, all die Tränen, die ihr übers Gesicht gelaufen waren und ihre Wimperntusche mitgenommen hatten, und es zerriss mich fast. Jake war so ein lieber Kerl. Ich konnte es nicht fassen. Holly hatte schon sehr früh ihre große Liebe in ihm gefunden und wenn ich ehrlich war, waren sie einfach nur zu beneiden, so wie sie aufeinander abfuhren.
Hilflos wühlte Holly in ihrer Tasche, als ein neuer Schwall Tränen in ihre Augen schoss. "Ich kann nichts sehen und meine verdammten Taschentücher sind leer ..."
Ich reichte ihr meine Packung. Mom hatte mir schnell eine in die Hand gedrückt, als ich ihr sagte, ich würde zu Holly und Jake ins Krankenhaus fahren.
Verzweifelt schluchzte Holly auf. "Danke."
Während sie sich Augen und Nase putzte, sah ich mich um. Die Krankenhaus-Atmosphäre war erdrückend. Überall saßen oder standen nervöse Leute herum, die auf etwas warteten. Eine Nachricht, einen Verwandten, einen Befund. Wie lange war Holly schon hier, hatte das Kommen und Gehen beobachtet und die Lautsprecherdurchsagen mit angehört? Sie wirkte fix und fertig auf mich.
"Was hältst du davon, wenn wir in die Cafeteria gehen", schlug ich vorsichtig vor. "Du hilfst Jake nicht, wenn du einen Zusammenbruch erleidest. Du musst wirklich ein wenig hier raus. Aber später kommen wir natürlich wieder."
Holly putzte sich laut die Nase und nickte dann zögerlich. "Also gut."
Wir waren fast bei der Cafeteria angelangt, als Holly auch schon wieder umkehren wollte. "Kommt gar nicht infrage. Du brauchst jetzt dringend eine Pause."
Ich blieb hartnäckig, setzte sie auf einen der ungemütlichen braunen Plastikstühle und befahl ihr, sitzenzubleiben. Schnell holte ich uns zwei Stück Käsekuchen und zwei Latte macchiato. "Iss", forderte ich nachdrücklich.
Holly seufzte leise, gab aber ihren Widerstand auf. Nach und nach ließ ich mir von ihr die Einzelheiten erzählen, die mir noch fehlten, um das Puzzle zusammenzusetzen. "Sie mussten sein Bein operieren, aber weil wir nicht verwandt sind, durfte ich noch nicht zu ihm." Sie schüttelte traurig den Kopf. "Die Saison ist für ihn erst mal gelaufen. Er darf mehrere Wochen keinen Sport machen, dann kommt die Reha."
Das war bitter, aber Holly meinte auch, dass es noch viel schlimmer hätte kommen können; seine Schwester hatte ihr von zahlreichen Prellungen und Schürfwunden berichtet. Trotzdem war es ein unglaublicher Schock. Jake war ein klasse Football-Spieler, der wie alle in seiner Liga später auf ein Stipendium hoffte. Zu wichtigen Spielen kamen immer wieder Scouts, die die Spieler genau unter die Lupe nahmen. Wenn er da nicht dabei war, standen seine Chancen schlecht, in der nächsten Saison auf seiner alten Position aufgestellt zu werden. Ständig drängte Nachwuchs ins Team, der ihm seinen Platz streitig machen konnte.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte, um Holly zu helfen, also blieb ich bei ihr und begleitete sie später zurück zum Wartezimmer. Dort trafen wir Jakes Familie an, die man aus dem Zimmer gebeten hatte, damit Jake auf eine andere Station verlegt werden konnte. Seine Eltern waren einigermaßen gefasst. Die Erleichterung darüber, dass Jake keine dauerhaften Schäden davontragen würde, war ihnen anzusehen. Trish, Jakes ältere Schwester, begann jedoch sofort zu weinen, als sie Holly sah. Die beiden mochten sich und lagen sich lange in den Armen, während sie leise redeten.
Ich stellte mich etwas ins Abseits, um ihnen Raum zu geben. Es wäre mir unangenehm gewesen, ihnen das Gefühl zu vermitteln, sie aushorchen zu wollen. Trotzdem kam ich nicht umhin, ihnen zuzuhören, und erfuhr so, dass der Fahrer des Wagens Gas gegeben hatte und davongefahren war. Unfallflucht.
Geschockt wandte ich mich ab. Wer machte so etwas Abscheuliches nur?
Ich setzte mich langsam in Bewegung und ging. Es gab nichts, was ich tun konnte, und das machte mich fast wahnsinnig. Es war alles so unfair. Jake war der netteste Mensch, den man sich nur vorstellen konnte. Das hatte er nicht verdient, und meine Freundin Holly auch nicht.
Ich fuhr nach Hause, setzte mich mit meiner kuscheligen Decke auf die Veranda und lauschte dem Regen, der mich etwas ruhiger werden ließ. Die letzten Stunden waren extrem aufwühlend gewesen.
Irgendwann kam meine Mom dazu. Sie hielt mir eine Tasse Pfefferminze mit einer großen Orangenscheibe darin unter die Nase. Der Duft war herrlich erfrischend und ich atmete ihn tief ein.
"Wie geht es Jake?", erkundigte sich Mom einfühlsam. Das Tolle an ihr war, dass sie wirklich eine gute Mutter war. Vorhin mit Dee am Telefon hatte sie geklungen wie ein unternehmungslustiger Teenager, der noch unglaublich viel erleben wollte. Jetzt war sie ganz anders, sehr viel gesetzter, und ich hatte kein Problem damit, ihr zu erzählen, was ich wusste.
"Unfallflucht", wiederholte sie mit trockenem Mund, als ich geendet hatte.
Ich nickte traurig. Ich konnte es selbst noch immer nicht fassen.
Am späten Abend rief mich nochmal Holly an. Sie hatte mit Jake gesprochen und wirkte deutlich erleichtert, weil er bereits seinen ersten müden Witz gemacht hatte. Jakes freundliches Gemüt war offenbar immer noch da und ließ ihn nicht verzagen. Auch mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich musste mich dringend davon abhalten, daran zu denken, dass er schon der Zweite von unserer Schule war, dem etwas zugestoßen war.
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