8
8
Maelor & Tame
Ich musste sie sehen.
Ich hatte meine Mutter, die ich in New York zurückgelassen hatte, und Onkel Emory, der sich um mich kümmerte, als wäre ich sein Sohn und nicht der von Aldon, und dann war da noch Tame, dieses Mädchen, das mit meinen Gefühlen spielte, was natürlich nicht ganz stimmte, denn in Wahrheit fühlte ich mich einfach nur besonders stark zu ihr hingezogen. Ja, sie faszinierte mich, wie kein Sterblicher zuvor es vermocht hatte und bewahrte mich so irgendwie vor dem Durchdrehen. Indem ich dauernd an sie denken musste, gab sie mir Halt. Damit war Tame das Einzige, das mich erfolgreich von Aldon ablenkte; das Einzige, das mir bewies, dass ich menschliche Gefühle in mir hatte, die mich von Aldon unterschieden.
Deshalb musste ich sie sehen und um das zu erreichen, würde ich sehr weit gehen.
Den nächsten Tag brachte ich zunächst damit zu, mich auf dem Anwesen nützlich zu machen. Ich hatte das Gefühl, Emory zu Dank verpflichtet zu sein, obwohl er immer noch kein Wort darüber verlor, was zwischen ihm und meinem Vater geschehen war. Also mistete ich den Stall aus und reparierte die Wasserpumpe auf der Koppel, ohne dass Emory mich darum gebeten hatte. Mittags aß ich dann mit ihm in der Küche seine himmlischen Pfannkuchen mit Ahornsirup. Dabei hatten wir erstaunlich viel Spaß, denn Emory war ein schrecklich chaotischer Koch, was man gar nicht vermuten würde, da er immerzu wie aus dem Ei gepellt Anzüge trug. Das tat er übrigens auch, wenn er am Herd stand. Nur nicht bei der Stallarbeit, die erledigte jedoch üblicherweise unser Bursche Dexter.
Bevor ich angereist war, hatte Emory das Personal auf Urlaub geschickt. Ich sollte mich einleben, hatte er gesagt, aber ich glaube, dass er selbst sich erstmal an die neue Situation gewöhnen musste. Emory ging nur selten unter Menschen und ein neuer Mitbewohner war für ihn wie ein Eindringling, auch wenn es sich um einen Dämonen wie meinen Vater, oder um mich, das Halbblut, handelte. Ich vermutete, dass er sich davor fürchtete, die Kontrolle über seine Kräfte zu verlieren, und je weniger Kontakt er zu Sterblichen oder schnell reizbaren Dämonen hatte, desto wohler war ihm. Die einzigen Ausnahmen, die er in seinem Umfeld tolerierte, bildeten sein Hausdiener Johann, der auch für die Küche zuständig war, und der Bursche Dexter.
Es wurde Nachmittag und ich fuhr mit dem BMW raus und sah mir ein wenig die Gegend an. Von einem nicht zu weit entfernten Hügel aus hatte ich einen unglaublichen Blick auf das Foster Anwesen mit seinem riesigen Landbesitz. Es hatte seine beste Zeit freilich längst hinter sich, aber noch immer war es das schönste Fleckchen Erde, das ich je gesehen hatte. Vor allem aber war es sehr ruhig und ruhig war gut für Wesen wie mich. Tatsächlich hatte ich schon oft gehört, dass Dämonen ruhige, friedliche Gegenden bevorzugten, um nicht in Versuchung zu kommen, ihre Kräfte spielen zu lassen. Die großen Städte waren allesamt total überfüllt und hatten einfach zu viele Reize, die unsere Sinne beeinträchtigten.
Nachdem ich mir einen Überblick über alles verschafft hatte, fühlte ich mich zum ersten Mal richtig wohl hier. Vor mir, mit all seinen Wiesen und dem alten Herrenhaus, lag das Land meiner Vorfahren. Ein Land, das ich durchaus gern haben könnte.
Ich fuhr zurück und zog mir meine Trainingsklamotten an, um joggen zu gehen. Und diesmal ging ich wirklich joggen. Ich musste mich beschäftigen, denn ich fühlte mich schlecht. Ich hatte Tame sehen wollen und ihre Gedanken beeinträchtigt, sodass sie die Party verlassen hatte und wir uns begegnen konnten. Aber daran wollte ich jetzt nicht denken.
Ich war sehr viel früher als gestern dran, denn ich wollte am Abend mit Emory zusammen essen. Als ich später nach einer großen Runde durch die Ödnis vom Joggen kam, stieg ich noch schnell unter die Dusche und zog mir frische Klamotten an. Emory mochte es nicht, wenn ich in meiner verschwitzten Sportkleidung beim Essen erschien. Er war sehr eitel, was die Etikette anbelangte, und ich nahm es amüsiert hin. Prüfend sah ich in den großen Spiegel, der an der Wand über der Treppe hing, knöpfte meine Hemdsärmel zu und glitt geschwind die Stufen hinab - ich wollte den guten Emory ja nicht unnötig warten lassen.
Der Tisch war bereits festlich gedeckt, wir würden nur zu zweit tafeln, aber der Aufwand wäre nicht größer gewesen, wenn wir zehn zusätzliche Gäste bei uns sitzen gehabt hätten. Es roch herrlich nach frischen Roastbeef, das Tafelsilber glänzte, sodass man sich wunderbar darin spiegeln konnte, und in den kostbaren Kerzenhaltern, die ebenfalls aus Silber waren, brannten lange, champagnerfarbene Kerzen. Und es schmeckte, was mit ein Grund war, warum ich mir das Abendessen nicht entgehen lassen wollte. Nur weil Emory die Küche verwüstet hatte, war er doch immer noch ein spitzenmäßiger Koch.
"Ich hab mir heute das Anwesen angesehen. Im Norden müssen ein paar Zäune repariert werden", teilte ich Emory nach dem Essen mit.
"Das kann ich doch machen. Ich muss mehr unter Leute gehen."
Ich legte den Kopf schief und wartete auf eine Erklärung. Wenn Emory beschlossen hatte, mehr unter die Leute zu gehen, war das vergleichbar mit einem Löwen, der sich vom Fleisch einer Gazelle abwandte.
Schließlich lehnte mein Onkel sich vor, schob seinen leeren Teller zur Seite und legte seine Hände auf den Tisch. "Ich bin für den Sturm verantwortlich", begann er dröge, aber es fiel ihm offenbar einfach nur schwer, das zu sagen.
"Es war notwendig", tat ich es ab.
Onkel Emory nickte kaum merklich. "Sicher. Ich werde morgen das Holz und die Nägel besorgen und mich gleich an die Arbeit machen."
"Ich kann dir helfen, wenn du willst", bot ich an. "Nur für den Fall, dass du jemanden brauchst, der dir das Zeug auf den Laderaum packt." Oder der den Einkauf abwickelt, dachte ich im Stillen. Emory hasste einkaufen; zu viel Kontakt mit Sterblichen.
"Wie gesagt, ich sollte mehr unter Leute gehen", meinte er trocken. Als Dämon brauchte er meine Hilfe natürlich nicht, er war unglaublich stark und mein Angebot war fast eine Beleidigung für ihn. "Ich bin nur etwas eingerostet, aber ich werde es schaffen", hängte er überzeugt dran.
"Okay. Wenn du's dir anders überlegst, ruf mich auf dem Handy an."
Später, als ich schon im Bett lag, gingen mir allerhand Dinge durch den Kopf, die mir den Schlaf verwehrten. Es war unausweichlich. Manchmal kann man etwas verdrängen, aber irgendwann kommt es zurück und holt einen ein. Ein Konflikt, wie ihn Dämonen üblicherweise scheuen. Für sie gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder unterdrücken sie derlei Gefühle, bis das Rohe und Kalte in ihnen immer stärker wird, wie es mein Vater getan hat, oder sie ziehen sich zurück, wie es Emory getan hat.
Der Mond, der durch das geöffnete Fenster fiel, schenkte mir mit seinem Licht stille Gesellschaft, der Wind spielte gespenstisch säuselnd mit den weißen Vorhängen. Ich lag wie tot auf dem Rücken und starrte die abblätternde Decke über mir an. Aber das Herz in meiner Brust schlug und ich verspürte einen heftigen Schmerz. Meine Kräfte waren so ausgeprägt, dass es mir ein Leichtes war, Tame zu manipulieren. Nur dass ich das auf keinen Fall zur Gewohnheit werden lassen wollte.
© OakBark
Urheberrechtlich geschützt
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top