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Tame und Maelor

Es gab also auf unserem Planeten auch Gargoyles aus Fleisch und Blut. Logisch, wo ich ja schon von Dämonen und Engeln wusste. Aber hätte ich darüber nicht zutiefst und mit jeder meiner Fasern schockiert sein müssen? Ich meine, natürlich war es eine ziemliche Überraschung, als ich davon hörte, aber ich war auch froh, dass Kenneth es nicht vor mir verschwiegen hatte. Immerhin war es ein großer Vertrauensbeweis, dass er mich einweihte. Obwohl ich für meinen Teil ohnehin nicht viel gegen ihn und seine himmlischen Gefährten hätte ausrichten können. Und wirklich schlimmer wurde es dadurch für mich auch nicht. Allerdings veränderte sich das Bild in meinem Kopf, das ich von großen Städten mit alten oder hohen Gebäuden hatte. Das nächste Mal, wenn ich in New York einen Wasserspeier über mir erblicken würde, würde ich bestimmt daran denken müssen, dass er jeden Moment mit seinen Flügeln schlagend zu mir herabstürzen konnte und ich nichts davon sehen würde, da seine Bewegungen vor mir verschleiert waren ...
Je mehr ich darüber nachdachte, desto grauer kam mir mein Bewusstsein vor. Wie musste es wohl sein, mit den Augen der Engel die Welt zu sehen? Oder war für sie alles unerträglich, weil sie friedlich und gut waren und mitansehen mussten, wie wir Menschen einen Fehler nach dem anderen machten?
Wir schlenderten zum Parkplatz und ließen uns absichtlich viel Zeit. Es gab keine Zweifel, dass er mir noch mehr erzählen wollte und ich spielte mit. Ich meine, ich mochte ihn. Nicht nur wegen seines schönen Gesichts, der perfekt geformten Arme, die aus seinem schlichten weißen T-Shirt lugten, und des guten Geruchs, den er verströmte; wann immer er in meiner Nähe war, duftete es plötzlich angenehm nach Wald und frisch geschlagenem Holz. Und dann waren da noch diese magisch grünen Augen, die, wenn er mich damit anblickte, tief in mein Innerstes sahen. Das ist natürlich schnell so dahergesagt, aber aus damaliger Sicht traf es das ganz gut. Wäre er kein übernatürliches Wesen gewesen, hätte ich mir vermutlich längst eingestanden, dass ich ihn mehr als nur anziehend fand. Von Zuneigung zu sprechen, davon war ich jedoch noch weit entfernt. Ich war offen für Gespräche, dafür, Zeit mit ihm zu verbringen, die er mit Geschichten über Dämonen und Engel, den Engelsturm und nun auch noch über Gargoyles füllte. War das verrückt? Ja. Kümmerte es mich? Nein. In gewisser Weise fand ich es sogar tröstlich. Eine Zeitlang hatte ich stark an mir selbst gezweifelt und mich gefragt, ob ich überreagierte, weil so viele merkwürdige Dinge geschehen waren. Nun hatte ich endlich jemanden, der einen Sinn hinter alldem zum Vorschein brachte.
Kenneth erzählte mir auch von einem Angriff der Dämonen auf den Engelsturm und davon, dass das Buch in Gefahr war, das er heimlich in mein Auto geschmuggelt hatte. Ich hörte an seiner Tonlage heraus, dass er nicht nur darum, sondern auch um mich besorgt war. Da ich es sowieso schon fertiggelesen hatte, sprach nichts dagegen, es wieder zurückzugeben. Mich verstörte nur die Tatsache, dass ein altes Buch für so viel Wirbel sorgte.
Wir vereinbarten, dass er am Nachmittag zu mir kommen würde, um es zu holen. Je eher ich es los war, desto besser, vermutete ich. Woher er wusste, wo ich wohnte, brauchte ich gar nicht erst zu fragen. Mein neuer Freund hatte so einige Überraschungen auf Lager. Wahrscheinlich konnte er mich mit seinen Fähigkeiten überall aufspüren, wenn er das wollte, noch dazu, wo Henley Falls im Vergleich zu New York echt winzig war.
Meine Eltern waren nicht da, also konnte ich ungestört auf ihn warten. Trotzdem machte mich der Umstand seines Besuchs verdammt nervös. Wir waren dabei, uns anzufreunden. Mehr konnte und wollte ich beim besten Willen nicht in die Sache reininterpretieren. Dass er gutaussehend war, war nicht das Einzige an ihm, das mich interessierte. Es steckte so viel mehr dahinter, dass es mir fast Angst machte. Die Art und Weise, wie er mich ansah, wie er mit mir sprach, zeugten von einer tiefen emotionalen Verbundenheit. Nach dieser relativ kurzen Zeit kam es mir eigenartig vor, so von jemandem zu denken. Aber manchmal, ohne dass einer von uns sprach, verstanden wir uns fast blind. Als wäre er ein Teil meiner Seele, den ich bei der Geburt verloren und nun wiedergefunden hatte. Nun, so kitschig wie es sich anhörte, war die Realität vermutlich nicht. Obwohl, wenn man bedachte, was ich jetzt über Himmelswesen und die Unterwelt wusste, war auch das vorstellbar.
Als es klingelte, saß ich auf meinem Bett und starrte in Gedanken versunken das Buch vor mir an. Es war absurd, wie eine so romantische Liebesgeschichte das Interesse der Dämonen wecken konnte. Eilig nahm ich es mit nach unten und öffnete die Tür; sofort darauf streckte ich es ihm hin.
"Du bist schnell", stellte Kenneth schmunzelnd fest.
Verdutzt blinzelte ich in sein schönes Gesicht. "Das ist doch gut, oder?"
"Hervorragend. Einen Kobold hättest du schon mal abgehängt." Er nahm mir das Buch ab und lächelte. "Danke übrigens."
"Ich bin sowieso schon durch und nach allem, was du mir gesagt hast, ist es besser für mich, wenn ich es los habe", antwortete ich unbeholfen.
War das eben ein Witz? Ich war mir nicht sicher. Manchmal glaubte ich, wir lagen so sehr auf einer Wellenlänge, dass es schon fast unheimlich war, und dann überraschte er mich mit solchen Bemerkungen, die mich total verunsicherten. Es war sowieso schon nicht leicht, locker zu bleiben, nach allem, was er mir über seine himmlischen Zeitgenossen anvertraut hatte. Hin und wieder bekam ich ungewollt Gänsehaut - nicht ganz unbegründet bei all deren Fähigkeiten, von denen ich bisher bestimmt nur einen Bruchteil kannte.
"Fühlst du dich jetzt erleichtert?", erkundigte er sich interessiert. Er musste meine Gefühle wahrgenommen oder meine Erleichterung gesehen haben.
Ich zuckte die Achseln. "Du hast eben das Wort Kobold erwahnt. Kennst du denn welche?", wollte ich zuerst wissen. Ich hatte darüber nachgedacht, was wäre, wenn die Himmelswesen, Dämonen, Engel oder wer auch immer, das Buch hier finden würden. Ein Kobold war nicht in meinen Gedanken vorgekommen.
"Ich wollte dich nur auf den Arm nehmen, weil ich wusste, du würdest es nicht so einfach aus dem Kopf kriegen."
"Blödmann." Spielerisch schlug ich mit meiner Faust gegen seinen Arm. Was ich spürte, war perfekt getrimmt. Hätte ich fester zugeschlagen, wäre es mit Sicherheit sehr schmerzhaft für mich geworden.
"Im Ernst jetzt, fühlst du dich besser so?", fragte er einfühlsam nach.
Offenbar erwartete er eine ehrliche Antwort von mir, die ich ihm nicht so ohne Weiteres geben konnte, da ich neugierig und auch etwas verängstigt war. Also schloss ich kurz die Augen und atmete tief durch. "Ja. Ich will es nicht in der Nähe von Menschen haben, die mir etwas bedeuten." Mein Ärger auf ihn war schnell wieder verflogen, doch er sollte auch wissen, dass es mir ernst war. Immerhin hatte ich ihn aufrichtig davor gewarnt, sich in mein Leben einzumischen und dort etwas auf den Kopf zu stellen.
"Das wirst du nicht mehr. Wir bringen es raus aus der Stadt." Es klang zuversichtlich, sodass ich nickte. "Also", sagte Kenneth eine kurze Pause darauf, "ich will das Buch schnell Emory geben, aber wenn du willst, kannst du mitkommen. Danach könnte ich dir den See zeigen."
Mir war klar, dass es sich um einen See auf seinem Land handeln musste, denn den Badesee von Henley Falls kannte jeder hier. Ich linste an ihm vorbei und über den Vorgarten hinweg zur Straße, wo ich unweit von unserer Zufahrt ein dunkelblaues Auto stehen sah. Das musste dann wohl sein BMW sein.
"Du hast dein Auto zurück", mutmaßte ich und nickte hinüber.
"Die von der Werkstatt waren so freundlich, es mir vor die Tür zu stellen", meinte er darauf mit tonloser Stimme.
"Scheint eine super Werkstatt mit super Service zu sein", betonte ich extra deutlich, um ihm zu zeigen, dass ich durchaus wusste, dass er oder sein Onkel irgendwie damit zu tun hatten, denn normalerweise musste man sich bei uns in der Nähe sein Auto nach einer Reparatur selbst abholen.
"Emory hat gut dafür bezahlt", rechtfertigte er sich argwöhnisch. Unsicherheit huschte in seinen Blick und er wich mir mit den Augen aus, als ahnte er, dass ich ihm etwas Kriminelles oder Skrupelloses anhängen wollte.
"Du überlegst doch nicht gerade, ob es falsch war, mir das so ungeniert zu sagen", zog ich ihn belustigt auf. "Jetzt, wo ich schon so viel über dich weiß." Ich war gerührt. Scheinbar schämte er sich deswegen.
"Es ist alles ein wenig kompliziert", wich er mir abermals aus.
"Dann lass uns fahren. Du fühlst dich bestimmt auch besser, wenn du das Buch los hast. Aber wenn wir auf deinem Land sind, will ich wissen, was so kompliziert ist", schlug ich freizügig vor.
Er überlegte kurz und sah mich dann mit funkelnden Augen an. "Abgemacht."
Es war ein strahlend schöner Nachmittag mit blauem Himmel über uns, und mit ihm draußen zu sein, war genau das Richtige dafür. Auf dem Weg zum Foster Anwesen blickte ich abwechselnd verträumt auf die friedfertig vorbeiziehende Landschaft, in der sich an den Büschen und Bäumen die ersten Verfärbungen des kommenden Herbstes abzeichneten, und auf meinen attraktiven Fahrer. Selbst schlichte T-Shirts und lässig geschnittene Hosen ließen ihn unglaublich gut aussehen. Wie es wohl sein musste, wenn er einen Anzug trug und ich dabei in einem eleganten Kleid neben ihm stand? ... Richtig. Das passt eigentlich so gar nicht zu mir, denn normalerweise bin ich nicht so kitschig veranlagt, aber mit ihm an meiner Seite war der Gedanke an Romantik sehr verlockend.
Die Minuten mit ihm vergingen wie im Flug. Wir bogen in die Nebenstraße ein, die zum Anwesen führte, rollten die Auffahrt zum Haus entlang und hielten davor auf einem großen, freien Platz an. Bis hierher kannte ich den Weg, doch schon auf den ersten Blick hin war meine Perspektive auf das Herrenhaus sowohl atemberaubend prächtig als auch verstörend für mich. Seine besten Zeiten hatte es zwar hinter sich gelassen, aber noch immer strahlte es geschmackvolle Schönheit aus und verkörperte perfekt die gelungene Baukunst heute leider verlorengegangener Architektur, für die ich früher nur wenig Interesse hegte. Kinder an Halloween sind so begeisterungsfähig für Gruseliges, dass selbst unwirklich und unheimlich aussehende alte Häuser ihren Reiz auf Abenteuer versprühen. Und die Hoffnung auf viele klebrige Süßigkeiten.
Inzwischen wurde ich längst eines Besseren belehrt und ich hätte ehrlich gesagt auch nicht geglaubt, dass ich jemals wieder einen Fuß auf diese Auffahrt setzen würde. Dementsprechend steif stieg ich aus dem Auto.
Der Kies knirschte unangenehm unter meinen Turnschuhen und ich fühlte mich selten unwohl dabei, weil ich mir wie ein Eindringling vorkam. Jeder in der Stadt wusste, dass Emory nicht besonders gesellig war. Was würde er sagen, wenn er mich als Besucher in seinem Haus zu Gast hätte?
"Ich brauch nicht lange. Du kannst hier warten, wenn du willst", bot Kenneth vorausschauend an.
Abgelenkt wie ich war, merkte ich erst jetzt, dass ich ihn hilflos ansah, wohingegen er meinen Blick freundlich erwiderte. Wahrscheinlich hatte er sich gemerkt, was ich ihm über Halloween gesagt hatte und empfand Mitleid mit mir.
"Nein, es geht schon", wand ich nicht sehr überzeugend ein. Das hoffte ich aber. Einerseits war ich froh über das Angebot, andererseits wollte ich kein Hasenfuß sein.
Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, wie zutiefst erschrocken ich ein paar Jahre zuvor in meinem Halloween-Kostüm von diesem Grund und Boden geflohen war, hatte er schon das Auto umrundet und hielt mir seine Hand hin. Das Buch war sicher im Griff seiner anderen.
Er lächelte mir aufmunternd zu. "Wollen wir?"
"Je eher wir es hinter uns bringen, desto besser", murmelte ich zerstreut. Mir war nicht nach Scherzen zumute, aber insgeheim wünschte ich mir, die Situation irgendwie auflockern zu können. Doch da war nichts zu machen. Die Erinnerungen aus meiner Kindheit überlagerten und verhöhnten meinen Verstand.
Zum Glück ließ Kenneth mich nicht los, bis wir unmittelbar vor der Tür standen. Erst dort gab er meine Hand frei, um mit ihr über meine erhitzte Wange zu streichen.
"Entspann dich", sagte er sanft.
Ich war wie elektrisiert von dieser liebevollen Geste und lächelte ihn einfach nur an. Mit Sicherheit sah ich dabei ziemlich dümmlich aus. Es schien ihn jedoch nicht zu stören, denn er lachte.
"Gut so." Er drückte die Tür auf und schob mich sacht hindurch.
Wir standen in einer großen Eingangshalle. Fast alles darin war mit schwarzem und weißen Marmor ausgestattet und mein erster Gedanke an ein altes Schloss zuckte so plötzlich durch mein Gehirn, dass ich entgeistert den Mund aufklappte.
"Wow."
Während ich würdelos um mich starrte, kam jemand die breite Treppe hinunter.
Es war Emory, der wie immer einen perfekt sitzenden Anzug trug, und ich hätte schwören können, dass er nicht ging, sondern schwebte. Lautlos und anmutig. Mir war bisher nicht aufgefallen, dass er sich so bewegen konnte und wahrscheinlich tat er das auch nur, wenn er nicht unterrichtete, um nicht unnötig aufzufallen. Nicht dass er jemals getrampelt hätte, aber diesmal fiel mir sein Gang, der dem eines geschmeidigen Raubtiers glich, besonders auf - die Ähnlichkeit zu seinem Neffen war wieder einmal verblüffend.
Kurz vor der untersten Stufe hielt er an. Zweifelnd blickte er von mir zu Kenneth, eine seiner schmalen Hände elegant auf dem Geländer ruhend. "Ich wusste gar nicht, dass wir Besuch erwarten." Eine leichte Kälte ging von seinen Gesichtszügen aus.
"Soll ich euch vorstellen? Ehrlich gesagt dachte ich, wir verzichten darauf. Ihr kennt euch ja sowieso schon", konterte Kenneth unbeeindruckt. Er seufzte leise, dann sah er seinen Onkel mit schief gelegtem Kopf auffordernd an und wartete auf dessen Reaktion.
Ich platzte fast vor innerlicher Anspannung. Emory zögerte seine Antwort natürlich auch noch absichtlich hinaus. Anscheinend wollte er mir die kalte Schulter zeigen.
"Schon gut. Willkommen in meinem Haus." Er grinste mich völlig unerwartet schurkenhaft an, das erste Mal, dass ich ihn so erlebte, und ich staunte über seine makellosen Zähne, die wie auch bei Kenneth blitzblank waren und mich an Alabaster erinnerten.
"Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn Maelor die Führung durch die Räumlichkeiten übernimmt", setzte er in leicht süffisantem Unterton nach. "Er kann Ihnen zeigen, wo alles ist. Und jetzt entschuldigt mich bitte."
Genauso lautlos wie er die Treppe hinuntergekommen war, diesmal aber mit ausdruckslosem Gesicht, streckte er seine Hand nach dem Buch aus, das Kenneth hielt, nahm es und verschwand durch eine Tür in einem der angrenzenden Räume.
Ich atmete hörbar auf. "Ist Maelor euer Butler?", fragte ich dann noch immer ziemlich verwirrt. Ich hätte zu gern gewusst, ob es hier immer so kühl zuging oder nur wegen mir. Allerdings befürchtete ich, dass Emory es hören konnte und verkniff mir die Frage.
"Nein. Maelor ist mein Himmelsname. Wir benutzen ihn nur unter uns."
"Äh, cool", entfuhr es mir unbedacht. Aber mal ehrlich, was hätte ich darauf auch sagen sollen? Ich hatte schon halb erwartet, Bekanntschaft mit einem weiteren mir bislang unbegegneten Wesen zu machen, einem Minotaurus zum Beispiel. Meine Erleichterung war dementsprechend groß. "Haben alle bei euch Himmelsnamen?"
"Manche. Wenn sie zu selten oder zu außergewöhnlich sind, bekommen wir für die Zeit, die wir unter Sterblichen leben, noch andere Namen." Es strengte ihn offenbar an, die richtigen Worte zu finden, denn er verzog das Gesicht. "Hör zu, wegen Emory ..."
"Mach dir darüber keine Gedanken", winkte ich möglichst lässig ab. Er tat mir fast leid, weil es für ihn genauso schwer war wie für mich. Vielleicht sogar noch schwerer, da Emory von Natur aus eigenwillig zu sein schien. Jedenfalls ohne seine dämonische Seite hervorheben zu wollen. "Familienmitglieder sind überall gleich. Ich wette, wenn ich dich meinen Eltern vorstellen würde, würden sie dich stundenlang an einen Stuhl fesseln und aushorchen."
"Wahrscheinlich", kam es gepresst zurück. Er versuchte zu lächeln, aber seine Mundwinkel waren angespannt und das verdeutlichte mir, dass er mir nicht glaubte. "Es ist wohl besser, wenn ich dir jetzt das Haus zeige, dann können wir raus gehen."
Wie zu erwarten, war auch der Rest des Hauses beeindruckend. Es hatte so viele unterschiedlich eingerichtete Gästezimmer, dass ich schon nach dem zweiten neidisch wurde. Die Küche und die Bibliothek waren jeweils ein Traum, und sein Zimmer, das er mir am Schluss zeigte, war wiederum ganz anders als das, was ich bisher gesehen hatte. Geräumig, geschmackvoll eingerichtet und rumum zum Wohlfühlen.
Als wir anschließend nach draußen gingen und ziellos nebeneinander über eine weite Wiese streunten, staunte ich noch immer. Ich hatte nicht für möglich gehalten, dass ich dieses Haus jemals mögen würde, aber das war noch weit untertrieben - ich liebte es.
"Ich bin wirklich neidisch", gab ich schwärmerisch zu. "Für so ein Haus würde selbst ich über Leichen gehen."
Kenneth, der neben mir herschlenderte, sah mich von der Seite her prüfend an. Zufällig berührten sich beim Gehen unsere Arme und er fasste nach meiner Hand. "Du magst es tatsächlich. Aber du übertreibst", sagte er und streichelte mit seinem Daumen zart über meinen Handrücken.
Ich tat, als wäre ich entrüstet, obwohl ich die Berührung genoss, und schnaubte. "Tue ich nicht. Wäre es möglich, dass dein Onkel mich doch noch sympathisch findet und adoptiert? Er hat keine Kinder, oder?", winkte ich schelmisch mit dem Zaunpfahl.
Kenneth verdrehte lachend die herrlich grünen Augen. "Nein, er hat keine ... Nachkommen. Aber er hat mich. Dein einziger Weg zu diesem Haus führt also über mich."
"Das ist kein Problem. Ehrlich."
Wieder lachte er. Dann blieb er abrupt stehen, wechselte im gleichen Atemzug die Richtung und zog mich an der Hand mit sich, sodass ich fast in ihn hineinlief. Der bloße Umstand, dass er meine Hand befehligte, verhinderte, dass ich bei meinem Bremsmanöver gegen ihn stolperte.
"Wenn du so etwas sagst, solltest du an die Folgen denken. Wir sind in die falsche Richtung gelaufen" hielt er mir mit gespielter Wut vor. Unverschämter Weise sah er auch dabei blendend gut aus und ich schürzte sprachlos die Lippen.
"Meinetwegen?", brachte ich etwas verspätet hervor.
"Willst du darauf wirklich eine Antwort?"
"Solange du nicht vergisst, mir zu sagen, was so kompliziert ist, kann ich getrost darauf verzichten", erinnerte ich ihn schamlos.
"Alles ist kompliziert. Du wolltest wissen, wieso die Werkstatt so einen hervorragenden Service bietet. Ich sag's dir. Emory hat den Besitzer manipuliert. Er hat seine Gedanken beeinflusst, damit er den Wagen schneller repariert und wir ihn nicht abholen müssen. Allerdings hat er ihn auch gut dafür bezahlt. Und auch das mit dem Buch ist weitaus komplizierter, als man meinen könnte. Emory und Sam beziehen das, was da drin steht, auf uns."
Er hatte den Satz kaum beendet, da stoppte er abrupt. Ich spürte ein festes Ziehen in meiner Hand und keuchte auf. Sofort ließ er mich los und sah mich alarmiert an.
"Hab ich dir wehgetan?"
"Nein. Es geht schon." Ich war wie benommen, als ich vor uns den See erblickte. Die perfekte Ablenkung von meinen verknoteten Gedanken. Er war größer, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Hundert Fuß lang und bestimmt genauso breit. Beeindruckt registrierte ich einen breiten Holzsteg, der ein paar Meter über das leicht grünlich schimmernde Wasser führte. Dahinter gab es einen schmalen, sich sanft im Wind wogenden Schilfgürtel auf der einen Seite, auf der anderen eine Wiese, die bis ans Wasser reichte. Auch hier tummelten sich in der Ferne wieder Pferde, genau wie an der Grenze des Besitzes, wo wir damals auf dem Felsen gesessen und geredet hatten.
"Wer kümmert sich um die?" Ich suchte seinen Blick, doch er hielt ihn starr auf die Pferde gerichtet.
"Wir haben Bedienstete", sagte er schwer. "Emory hat sie für eine Weile auf Urlaub geschickt, als ich zu ihm kam. Er glaubte, es wäre zu viel Stress und Stress tut Dämonen nicht gut. Aber wir brauchen sie. Wir haben Johann, unseren Hausdiener, und Dexter, das ist unser Mann für alles, was sich außerhalb des Hauses befindet. Er hat viele Kinder. Sie helfen uns, auch sie werden alle sehr gut bezahlt. Also wäscht eine Hand die andere. Das Problem ist nur, dass Dexters Töchter und ich uns sehr nahe stehen. Wir kennen uns von klein auf. In den Ferien war ich fast immer hier. Aber jetzt sind wir erwachsen geworden und das führt zu Spannungen. Obwohl, wenn ich so darüber nachdenke, sollte sich das Problem nun in Luft aufgelöst haben." Er grinste mich unvermittelt frech an und erwartete wohl, dass ich ihm folgen konnte.
"Erklär es mir", forderte ich ihn heraus. Ich vermutete, dass er genau das vermeiden wollte. Doch Vermutungen reichten mir nicht. Vor allem nicht, wenn sie hinterher nur zu Missverständnissen führten.
"Dämonen", setzte er leise aufstöhnend und als Zeichen seines Unbehagens an, "wollen Menschen besitzen. Unsere Fähigkeiten helfen uns dabei. So ist es ein Leichtes, mit Menschen zu spielen. Natürlich wollte Emory nicht, dass es dazu kommt und hat alle auf Urlaub geschickt."
"Und jetzt hat sich dieses Problem in Luft aufgelöst", fuhr ich für ihn mit trockenem Mund fort. War das gut für mich oder schlecht? Ich wusste es nicht und das verstörte mich noch mehr. "Warum?"
"Weil du da bist. Ich hab dir gesagt, dass ich dich mag, Tame. Das war die Wahrheit."
Darauf wollte ich lieber nicht eingehen, noch nicht, also tat ich es nicht. Für Eingeständnisse meinerseits war ich noch nicht bereit. Stattdessen wich ich ihm aus.
"Sind eure Bediensteten auch manipuliert?"
Er wirkte keineswegs durcheinander aufgrund meines Themenwechsels. "Ja. Es muss sein."
Da er aufrichtig klang, dachte ich darüber nach. Das Haus und das Land waren wunderschön, aber nicht in bestem Zustand. Bestimmt war Emory nicht der Typ, der mit einer Peitsche hinter seinen Bediensteten stand und sie mit hohen Ansprüchen quälte. Er zog sich zurück, ließ die Arbeiter machen, was sie für richtig hielten, solange alles lief. Nicht mal uns hatte er sich auf meiner Führung durch das Haus gezeigt.
Trotzdem war es falsch.
"Er bezahlt sie gut?", erkundigte ich mich schuldbewusst. Ich merkte, dass ich dazu tentierte, damit einverstanden zu sein. Ich war ein schlechter Mensch.
"Es gibt schlimmere Arbeitsplätze und härtere Bedingungen", sagte Kenneth, als hätte er meine Gedanken erraten.
"Sie wissen nicht, dass sie manipuliert werden", gab ich düster zurück. Ich weigerte mich, daran zu denken, dass ich manipuliert sein könnte. Dafür hatte er mir einfach zu viel anvertraut.
Auf die Frage hin, ob ihn das - ich nannte es absichtlich Gehirnwäsche - nicht störte, antwortete er nur zögerlich mit "ich finde es nicht gut".
Wir schwiegen beide und starrten auf das Wasser vor uns, auf dem mehrere Enten herumschwammen. Zeit für mich, erneut das Thema zu wechseln.
"Erklär mir, was du gemeint hast. Du sagtest, Emory und Sam beziehen das, was in dem Buch steht, auf uns beide?"
"Ja. Genau wie der Rest ist auch das kompliziert", nahm er den Faden sofort wieder auf. "Leider sind Dämonen alles andere als uneigennützig veranlagt. Sie wollen herrschen und die Engel wollen Frieden, weshalb sie auf den Schutz der Gargoyles angewiesen sind. Aber im Grunde genommen wird jeder für sich das in diese Sache reininterpretieren, was für ihn dienlich ist."
"Und Emory?", fragte ich nochmal nach, ohne mir allzu viele Illusionen zu machen, dass sein Onkel die Botschaft in dem Buch für nichtig befinden könnte. Kenneth hatte recht: Eine Voraussagung wurde von jedem anders interpretiert. "Wie sieht er das Ganze?" Meine Stimme war so leise, dass ich sie selbst kaum hörte.
"Emory wird tun, was er tun muss. Ich vertraue ihm. Er ist mein Gewissen, auch wenn er manchmal nicht drumherum kommt, gewisse Entscheidungen zu treffen, die er lieber nicht treffen würde."
Plötzlich verstand ich alles. Oder ich glaubte es zumindest. Kenneth - oder Maelor - war wie der Junge in dem Buch, der ein Mädchen mochte, eine Sterbliche, was er nicht durfte. Schlimmer noch, denn dort, wo er herkam, war es verboten, und mächtige Wesen mit übernatürlichen Kräften würden sich ihm in den Weg stellen. Hinzu kam noch, dass dieses Mädchen niemand anderes war als ich.
In diesem Moment wusste ich, dass sich mein Leben, das ich so mochte, wie es war, bereits verändert hatte.

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