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Tame und Maelor

Nachdem wir auch dieses Problem gelöst hatten - Holly war nicht bereit gewesen, mich in Turnschuhen gehen zu lassen, aber ich konnte sie immerhin dazu überreden, Ballerinas zu akzeptieren -, begleitete mich meine beste Freundin zum Auto. Ihrem Blick nach zu urteilen, wäre sie am liebsten mitgefahren und hätte Mäuschen gespielt. Mir blieb somit nichts anderes übrig, als ihr zu versichern, dass es mir gut ging und ich mich sehr auf den Abend freute. Meine Nervosität unterdrückte ich krampfhaft, was nicht gerade hilfreich war, aber ich wusste nicht, was ich hätte sonst tun sollen. Außerdem war es an der Zeit für mich, loszukommen.
Mittlerweile fühlte ich mich so angespannt wie eine Figur in einem der unzähligen alten Western kurz vor dem unausweichlichen Aufeinandertreffen mit einem Revolverhelden. Mir war klar, dass es Irrsinn war, aber meinen Körper konnte ich nicht davon überzeugen. Ich spürte meinen viel zu schnell rasenden Puls und meine Hände schwitzten unangenehm, als ich sie ums Lenkrad legte. Erst als ich die Stadt verließ und gemächlich auf dem Freeway antlang rollte, wurde ich ruhiger. Es war, als hätte die Einsamkeit der unberührten Natur links und rechts zu meinen Fenstern einen positiven Einfluss auf mich. Grün, gelb und sogar schon rotbraun belaubte Bäume zogen an mir vorbei, dann tauchte vor mir in der Abgeschiedenheit das alte Herrenhaus der Fosters auf.
Ich erschauderte beim Anblick. Das Beben, das durch meine Glieder fuhr, war jedoch rein ehrfürchtiger Natur. Längst hatte es mir das Anwesen angetan; ich hatte es neulich auf den ersten Blick liebgewonnen und das Gefühl, wieder hier zu sein, erfüllte mich mit unverhofft tiefer Freude.
Wie selbstverständlich parkte ich meinen Jeep neben den BMW von Kenneth. Als ich aus dem Auto gestiegen war und über den weißen Kies unter meinen Füßen das Haus ansteuerte, hörte ich seine Stimme.
"Hi."
Ich sah zu ihm. Kenneth stand auf der obersten Stufe der kurzen, breiten Treppe, die zur Eingangstür hochführte. Erleichtert erkannte ich, dass er nicht mit mir gescherzt hatte: Er hatte seine legere Alltagskleidung gegen passable Abendgarderobe getauscht und trug jetzt eine schwarze Hose, ein weißes Hemd und ein schwarzes Jackett, worin er selbstredend eine extrem gute Figur machte. Ich konnte glücklich aufatmen. Hollys Kleid war durchweg angemessen.
Erstaunt über diese unwirkliche Schönheit brachte ich ebenfalls nur ein jämmerliches Hi, gefolgt von einem freudigen Lächeln, heraus. Er schenkte mir einen Anblick wie aus einem Traum. Das Gefühl, zu wissen, dass er dort auf mich wartete, war sogar noch viel schöner als in meiner Vorstellung.
Als hätte er meine Gedanken von neulich gelesen.
Während ich damit beschäftigt war, ihn anzusehen und beim Erklimmen der glatten, marmornen Stufen nicht zu stützen, hielt er seinen Blick ununterbrochen auf mein Gesicht geheftet, was mich erröten ließ.
"Ich hatte schon Angst, du könntest es dir nochmal überlegen", sagte er leichthin. Ein schmales Grinsen huschte über sein perfektes Gesicht und ich verstand, dass es eine Anspielung auf Emory war.
"Niemals."
Ich legte meine Hand vertrauensvoll in seine und genoss das leichte Kribbeln, als die Wärme seiner Haut mich durchzuckte. Sein verschmitzter Ausdruck erfüllte mich mit unermesslicher Zuversicht. Ich hatte mich selbst in diese Situation gebracht. Ich hatte Zeit und Ort bestimmt, wann und wo unser Showdown stattfinden sollte.
Langsam geleitete er mich ins Haus. Ich konnte nicht dagegen ankämpfen, seine Anwesenheit als überaus anziehend wahrzunehmen. Und erst seinen Geruch! Nach frisch geschlagenem Holz, Wald und dem Hauch von herbem Eau de Toilette, ließ mich förmlich darin baden.
Ein großer, schlanker Mann um die Fünfzig mit streng zurückgekämmten ergrauenden Haaren und leicht reserviert wirkendem Gesicht öffnete uns mit behandschuhten Händen die Flügeltür des Salons. Seine Haltung war kerzengerade, die Kleidung unverkennbar die eines Dieners, obwohl ich so etwas nur aus Filmen kannte; das musste dann wohl Johann sein.
"Willkommen auf Harper Manor", verkündete er mit einer Ernsthaftigkeit, die mich in ungewolltes Staunen versetzte. Sollte es mich überraschen, dass unsere Schule ebenfalls nach einem Harper benannt war? Ich hatte keine Ahnung, wie sehr.
"Das ist der eigentliche Name des alten Landguts. Es ist eine Erinnerung an Virginie Harper, eine längst verblichene Vorfahrin von mir. Sie besaß Engelsblut und wurde bei einem Aufstand durch einen wütenden Mob getötet, als sie sich offen gegen die Sklaverei aussprach", flüsterte mir Kenneth erklärend ins Ohr, während ich mich bemühte, dem Mann im Vorbeigehen ein freundliches Lächeln zukommen zu lassen. Zwei Dinge machten mir dies schwer.
Erstens: Die Harpers waren sehr wohlhabend gewesen - wie es dazu kam, wusste ich nicht - und hatten viele Einrichtungen der Stadt gegründet. Soweit so gut. Virginie Harper war den meisten Bewohnern unserer Stadt ein Begriff. Es gibt kaum ein Gebäude, an dem nicht eine Gedenktafel darüber befestigt war, was sie für Henley Falls getan hat. Doch bisher hatte ich mich noch nicht damit auseinandergesetzt, dass schon früher Himmelswesen hier gelebt hatten. Mein Wissen über Virginie beschränkte sich auf Erinnerungen an den Geschichtsunterricht. Demnach war sie eine besondere Frau gewesen, die sich über sämtliche Konventionen ihrer Zeit hinweggesetzt und vielen ihr zugetanen Männern den Kopf verdreht hatte. Dafür wurde sie bis heute von vielen bewundert, aber auch genauso verachtet. War es ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten, der Manipulation, zu verdanken, dass sie sich Männern gegenüber so gut durchsetzen konnte? Soweit ich wusste, hatte sie ein für damalige Zeit recht fortschrittliches Denken.
Zweitens: Ich wusste nicht, wie ich mich vor Johann verhalten sollte, denn in mir tobten die widersprüchlichsten Gefühle. Übermannt von der Freude, mit Kenneth durch dieses atemberaubend schöne Haus zu schreiten, kam ich mir vor wie in eine vergangene Zeit hineingerissen. Die Anwesenheit Johanns bestärkte meine Empfindungen nur.
Doch er war manipuliert. Eine ahnungslose Marionette.
Kenneth schien meine Bedenken zu spüren, denn als wir weitergingen und das Esszimmer betraten, dessen Anblick mir wie nahezu alles hier wieder einmal die Sprache verschlug, nahm er mich beiseite. Mir blieb also nur eine knappe Sekunde, um mich mit dem kerzengeschmückten, dämmriges Licht verströmenden Ambiente vertraut zu machen.
"Geht es dir gut?", erkundigte er sich sanft.
"Ich denke schon. Nur ... Johann wirkt so steif und ich ... ich bin nicht sicher, ob das mit der Manipulation zusammenhängt", schnitt ich meine Befürchtung an. Er sollte ruhig wissen, dass ich verschreckt war.
"Das ist heute eine Ausnahmesituation für ihn", ließ Kenneth mich wissen, die Stimme gesenkt, den Kopf zu meinem Ohr gebeugt. "Gäste bereiten Johann Unbehagen. Aber um dich zu beruhigen, er ist schon immer so ernst gewesen."
Ich nickte beflissen.
"Guten Abend, Miss Jayden."
Jäh riss ich meinen Kopf in die Richtung, aus der der Klang der vertrauten Stimme kam. Und dort, im schummrigen Licht, am Kopfende der langen, festlich gedeckten Tafel, saß Emory; sein wacher Blick ruhte für eine Weile auf mir und das schien ihm ein unermessliches Vergnügen zu bereiten.
Während ich ihn entgeistert anstarrte, erhob er sich und kam auf uns zu. Nicht auf die natürliche, menschliche Art, wenn man jemanden begrüßen wollte, sondern auf seine geschmeidige, die mich frösteln ließ. So bewegten sich sonst nur Rautiere, kurz bevor sie ihre Krallen in Beute schlugen.
"Onkel", empfing Kenneth ihn knapp. Es klang wie eine Warnung.
Überrumpelt stand ich da und beobachtete die beiden. Ich fand es frustrierend, dass mich diese Begegnungen mit etwas Unerwartetem immer wieder eiskalt erwischten. Aber dann reichte mir Emory mit einem dieser unergründlichen Mienenspiele seines Gesichts seine Hand und als ich es ihm gleichtat, bedachte er die Meine mit einem Kuss.
"Sie sehen bezaubernd aus", hauchte er.
Es war beschämend, obwohl kein Anlass dafür gegeben war. Seine Lippen berührten meine Haut nicht wirklich, er sprach in keinster Weise anzüglich, aber allein die angedeutete Geste hatte etwas so Altherkömmliches, dass ich noch verlegener wurde, mich aber zugleich unverdient geschmeichelt fühlte.
Wir setzten uns. Emory ließ sich anmutig am Kopfende des Tisches nieder, Kenneth nahm mir gegenüber Platz, wodurch meine Nervosität jedoch nicht gemindert wurde, da Emory bald in höchsten Tönen zu reden anfing; er sprach von Kenneth und davon, wie hingebungsvoll er diese Mahlzeit zubereitet hatte. Wein und Wasser wurden gereicht. Johann kümmerte sich um alles, während sich Emory redegewandt in seine Lobeshymne hineinsteigerte. Es war ... überzogene Wertschätzung. Anders konnte ich es mir nicht erklären. Als wollte er mir unbedingt bewusst machen, dass gewöhnliche Dämonen sich normalerweise nicht so ins Zeug legten, ohne das Wort "Dämonen" dabei namentlich auch nur zu erwähnen. Es sei unüblich, wetterte er, wider ihre Natur. Vor mir brauchte er das nicht extra zu betonen. Ihre Fähigkeiten waren so ausgerichtet, dass sie sich genug Personal halten, es manipulieren und es sich selbst bequem machen konnten.
Hin und wieder sah ich verstohlen zu Kenneth, obwohl ich seinen Onkel nie gänzlich aus den Augen lassen wollte, und glaubte ungetrübt zu erkennen, dass es meinem Freund unangenehm war, so angepriesen zu werden wie eine Ware auf einem Markt. Zuerst verdrehte er die Augen und übte sich in stiller Zurückhaltung. Bis irgendwann aus heiterem Himmel ein Erdbeden den Tisch zum Wackeln brachte. Gläser, Teller und Besteck wurden ordentlich durcheinander gerüttelt. Ein langer, silberner Kerzenleuchter drohte zur Seite zu kippen, wurde jedoch auf gespenstische Art am Fallen gehindert wie von einer unsichtbaren Hand gegriffen. Ich hielt den Atem an.
"Es ist genug, Onkel. Du bist noch ein viel besserer Koch als ich", kam es drohend von meinem dämonischen Freund.
Emory lächelte verhalten. Sein Gesicht erschien mir von einer Sekunde auf die andere wie gemorpht, seine Züge blieben dabei hart und angespannt, zudem aber auch jungenhaft und faltenlos. Es war ein unheimlicher Moment und ebenso schnell wie es geschehen war, war es wieder vorbei. Ich spürte kalten Schweiß sich an meinen Fingern sammeln.
Und dann, ehe ich es überhaupt realisierte, stand das Essen auf dem Tisch und die beiden Dämonen gaben sich vollkommen normal. Als wäre nichts gewesen. Es gab Roastbeef, eines meiner Lieblingsfesttagsgerichte. Innen zart rosa, himmlisch duftend und mit einem Dutzend Beilagen zur Auswahl, offenkundig alles nur wegen mir.
Der weitere Verlauf des Abends beim Essen ging erstaunlich ruhig und gesittet vonstatten. Wir sprachen nun ganz gemäßigt von Belanglosigkeiten wie etwa dem Kurs über Mystische Geschichte und den Schulen und Universitäten, an denen Emory gelehrt hatte. Ich verfolgte seine Erzählungen mit großem Interesse. Auch hier erwähnte er die Dämonen nicht ein einziges Mal beim Namen. Trotzdem waren sie da. In meinem Kopf, in meinen unausgesprochenen Hintergedanken, wo sich alles kreisend um das drehte, was ich inzwischen wusste.

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