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Tame und Maelor

Schon als ich die Tür zuknallte, war ich klitschnass. Blindlings raste ich zur Veranda - meine Hand als Schutz vor Augen war nutzlos - und wrang mir das lange, vom Wind zerfledderte Haar aus. Meine leichten Sommerklamotten klebten an mir wie eine zweite Haut und ich hoffte, dass sie nicht zu durchsichtig waren. Mir wie ein Hund das Wasser abschüttelnd, tat ich mein Bestes, das parkende Auto vor unserer Zufahrt zu ignorieren, aber während ich meine Turnschuhe auszog, um so wenig Nässe wie möglich mit ins Haus zu tragen, huschte mein Blick mindestens zweimal dort hin. Erst als ich die Haustüre aufdrückte, bewegten sich die Scheinwerferlichter; den Motor übertönte das Prasseln des Regens, das Heulen des Winds, der ums Haus pfiff.
Ich versuchte leise zu sein. Vielleicht hatten ja meine Eltern nicht bemerkt, dass wir eine halbe Ewigkeit draußen im Auto gesessen hatten, was mir sehr recht gewesen wäre. Als ich allerdings auf Zehenspitzen zur Treppe schlich, war es mit meiner Heimlichtuerei vorbei. Mr. Osmond, unser Kater, stolzierte um die Ecke, die leuchtend gelben Augen interessiert auf mich geheftet, kam er geradewegs auf mich zu. Sein blaugrauer Schwanz war steil nach oben gereckt und als er mich erreichte, blieb er wie angewurzelt vor mir stehen, machte einen Buckel und fauchte bedrohlich.
"Ruhig, Osmond, was ist denn los?"
Ich bückte mich zu ihm, streckte ihm meine Hand hin, an der er für gewöhnlich aufgeschlossen schnupperte, bevor er sich von mir kraulen ließ, und flüsterte beruhigend auf ihn ein.
Bald merkte ich, dass meine Mühe vergeblich war. Er fauchte ein weiteres Mal und schlug sodann mit seiner Pfote nach mir. Instinktiv zog ich meine Hand zurück, aber die scharfen, gebogenen Krallen erwischten mich unglücklich am Handrücken. Blut quoll aus einem Riss aus meiner Haut hervor.
"Was zum ..." Ich biß mir auf die Zunge, um nicht laut loszufluchen, da lief Osmond schon weg.
"Idiot", schimpfte ich ihm nach, als er sich erhobenen Schwanzes trollte. So etwas hatte er noch nie getan.
Verärgert ging ich nach oben und wusch mir das Blut ab. Ich konnte mir sein Verhalten nicht erklären, wie so Vieles, das mir im Kopf herumschwirrte. Anschließend suchte ich mir ein rosa Pflaster aus unserem medizinischen Fundus im Badezimmerschränkchen - Mum kaufte die Dinger immer in quietschbunten Farben. Sie ist Kinderärztin in einer kleinen Gemeinschaftspraxis und hasst braune Pflaster. Also mussten auch diese, wie alles andere in ihrer Umgebung, bunt und fröhlich sein. Zu ihrem täglichen Repertoire zählt - natürlich - ein rosarotes Stethoskop, mit dem sie ihren kleinen Patienten im Gegensatz zur mausgrauen Variante beim Anblick keine Angst einjagen, sondern ihnen ein Lächeln ins Gesicht zaubern will. Erst nachdem ich die Wunde ordnungsgemäß versorgt hatte, zwängte ich mich aus meinen nassen Sachen.
Als ich daraufhin in meinem zarten Spitzen-BH vor dem Spiegel stand und mir die wirren nassen Haare auskämmte, konnte ich noch immer nicht glauben, dass Kenneth mich geküsst hatte. Nichts von alldem, was heute Nachmittag passiert war, schien real zu sein oder irgendeinen Sinn zu ergeben. Ich hatte bis zu dem Zeitpunkt, als er mein Gesicht in seine Hände nahm, nicht einmal daran gedacht, ihn zu küssen. Aber die Form seiner schön geschwungenen Lippen, sinnlich und nicht zu voll, und der leichte Geschmack nach Honig und Minze, den er auf meinen eigenen Lippen hinterlassen hatte, ging mir nicht mehr aus dem Kopf. So, dass ich das Gefühl hatte, brennen zu müssen und doch vor Kälte zu vergehen, hatte mich noch nie jemand geküsst. Und ich bezweifelte auch, dass sich Holly und Jake, die sich wirklich liebten, jemals so geküsst hatten.
Zitternd betastete ich meine Lippen. Wäre ich doch nur nicht so überrascht worden! Ein Kuss erforderte Zustimmung, niemals weniger. In Gedanken hatte ich bereits die Vorstellung davon genossen, hatten meine Lippen sich einen kurzen Moment arglos danach gesehnt, bis ich in Flammen stand und der Zauber gebrochen worden war.
Trotzdem wollte ich ihn wiedersehen. Ich hatte auch keine Angst davor, ihn wieder zu küssen. Eher davor, mich selbst zu verlieren, weil ich ihm auch jetzt noch zugetan war.
Nachdem ich mir das eingestanden hatte, ging ich in mein Zimmer, wo ich mir eine lockere, ausgefranste Jeans und ein verwaschenes, einst knallgrünes Top anzog. Mit meinem Handy tippte ich schnell eine Nachricht an Holly, in der Hoffnung, sie später noch treffen oder wenigstens mit ihr telefonieren zu können, dann ging ich nach unten.
In der Küche, die so urgemütlich war, dass sie noch von meiner Großmutter hätte stammen können, klapperten Teller und Besteck. Alles hier war total normal, als ich zu meinen Eltern stieß und ihnen beim Abendbrot machen half. Wie immer. Nur Mr. Osmond lag nicht auf seinem Lieblingsplatz auf dem Fensterbrett. Aber da ich ohnehin sauer auf ihn war, machte ich mir nichts daraus.
Meine Eltern waren wie Holly und Jake das perfekte Paar. Sie hatten sich schon auf der High school ineinander verliebt. Trotzdem war es ihnen gelungen, ihr Studium zu beenden, bevor sie heirateten und mich bekamen. Mein Dad, ein einigermaßen großer, gertenschlanker Mann, liebt sie noch heute so sehr wie damals. Sein braunes Haar ist im Vergleich zu vielen anderen Männern seines Jahrgangs noch immer kräftig, aber kurz getrimmt. Auf seinem Gesicht sitzt ein stets wachsamer Ausdruck, obwohl er wie meine Mutter ein ausgeglichener, fröhlicher Mensch ist. Im Gegensatz zu ihm braucht sie keine Brille, die er schon auf den Fotos ihres gemeinsamen Abschlussballs auf der High school trägt. Es ist eine für sich sehr altmodisch aussehende Hornbrille, die ihm jedoch ein interessantes Gesicht verleiht. Meine Mom zieht ihn gern dafür auf und behauptet, sie würde ihn unglaublich intelligent aussehen lassen. Ich kann ihr nicht widersprechen und auch in seinem Job, er arbeitet als Sachverständiger für eine große New Yorker Versicherung, die eine Zweigstelle in Henley Falls besitzt, scheint sein Auftreten gut anzukommen. Überhaupt lief bis jetzt für uns alles in geordneten Bahnen, wir verstehen uns blendend, so dass es in unserer Familie nie nennenswerte Geheimnisse gab. Bis jetzt.
Ich war noch nie so nervös gewesen. Während ich schweigsam am Tisch saß, plapperten und lachten meine Eltern munter drauflos, wobei meiner Mutter nie die Energie ausgehen würde. Sie ist zwar kleiner als ich, hat aber dieselben blonden Haare, nur kürzer, die sie extrem quirlig und lebendig aussehen lassen, und eine taffe Natur, um die ich sie manchmal echt beneide.
"Dan wurde heute versehentlich von unserem Lehrling mit Kaffee übergossen. Die braune Soße lief vorne die Knopfleiste entlang über sein Hemd hinunter und - ihr könnt es euch vorstellen - direkt auf seine Hose."
Dan war ein Arbeitskollege meines Vaters, der die Anekdote wie in einer der täglich laufenden Fernsehsoaps der Neunziger erzählte, bei denen im Hintergrund das Gelächter des Publikums eingeblendet wird. Nur wenn man jede einzelne Folge mindestens ein Dutzend Mal gesehen hat, fällt einem auf, dass das Gelächter immer wiederholt wird. So war es auch bei unseren sich immer wiederholenden Abendessen.
Zuerst erzählt einer was, dann wird wie auf Knopfdruck gelacht.
Irgendwann wurde bemerkt, dass ich heute nicht mitlachte. Meine Mom stupste Dad unter dem Tisch mit dem Fuß an und er hörte auf zu reden. Ich wusste nur, dass sie das tat, weil ich es schon oft so erlebt hatte, wenn sie ihn zum Schweigen bringen wollte, weil im Radio eine wichtige Durchsage oder eines ihrer Lieblingslieder kam.
"Ist dir lieber, wenn wir über was anderes reden?", fragte sie liebevoll. Offenbar sah man mir meine geistige Abwesenheit an.
"Tut mir leid, ich war nur abgelenkt", versuchte ich mich rauszuwinden. Streng genommen wollte ich gar nicht reden. Nur nachdenken und schwelgen und dann darüber grübeln, ob es überhaupt angebracht war, diesen abnormen Kuss mit genießerischen Aspekten gleichzusetzen. "Der Sommerkurs ist interessanter als ich dachte."
Meine Eltern schauten einander kurz an. Ihre Mienen verrieten nicht viel, sehr taktvoll, aber ihre Gehirne funktionierten wieder einmal im Einklang. Ich wusste, dass sie etwas wussten, bevor Dad damit rausrückte.
"Kann es sein, dass nicht nur der Kurs an sich sehr interessant ist, sondern jemand in diesem Kurs?" Aus seinem Mund klang es nicht halb so neugierig wie man vermuten würde.
Ich setzte ein erzwungenes Lächeln auf. "Erwischt." Alles andere wäre sinnlos gewesen. Wieso sollte ich auch nicht von Kenneth erzählen? Früher oder später natürlich. Hätte ich ihn so richtig geheimhalten wollen, hätte ich ja wohl nicht mit ihm in seinem Auto vor unserer Zufahrt sitzen dürfen, oder? Wirklich geheimhalten wollte ich also nur das übernatürliche Zeugs.
"Wie interessant ist denn dieser Jemand", erkundigte sich meine Mutter vorsichtig. Allein diese zurückhaltende Andeutung zu machen, musste sie einiges an Überwindung kosten, denn innerlich platzte sie bestimmt vor Neugierde und hätte mich gern mit den unmöglichsten Fragen gelöchert.
Kalkulierend schaute ich von ihr zu Dad und zuckte die Schultern. "Weiß ich noch nicht genau. Ich kenn ihn ja kaum", entgegnete ich wie beiläufig. Und dabei beließ ich es vorerst. Wenigstens das hatten sie zu akzeptieren. Jeder, der erwachsen wird, braucht so etwas wie eine Privatsphäre, auch wenn das bei uns eher schwer durchzusetzen war.
Als wir das Geschirr abräumten, erinnerte ich mich an meinen ersten Freund und meinen ersten Kuss. Er hieß Scott, wir waren dreizehn und sahen uns in einer Sonderaufführung unseres Kino die uralte schwarzweiß Version von King Kong an. Fast die ganze Zeit alberten wir herum, bewarfen uns mit Popcorn und versprühten Cola, aber glücklicherweise saßen wir in der letzten Reihe und die anderen Kinobesucher vor uns bekamen nicht viel davon mit.
Während ich so darüber nachdachte, wie wir es schafften, lauter Unfug zu machen und uns dann zu küssen, musste ich lächeln. Scott war damals wirklich süß. Gerade zwei Zentimeter größer als ich, besaß er die schönsten blonden Haare, die ich je bei einem Jungen gesehen hatte. Leider stand ich total auf längeres Haar und wie es halt so ist, war unsere Beziehung nicht von langer Dauer, so dass ich ihm kurz vor Weihnachten, als er mir stolz seinen neuen Kurzhaarlook präsentierte, den Laufpass gab. Wir blieben trotzdem Freunde. Bis seine Familie eine Stadt weiter weg zog und er die Schule wechselte.
Ich hatte Glück mit Jungs. Irgendwie mochten sie mich immer, obwohl ich bis zuletzt diejenige war, die jedes Mal den Schlussstrich zog.
Mr. Osmond blieb den ganzen Abend verschwunden. Erst als ich die Treppe hochging, huschte er an mir vorbei ums Eck und raste wie vom Teufel besessen in die Küche.
Als hätte er auf der Lauer gelegen und nur darauf gewartet, dass ich mich verzog.
Ich dachte ohne Ergebnis darüber nach, bis ich nach dem Zähneputzen in meinem Zimmer war und auf meinem Bett mein Handy summte. Mit Holly am anderen Ende der Leitung, übrigens der besten Methode, mich in die Realität zurückzuholen, war der Kater dann für kurze Zeit vergessen.

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