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Tame und Maelor

Mit einem inneren Lächeln, das sich auf die äußersten Spitzen meiner Mundwinkel stahl, sah ich Kenneth nach. Er verströmte ein gewisses Etwas, von dem ich noch nicht wusste, wie ich es einordnen sollte. Ich hatte geglaubt, ihn flüchtig von irgendwoher zu kennen oder ihn zumindest schon mal gesehen zu haben, aber es konnte genauso gut Einbildung gewesen sein. Wenigstens war das unerwartete Date mit ihm kein komplettes Desaster gewesen. Der Kerl war interessant.
Ich stand wieder vor der Buchhandlung. Kenneth hatte mich bis hierher begleitet, da der Nachmittag noch jung war und ich unbedingt ein Buch mit nach Hause nehmen wollte, das ich vor dem Einschlafen lesen konnte. Er hatte vorgeschlagen, mit rein zu kommen, aber ich hatte abgelehnt.
"Ich weiß ja, dass du nicht auf Liebesromane stehst", hatte ich ihn geneckt; er hatte mir schließlich davon abgeraten, das Buch zu lesen.
"Du siehst das falsch", wollte er mich umstimmen. "Ich kenne den Inhalt nämlich schon."
"Du hast einen Liebesroman gelesen? So was lesen doch nur Frauen", hatte ich erstaunt gesagt. Stimmte doch, oder? Jedenfalls hätten die Jungs aus meiner Klasse keinen Liebesroman gelesen.
Und Kenneth hatte gelächelt. "Es ist eine sehr dramatische Geschichte. Junge liebt Mädchen, Mädchen verliebt sich ebenfalls in ihn. Aber sie können nicht zusammen sein, weil sie aus unterschiedlichen Welten kommen und beide Welten diese Verbindung nicht zulassen würden."
"Das klingt mir ein bisschen zu sehr nach Romeo und Julia. Bist du sicher, dass es darum geht, oder hast du dir das nur ausgedacht, um bei mir zu punkten?"
"Ich schwöre, das ist die Geschichte. Außerdem hat sich Shakespeare die Liebe ja auch nicht ausgedacht. Er hat nur darüber geschrieben und rein zufällig ist die Geschichte von Romeo und Julia bis heute erhalten geblieben."
Da war was dran, fand ich. Und so hatte Kenneth mich nur darin bestätigt, das Buch doch zu lesen.
Ich schlich mich leise an Prudence vorbei, aber das war zwecklos. Sie stürmte auf mich zu, als hätte sie mich schon erwartet. Ich muss zugeben, dass ich nur selten ohne ein Buch die Buchhaltung verließ, Prudence kannte mich und wusste das.
"Wer war denn dieser gut aussehende junge Mann, der dich begleitet hat?", erkundigte sie sich für meinen Geschmack zu offensichtlich.
"Sein Name ist Kenneth", antwortete ich ihr etwas genervt. Prudence war liebenswert aber auch extrem neugierig und fiel damit manchmal unter die Kategorie der Menschen, um die ich am liebsten einen Bogen machte. Immerhin war mein Privatleben meine Sache und bevor sich die Klatschtanten der Stadt über mich den Mund fusselig reden konnten, sagte ich besser nicht zu viel.
"Scheint die Gabe zu haben, sich unsichtbar machen zu können", meinte sie scherzhaft und ohne auf meine genervte Antwort zu reagieren. "Ich hab ihn nicht reinkommen sehen, und du weißt ja, mir entgeht nichts."
Unsichtbar, na klar. Ich lächelte flach. "Jedenfalls ist er ein interessanter Typ", gab ich achselzuckend zu. Mehr konnte ich noch nicht über Kenneth sagen und offen gestanden wollte ich das auch nicht. Ich würde es drauf ankommen lassen, ob ich ihm wieder begegnete oder nicht. Mein Gefühl sagte mir zu. Spätestens dann, wenn im Herbst die Schule anfing.
Beschwingt ging ich zu dem Regal, in dem ich das Buch gesehen hatte. Ich freute mich jetzt richtig darauf, aber es war nicht da.
Eine Weile starrte ich ungläubig auf die Lücke zwischen den anderen Büchern. Das war doch irgendwie verrückt. Ausgerechnet dieses Buch! Ich suchte fieberhaft die Reihen mit den Augen ab. Dann ging ich zu Prudence und fragte sie, ob sie das Buch verkauft hatte. Prudence schüttelte den Kopf. So ein Buch haben wir hier nicht, sagte sie mir, und wenn Prudence so etwas sagte, konnte man ihr getrost glauben, sie war eine durch und durch ehrliche Haut.
Ich weiß noch, dass ich sie anstarrte, und dabei musste ich ziemlich verstört ausgesehen haben, denn die gute Prudence griff nach der Computertastatur und gab diverse Begriffe in die Suchfunktion ein, die zu dem Buch passten.
"Bist du sicher, dass du es hier gesehen hast?", fragte sie sanft.
Ich war mir sicher. Nur traute ich mich nicht, noch weiter darauf zu bestehen. Die Stadt hatte noch andere Buchläden, auch in diese verschlug es mich ab und zu. Aber hier war ich Kenneth begegnet. Hier hatte er mir von dem Buch abgeraten. Ich musste unweigerlich an ihn denken und fragte mich, ob er das Buch vielleicht heimlich gestohlen hatte, als er sich mit mir unterhielt. Aber ich stand unmittelbar bei dem Regal - hätte ich es da nicht merken müssen? Außerdem kannte Prudence ihre Bücher und sie hatte mir felsenfest versichert, dass sie keines im Sortiment hatte, das auf meine Beschreibung passte.
Nachdem auch der Computer nichts ergab, machte ich mich auf den Heimweg. Mein Auto, ein alter, dunkelgrüner Jeep, parkte nur etwa zwei Gehminuten entfernt. Von da aus würde ich in fünf Minuten beim Haus meiner Eltern sein. An der Ampel drehte ich das Radio auf und suchte mir einen Sender, der einen Song spielte, zu dem ich mitsingen konnte, fädelte mich in den Verkehr ein und war im Handumdrehen da.
Zuhause begrüßte mich unser Kater Mr. Osmond, der mit seinen samtenen grauen Pfoten schnurrend um meine Beine strich. Ich streichelte sein weiches Fell, nahm mir ein Glas Eistee aus dem Kühlschrank und setzte mich auf der Veranda in einen unserer weiß gestrichenen Korbsessel.
Ich musste nachdenken, aber die Hitze machte mich schläfrig, obwohl es in unserem Garten zwei große, schattenspendende Laubbäume gab und die Luft angenehmer als in der Stadt war. Verträumt dachte ich an Kenneth und wieder musste ich lächeln.

"Aufwachen, Schlafmütze. Komm schon, wach auf!"
Ich wurde am Arm geschüttelt und blinzelte in das dunkelhäutige Gesicht meiner besten Freundin Holly. Ich war tatsächlich auf der Veranda eingeschlafen. "Was willst du denn hier?", kam es müde von mir.
"Was ich ... Was ich hier will?" Holly plumpste in den Korbsessel neben mir und sah mich vorwurfsvoll mit ihren braunen Augen an. Diesen Schmollblick, der ihre vollen Lippen zur Geltung brauchte, beherrschte sie wie niemand sonst. Überhaupt war Holly rundum toll. Sie war beneidenswert schön und süß und lustig, obwohl sie selbst immer behauptete, dass sie ihre schwarzen, wild gelockten Haare, die ihr total super standen, gar nicht mochte.
Ich streckte mich, nahm meinen Eistee und zog an dem Strohhalm. Er schmeckte inzwischen wie lauwarme Katzenpisse, aber da ich wusste, dass Holly keine Geduld mit mir hatte und gleich alles ausplaudern würde, wollte ich Zeit schinden und trank ihn.
Dann ging es los. "Ich dachte, wir wären Freundinnen", stöhnte Holly.
Ich hätte mich fast verschluckt. Wir waren schon ewig befreundet und hatten uns vor Jahren geschworen, keine Geheimnisse voreinander zu haben. Jedoch waren wir damals fast noch Kinder. Damals fing das mit den Jungs erst an und Holly, die schon immer eine ausgesprochene Schönheit gewesen war, hatte den Schwarm der gesamten Jahrgangsstufe aufgerissen. Nur ich hatte das mit den Jungs nie ganz so ernst genommen und deshalb auch nur oberflächliche Beziehungen vorzuweisen. Aber Holly und Jake waren noch immer zusammen und das unangefochtene Traumpaar unserer Schule. "Sind wir auch! Holls, du glaubst doch nicht, dass uns was auseinander bringen kann!", platzte ich heraus.
"Wieso hast du mir dann nichts von dem neuen Typen erzählt? Wozu hast du denn ein Handy?"
Na toll. Ich war nicht so technikbegeistert, dass ich ständig auf irgendein Display starrte, um zu sehen, wer von unserer Klasse sich wann und wo einen frisch lackierten Fingernagel abgebrochen hatte, aber Holly das zu sagen, wagte ich nicht. Sie wusste es sowieso, doch sie fühlte sich in ihrer Ehre als beste Freundin verletzt und deshalb wollte sie sicherlich nichts davon hören. "Wer hat es dir erzählt?", fragte ich reumütig.
"Meine Tante Amanda hat euch aus dem Diner komme sehen."
Sie zeigte mir eine WhatsApp-Nachricht auf ihrem Handy mit vielen Fragezeichen und diversen Smileys, die teils Bewunderung, teils Schock ausdrückten. Danke Tante Amanda.
Eine frische Brise wehte heran, die erste temperaturmäßige Erleichterung an diesem heißen Tag, und das grün-gelb gesprenkelte Blätterdach der Bäume raschelte leise im Wind. Versöhnlich holte ich uns zwei eiskalte Eistee und erzählte Holly von meiner Begegnung mit Kenneth im Buchladen. Mehrmals riss sie staunend ihre braunen Augen auf und unterbrach mich. "Du hast aber auch wirklich Glück!"
"Nein, Glück hast du mit Jake. Das mit Kenneth war nur eine zufällige Begegnung", fing ich nachdenklich an. Holly brachte mich in Verlegenheit, denn im Gegensatz zu ihr war ich durchschnittlich gut aussehend und noch nie länger als fünf Monate mit ein und demselben Typen zusammen gewesen.
"... die in einem interessanten Date mündete", beendete Holly für mich. Ehrlich gesagt nahm sie mir die Worte buchstäblich aus dem Mund. Ein Junge, der so gut aussah, der jede hätte haben können, hatte mich zum Lunch eingeladen. Bestimmt würde er bald eine andere kennenlernen und mich schnell wieder vergessen.
"Quatsch", sagte Holly vehement, denn jetzt konnte ich meine Gedanken nicht mehr für mich behalten und war ganz gespannt auf ihren Rat. "Du siehst toll aus und du bist wirklich alles andere als oberflächlich ... Vielleicht ist er ja diesmal der Richtige. Ein Kerl, der deine Qualitäten zu würdigen weiß und mehr Grips als Grütze im Hirn hat."
Oh ja. Bestimmt lag es daran, dass meine Beziehungen allesamt zum Scheitern verurteilt waren. So hatte es mir Holly jedenfalls immer und immer wieder erklärt. Glauben wollte ich es trotzdem nicht. Ich liebte nun mal ruhige Nachmittage auf der Veranda, bei dem ein gutes Buch meine Unterhaltung war, während die Grüppchen aus meiner Klasse auf dem Skaterplatz oder im Park abhingen.
Holys Wimpern flatterten aufgeregt. "Erzähl weiter", munterte meine beste Freundin mich auf. Sie konnte es gar nicht erwarten, den Rest zu hören, und so tat ich ihr den Gefallen. "Dann kam diese Sache mit dem Nachtisch", erinnerte ich mich. "Die war wirklich komisch. Kenneth hat sich die ganze Zeit von erstaunlich guter Seite gezeigt. Du weißt ja, dass ich es hasse, wenn Jungs zu einsilbig reden ..."
"Allerdings. Und hat er ...?"
"Nein. Unsere Unterhaltung lief flüssig und es war nicht eine Minute langweilig mit ihm. Aber als Melinda uns nach einem Nachtisch gefragt hat, hat er einfach die Bestellung abgegeben. Er hat ein Eis und einen Cappuccino bestellt und mich nicht mal gefragt, ob ich das überhaupt will."
"Unfassbar. Das ist ja wie tiefstes Mittelalter. Und er ist wirklich aus New York?"
"Hart er zumindest gesagt."
"Ich kann es nicht fassen", sagte Holly erneut. Auch als ich zum Ende kam: "Ich kann es nicht fassen."
Aber das Unfassbare war wahr. Nicht nur, dass ich doch noch meinen gewünschten Nachtisch bekommen hatte, sondern auch, dass ich mit Kenneth, dem Neuen, essen gewesen war. Wenn sich das rumspricht, sagte Holly, würde mir Chloe, die Oberzicke unserer Klasse, eine riesige Szene machen. Auch wenn sie schon siebzehn war, war sie der sprichwörtliche Neidhammel, der immer die Nase oben haben musste. Total unreif. Aber waren wir das nicht alle? Jung, albern, dem Glück auf die Sprünge helfend und es auf die Probe stellend, tasteten wir uns ins Leben vor. Holly lachte, und wenn Holly lachte, war das ansteckend und ich lachte mit.

© OakBark
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