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Maelor und Tame
Wenn Engel Briefe schreiben, braucht es Engelsblut, um diese zu entschlüsseln. Äußerlich so getarnt wie belanglose Werbungen oder Rechnungen, offenbaren sie ihre Botschaften nur den Himmelswesen. Das ist zwar aufwendig, aber auch sehr zuverlässig; kein Mensch kann unseren Geheimnissen dadurch auf die Schliche kommen.
Ich ging also mit dem Brief in die Küche, nahm ein scharf geschliffenes Messer vom Holzblock, um den Brief damit zu öffnen und mein Blutopfer zu entrichten. Dazu schnitt ich mir mit der Klinge in die Handfläche. Als Halbdämon waren die körperlichen Warnsignale der Sterblichen bei mir weniger ausgeprägt und ich spürte kaum Schmerz. Während ich behutsam ein paar der roten Tropfen auf das Papier träufelte, schloss sich die Wunde bereits wieder.
Ich musste nicht lange warten, bis darauf die schwarze Tinte sichtbar wurde, mit der mein Freund Cassian in kalligraphischer Feinarbeit seine Zeilen hinterlassen hatte.
"Maelor, mein Bruder", hieß es in dem Brief, "ich schreibe Dir in tiefer Trauer. Vor zwei Tagen ist der Engelsturm angegriffen worden."
Ich spürte eine Welle kalten Zorn durch meinen Körper jagen. Und Furcht. Unglaubliche Furcht. Das Anglioward anzugreifen, war schier unmöglich. Es ist ein palastartiges, sehr gewaltiges, von mächtigen Gargoyles bewachtes Gebäude in Manhattan. Da Engelsseelen so rein sind, dass sie das Kämpfen verabscheuen, werden sie seit Jahrhunderten von Wächtern beschützt, die sich ihnen angeschlossen haben. Diese geflügelten und furchterregenden Kreaturen mit ihren riesigen Zähnen und Klauen sitzen in der ganzen Stadt verteilt auf hohen Gebäuden und gelten als nahezu unzerstörbar. Nur jemand, der eine Armee zur Verfügung hatte, konnte diese Hochburg des Lichts angreifen - ein großes Wagnis, das eine ganze Heerschar von Dämonen erforderlich machte.
Cassian fasste sich in seinem Brief kurz, aber ich musste ihn ein zweites Mal lesen, um das Unfassbare zu verstehen. Mein Freund schilderte nur, was nötig war, um mich auf dem Laufenden zu halten. Er bat mich außerdem, nicht nach New York zu reisen, weil die Lage im Turm immer noch sehr angespannt war und enorme Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden waren. Im Klartext hieß das, ich als Halbdämon würde wahrscheinlich nicht besonders freundlich empfangen werden. Cassian hatte den Brief außerdem vermutlich abgemildert, weil er sich Sorgen machte, dass ich seinen Rat missachten würde. Mein Freund tat Recht daran. Er war wie ein Bruder für mich und kannte mich in- und auswendig. Wir waren zusammen in New York aufgewachsen, zusammen in dieselben Schulen und durch dick und dünn gegangen.
Niedergeschlagen nahm ich den Brief und eilte damit zu Emory in die Bibliothek, seinem Lieblingszimmer auf dem Anwesen. Rasch erklärte ich ihm alles.
"Wie schlimm war der Angriff?", fragte er alarmiert, nachdem ich mit meiner Schilderung fertig war. Der einzige Engel im Engelsturm, dem diese Sorge galt, war meine Mutter. Der Gedanke, sie zu verlieren, musste für ihn ähnlich unvorstellbar wie für mich sein ... Ja, wir waren gemessen an den zerbrechlichen Hüllen der Menschen unsterblich, aber selbst für Himmelswesen gibt es Schlupflöcher, die ihnen das hohe Lebensalter der Ältesten verwehren. Am Ende kann ein jeder Engel und ein jeder Dämon wie alle Lebewesen sterben.
Um ihn nicht lange auf die Folter zu spannen, beruhigte ich ihn rasch. "Meiner Mutter geht es gut."
Emory nickte knapp. Er war bestimmt erleichtert, aber kaum eine Regung spiegelte sich auf seinem Gesicht wider. Ich war mir sicher, dass es ihn quälte, dass meine Mutter ihn nicht über den Angriff informiert hatte.
"Sie hat uns absichtlich da raus gehalten", bemerkte ich zögerlich.
"Mag sein", brummte er.
Ich wechselte das Thema. "Glaubst du, dass Aldon dahintersteckt?"
"Mit Sicherheit hat er etwas damit zu tun."
Verwundert über diese doch recht milde Aussage, hakte ich nach; ich hatte ein klares Ja erwartet. "Du scheinst nicht sehr überzeugt zu sein. Aber nach allem, was wir wissen, passt dieser Angriff genau in sein Muster. Er will Unruhe stiften, und das hat er erreicht."
Emory zeigte sich skeptisch. Er kniff dementsprechend seine Augen zusammen. "So schnell kann Aldon keine Armee aufstellen", gab er überlegt zu bedenken.
Ich musste ihm dabei wohl oder übel recht geben. Erst vor kurzem hatte Aldon in Henley Falls gewütet. Wir waren nicht einmal sicher gewesen, dass er die Stadt schon verlassen hatte. Doch bevor ich mich ganz überzeugen ließ, wollte ich Gewissheit. "Hast du einen Beweis dafür?"
"Nennen wir es eher einen Verdacht."
Er machte mich stutzig und ich zählte eins und eins zusammen. "Womöglich war ja alles, was er hier in Henley Falls getan hat, nur eine Ablenkung. Ist es das, was du denkst?"
"Es ging mir durch den Kopf. Oder er wurde geschickt - Aldon arbeitet für einen anderen Dämon."
"Für wen?", sprach ich hastig aus, was ich nicht zurückhalten konnte. New York war von vielen mächtigen Dämonen besiedelt, von denen fast ein jeder infrage kommen konnte.
"Das finden wir bestimmt bald heraus."
Ich wusste, dass ihm der Angriff auf den Anglioward keine Ruhe lassen würde, genauso wenig, wie er mir meine Ruhe ließ. Da wir jedoch im Engelsturm mehr oder weniger geächtet waren und mich zu meinem eigenen Schutz von meinen Freunden niemand dort haben wollte, mussten wir uns anderweitig nach Informationsquellen umsehen - wir brauchten dringend Hilfe. Und diese erhielten wir von einem Freund.
Samuel war aus New York zu uns aufs Anwesen gekommen, was schon ein Wunder an sich war. Der Gargoyle verließ seine Stadt nur einmal im Jahr - zu Halloween. Das zweite Wunder war, dass dieses muskelbepackte Wesen mit seinen riesengroßen Pranken um Haaresbreite gerade so in unsere Küche passte. Normalerweise ging er aufrecht auf zwei Beinen, musste sich jetzt aber gebückt fortbewegen und den Kopf einziehen. Seine ausladenden ledrigen Flügel hatte er vorsorglich eng auf den Rücken gepresst.
"Vorsicht! Nicht den Schrank mit dem Porzellan", ermahnte Emory ihn, als Sam mit seinem Dornenschwanz beim Hinsetzen den Kühlschrank zerkratzte.
"T'schuldigung", murmelte Sam kleinlaut und ließ sich frustriert auf den Boden plumpsen. Wäre da nicht das silbrig glänzende, am Schwertknauf mit Bergkristallen besetzte Langschwert gewesen, das aus der an seiner Seite hängenden Schwertscheide herausragte, hätte man ihn für einen trotteligen Tollpatsch halten können. Aber das war er nicht, er war ein ausgezeichneter Kämpfer. Augenblicklich war ihm das alles einfach nur furchtbar peinlich, aber mein Onkel wollte ihn lieber in der Küche haben, als im Esszimmer oder in der Bibliothek, da beide Räume empfindlich auf Flammen reagierten und Sams Atem gewaltige Feuerwalzen ausstoßen konnte.
Fasziniert saß ich derweil auf meinem Stuhl, beobachtete die beiden, wie sie sich kabbelten, und konnte nur noch grinsen. Es war schön, Sam zu sehen, wobei schön ein Ausdruck war, der bei anderen für Verwirrung gesorgt hätte. Der Gargoyle besaß eine steingraue unebene Haut. Wenn er sich zusammenkauerte und still hielt, konnte man ihn auch durchaus für einen Stein halten. Sein Kopf war so stoßfest wie Granit, groß wie der eines Grizzlys, und aus seinem Maul ragten noch dazu vier gewaltige schräge Hauer wie bei einem Säbelzahntiger. Aber Schönheit liegt ja bekanntlich im Auge des Betrachters und ich mochte Sam. Wahrlich, hatte es je ein Monster gegeben, das so schrecklich aussah und dabei so sanftmütig sein konnte? In Momenten wie diesen verstand ich nicht, wie man sich ernsthaft vor diesem wunderbaren Wesen fürchten konnte. Allerdings muss ich zugeben, dass ich Sam schon mein ganzes Leben lang kenne. Andere würden ihn wohl eher für ein Spukgespenst halten. Aber darauf kommen wir später zu sprechen.
"Ich hoffe, du bringst Neuigkeiten", nahm mein Onkel den sanften Riesen ins Verhör, dessen Ankunft wir nach dem Eintreffen von Cassians Brief schon mit Ungeduld erwartet hatten.
"Das tue ich. Denkst du, ich wäre sonst hergekommen?" Endlich hatte der Gargoyle seine raumgreifende Stimme wiedergefunden, die gleich viel besser zu seinem Äußeren passte.
"Gut. Dann lass mal hören." Mein Onkel klang zufriedengestellt und sah Sam mit milder Erwartungshaltung an.
Die beiden waren alte Freunde, aber hin und wieder kriegten sie sich heftig in die Haare, vermutlich weil beide sehr sture und uneinsichtige Charakterzüge besaßen, die sie, wenn nicht einer einlenkte, schnell mal explodieren ließen. Darum lief Halloween auch immer sehr abwechslungsreich ab. Sam besuchte Emory jedes Jahr, sie unterhielten sich und lachten zusammen, tranken Whisky, Scotch und was sonst noch so im Weinkeller zu finden war. Meistens wurde es dabei etwas lauter, bis die Stimmung kippte und sie sich zofften. Wenn das der Fall war, sollte man besser nicht in der Nähe sein. Tame hatte ich von diesen Besuchen jedoch noch nichts erzählt. Schließlich hatte ich sie nicht noch skeptischer machen wollen. Normale Menschen konnten Gargoyles nicht sehen, sie waren vor ihren Augen verschleiert und nur in ihrer Starre für sie sichtbar, wenn sie an Kirchen, Palästen oder Hochhäusern kauerten und schliefen. Ein unsichtbares Himmelswesen hätte also bestimmt ihr Interesse geweckt.
Da augenblicklich keine Gefahr von ihnen drohte, holte ich uns etwas zu Trinken. Sam stellte ich einen Eimer vor die Füße, kippte eine Flasche Whisky hinein und stellte vorsorglich einen zweiten mit Wasser daneben. Meinem Onkel brachte ich einen Scotch und für mich holte ich eine Cola aus dem Kühlschrank, mit der ich mich wieder setzte. Dann hörte ich den beiden unterschiedlichen Gestalten in der Küche ruhig und mit großem Interesse zu. Samuel war rund achthundert Jahre alt und hatte seine Augen und Ohren in New York überall, hieß, er hatte sich ein ausgeklügeltes Netzwerk aus wertvolleren Kontakten aufgebaut.
Gerade erfuhr ich, dass die Angreifer es auf die Bibliothek des Turms abgesehen hatten. "Wisst ihr schon, was sie mitgenommen haben?", erkundigte sich Emory vorausschauend.
Nachdenklich kratzte sich Sam mit seiner klauenbewehrten Pranke am wulstigen Nacken. "So eine schmalzige Liebesgeschichte. Fallen Stars - glaube ich. Das macht mir echt Kopfzerbrechen. Wer bitteschön bricht in den Engelsturm ein, um einen schmalzigen Roman zu klauen? Das ist einfach ..." Er unterbrach sich abrupt; Emory und ich sahen uns mit großen Augen an. "Nein! Sagt nicht, ihr habt was damit zu tun", rief Sam etwas irritiert.
"Ich habe das Buch Maelor geschenkt. Es ist hier auf dem Anwesen ..."
"Nein, ist es nicht", warf ich unbedacht ein. Das hätte ich jedoch besser nicht tun sollen, denn alle beide gafften mich nun verständnislos an.
"Was soll das heißen?" Mein Onkel war sichtlich schockiert.
"Ich hab das Buch Tame geliehen. Ich wollte mit ihr ins Gespräch kommen und dachte, es würde ihr vielleicht gefallen. Mädchen stehen doch auf sowas", erklärte ich wahrheitsgemäß.
Anklagend fauchte Sam und die schwarzen Flügel auf seinem Rücken erzitterten. "Wieso gibst du ihm das Buch, Emory? Er ist noch ein Junge. Und wer zum Teufel ist Tame?" Seine tiefe Stimme donnerte wie ein Gewittersturm durch unsere Küche. Er hatte gewiss noch mehr Fragen, aber Emory fiel ihm ins Wort.
"Tame ist ein Menschenmädchen", sagte mein Onkel kurz angebunden. Er warf mir einen selten bösen Blick zu.
"Ein Mensch?" Sam kam auf die Beine und zog sein silbern blitzendes Schwert aus der Scheide, das die Länge eines ausgewachsenen Mannes hatte.
"Sie ist eine Freundin. Es gibt nichts vor ihr zu befürchten." Ich spürte, wie die Luft vibrierte, als etwas über meinen Kopf hinweg rauschte - es war der Dornenschwanz des Gargoyles, der unkontrolliert durch die Küche peitschte.
"Vorsicht!" Emory duckte sich. Im gleichen Moment nahm ich einen dumpfen Schmerz wahr.
Ich lag auf dem Boden. Irgendwie war ich vom Stuhl gefallen und mit meiner Schulter gegen den Backofen geknallt. Während ich mich aufrappelte und resümierte, wie ich dorthingekomm war, sah ich einen langen Riss in der Glasscheibe der Ofentür. Na toll.
"Du Narr!", brüllte Emory den Gargoyle an. Nicht ganz unberechtigt. Wunden, die von Dornenschwänzen stammen, heilen nur langsam. Manchmal verlaufen sie für Dämonen oder Engel sogar tödlich. Mir wurde inzwischen klar, was geschehen war. Mein Onkel hatte mich mit einer Energieschockwelle außer Reichweite des Dornenschwanzes gebracht.
"Lass uns nach draußen gehen", befahl Emory barsch. Offenbar fürchtete er nicht nur um mich, sondern auch um die Einrichtung.
Wir schafften es, die Küche halbwegs unbeschadet hinter uns zu lassen. Auf dem Weg nach draußen ging allerdings ein Kristallleuchter kaputt.
Es dämmerte und Emory und ich nahmen im Vorbeigehen zwei Körbe mit Feuerholz hinaus - meiner Schulter ging es wieder gut. Wir hatten eine von Steinen ummantelte Feuerstelle auf der Wiese hinter der Scheune, um die zum Sitzen mit etwas Abstand nochmals Steine angeordnet waren. Ohne besondere Sorgfalt warfen mein Onkel und ich ein Paar Holzscheite in die Vertiefung der Feuerstelle. Ich kannte das bereits von meinen Besuchen auf dem Anwesen. An Halloween hockten wir jedes Jahr stundenlang hier draußen, aßen Folienkartoffeln und unterhielten uns. Johann, Dexter und seine Söhne und Töchter waren meist auch dabei gewesen. Sie waren allesamt manipuliert, damit sie unsere Geheimnisse nicht verraten konnten.
Wir waren kaum fertig, da meldete sich mit trotziger Miene Sam zu Wort. "Ich will das Feuer anmachen", knurrte er, vielleicht um sich abzureagieren.
Emory sah ihn scharf an, ließ ihm aber den Vortritt. Wir setzten uns. Sam beugte sich derweil über die Feuerstelle, krallte sich mit den Klauen der einen Pranke an den in der Erde verankerten, rußgeschwärzten Steinen fest, denn die andere hielt noch immer das Schwert umschlungen, dann holte er tief Luft und blies mit seinem Feueratem hinein. Im Handumdrehen brannte das Feuer lichterloh und der Gargoyle ließ sich zufrieden auf den größten der Sitzsteine sinken. Er rammte das Schwert mit der Spitze in die Erde und stützte seine wuchtigen, muskulösen Arme darauf. "Jetzt erzählt mal - immer schön der Reihe nach. Ich bin neugierig, wie das Buch in ein Kaff wie Henley Falls gekommen ist", richtete er das Wort an uns.
Damit hatte ich nichts zu tun und ich sah Emory an. Er beachtete mich jedoch nicht. Stattdessen sagte er offen heraus und mit fast schon herausforderndem Blick zu dem Gargoyle: "Lith hat es mir gegeben."
Das war allerdings eine Überraschung, denn Lith war meine Mutter.
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