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Tame und Maelor
Aufgewühlt ging ich zu meinem Jeep. Kenneth folgte mir, das wusste ich, aber es war mehr ein Gefühl als der Klang seiner Turnschuhe auf dem Boden. Er ging fast lautlos und viel zu geschmeidig für einen Jungen. Ich hatte ihn beobachtet. Dabei war mir aufgefallen, wie er sich bewegte. So etwas Anmutiges hatte ich bei einem Menschen noch nie gesehen.
Als ich sicher war, dass uns die anderen nicht mehr sehen konnten, wirbelte ich herum. Er stand nur eine Armlänge hinter mir, näher als erwartet, und ich keuchte überrascht auf. Mir war davor nicht bewusst gewesen, wie verletzlich er dreinblicken konnte.
"Tame", flüsterte er kaum hörbar.
Ich zwang mich, Fassung zu erlangen. "Hör auf, mir nachzulaufen", sagte ich sanft. "Bitte. Mein Leben ist gut und ich wil nicht, dass irgendjemand daran etwas ändert. Außerdem bist du soeben ein Held geworden und kannst jedes hübsche Mädchen haben, das du willst. Jedenfalls hübschere als mich. Was willst du da noch von mir?"
"Keine ist hübscher als du." Er war so direkt, dass mir der Mund offen stand und ich ihn würdelos anstarrte.
"Du bist ja verrückt", sagte ich zu ihm.
"Du hast recht. Ich muss dir dringend was über mich erklären."
"Dein Onkel will mich loswerden. Und wie es scheint, habt ihr einen sehr engen Draht zueinander. Besser, du belässt es dabei und hältst dich von mir fern."
Er lachte ungläubig, die Stirn in Falten gezogen. "Er will dich loswerden?"
"Ich sagte ja, dass er merkwürdig ist. Zuerst macht er mich öffentlich fertig, weil ich minimal zu spät gekommen bin, und heute setzt er dem noch die Krone auf, indem er mich ignoriert. Das ist ein sehr mittelalterliches Verhalten für einen Dozenten", zählte ich auf; ich musste es einfach rauslassen, auch auf die Gefahr hin, dass er mich danach für eine zart besaitetete Tussi hielt.
"Du hast dich auf den Kurs vorbereitet, oder? Ich kann verstehen, wenn du jetzt enttäuscht bist." Mitfühlend seufzte er und es kam aufrichtig rüber, nicht eine Spur von Herabwürdigung in seinem Ausdruck. "Glaub mir, du überschätzt den guten Emory gewaltig. Er würde nie etwas tun, das mich verletzt. Ich mag dich, Tame, das bedeutet auch ihm was. Muss ich noch mehr sagen?"
Erneut war ich wie vor den Kopf gestoßen. Hatte ich alles nur überbewertet? Womöglich war ich ja so erschrocken darüber, dass Emory Foster, der Halloween-Schreck, Mystische Geschichte unterrichtete, dass ich total am Ausflippen war.
"Du wolltest mir was erklären", fiel mir da wieder ein.
"Ja", sagte er nur, eine leichte Spur der Verunsicherung in seinem Ton.
"Dann los. Erklär mir, wieso das Buch weg war, als ich in die Bibliothek kam." Da urplötzlich alles wieder in mir hochkam, was mich in letzter Zeit so verunsichert und beschäftigt hatte, verschränkte ich die Arme vor der Brust. Es sollte keine trotzige Abwehrhaltung sein, sondern einfach nur ein Anker, an dem ich mich festhalten konnte. Meine Arme locker baumeln zu lassen, erschien mir nicht passend bei meiner inneren Anspannung.
Er schien kurz zu zögern, in Windeseile zu überlegen, dann lächelte er mir zu. "Darf ich dich dazu zum Essen einladen?"
Weil ich ohnehin nichts Besseres vorhatte und endlich weiterkommen wollte, willigte ich mutwillig ein. Ich war tatsächlich hungrig geworden, außerdem war es wie immer sehr schwer, diesem umwerfend schönen Menschen etwas abzuschlagen.
Wir fuhren mit meinem Jeep zum Drive-in, um uns mit Burgern, Salaten, Kaffee und Saft zu versorgen; Kenneth reichte mir ein großzügiges Trinkgeld für die Kassiererin rüber. Danach ging es mit unserer Ausbeute auf direktem Weg zur äußersten Landgrenze des Foster Anwesens, wo wir über den Zaun kletterten, uns im Schatten einer Baumgruppe auf einen großen, von der Sonne angewärmten grauen, glatten Felsen hockten und unser Essen verspeisten. Beeindruckt stellte ich fest, wie schön es hier war. Absolut ruhig und friedlich. Um uns herum nur Wiesen, sanfte Hügel und alte, knorrige Bäume. In der Ferne grasten verschiedenfarbige Pferde umbegen von intakter Natur, die wie ein bunter Flickenteppich meine Augen faszinierte. Mir war nie bewusst gewesen, wie riesig das Land von Emory war.
"Du wolltest mir was erklären", drängte ich vorsichtig, nachdem ich mir langsam aber sicher den Bauch mit Essen vollgeschlagen hatte.
Kenneth sah in die Ferne. Ich wartete auf eine Antwort von ihm und beobachtete, wie er ruhig atmend neben mir saß. Die Krone eines riesigen Baums über unseren Köpfen warf malerische Schatten auf sein unergründliches Gesicht.
"Gut, dann werde ich den Anfang machen", brachte ich schweren Herzens hervor. Es fiel mir wahrlich nicht leicht, aber was gesagt werden musste, konnte ich nicht länger zurückhalten. Ich hatte - für mein Empfinden - schon zu lange damit geschwiegen. "Du wirkst auf mich nicht gewöhnlich. Genau wie dein Onkel. Er ist einer von der 'alten Schule', wenn man das heute noch so sagt. Darüber hinaus ist er unglaublich streng. Ernsthaft, wir belegen hier Sommerkurse, um Spaß zu haben, um uns die Zeit zu vertreiben und um Leute kennenzulernen. Noch dazu, wenn es sich dabei um Mystische Geschichte handelt, was nicht gerade der Burner für ein weiterführendes Studium ist."
Stutzend warf er mir von der Seite einen Blick zu, als wollte er prüfen, ob ich vertrauenswürdig war. "Es war nur ein Versehen", sprach er mit Bedacht aus. "Du hast Emory überrascht und er konnte seine Gefühle nicht kontrollieren. Das Problem gibt es in meiner Familie leider häufiger."
"Kannst du sie kontrollieren?", fragte ich direkt und schluckte. Seine Wortwahl machte mich nervös, obwohl ich neugierig war und mir nicht mal ansatzweise vorstellen konnte, was das zu bedeuten hatte.
"Was?" Er war sichtlich geschockt aufgrund meiner Offenheit.
"Beantworte einfach meine Frage, Kenneth. Kannst du sie kontrollieren?", sagte ich deutlich.
"Bis jetzt schon", gab er schwach grinsend zu.
Leise atmete ich auf. Ehrlich gesagt war ich ziemlich erleichtert. Ich wusste, dass er und sein Onkel besonders waren. Es war eigenartig, aber es musste einfach so sein. Wie besonders? Ich hatte absolut keine Ahnung. Emory für sich war schon ein schwerer Fall von Andersartigkeit. Den Rest der Familie wollte ich gar nicht erst kennenlernen. Was ich wollte, waren Antworten, mit denen ich etwas anfangen konnte. Ich musste also Nachforschungen anstellen.
"Das Buch war weg, als ich in die Buchhandlung zurückkam. Ich wollte es kaufen, aber es war nicht mehr da. Prudence hat dich nicht reinkommen sehen und 'Fallen Stars' ist auch kein Buch, das sie führt. Wie hast du es gemacht?", überfiel ich ihn, und ich war noch lange nicht fertig. "Ich hab dir gesagt, dass ich mein Leben gut finde. Ich liebe es und jeder, der mir dazwischen funkt, ist nur ein Hindernis für mich, auf das ich gut und gerne verzichten kann. Du hast mir von dem Buch abgeraten und doch wolltest du auf eine verklärte Weise, dass ich es lese."
Er glitt unvermutet vom Felsen hinunter und ich hielt unweigerlich inne, sah ihn einfach nur an. Was ich sah, gefiel mir immer besser. Kenneth war, so wie er sich mir präsentierte, von Kopf bis Fuß ästhetisch vollkommen.
"Als ich klein war, erzählten mir meine Mutter und mein Onkel immer ein und dieselbe Geschichte", fing er dann an, lehnte sich mit dem Rücken zu mir gegen den Felsen und verschränkte hinter dem Kopf, der über den Felsen ragte, seine Hände. Gebannt starrte ich die perfekt geformten Finger an. "Die Erde ist nur einer von unendlich vielen Planeten im Kosmos. Meteoriten reisen durch ihn hindurch, bis sie von einem Ort angezogen werden, mit ihm kollidieren oder auf ihrer Reise vollständig verglühen. Ihr Weg ist oft unendlich weit. Sie nehmen Energie in sich auf und geben Energie ab. Manchmal gelangte in der Vergangenheit etwas von dieser kosmischen Energie auf die Erde und tat dort ihre Wirkung. So haben sie es mir immer und immer wieder eingebleut. Bis ich zu alt dafür wurde." Er unterbrach sich und schwang unter Zuhilfenahme eines Arms seinen Körper athletisch neben mich auf den Fels. Nun stand er vor mir und sah abwägend auf mich hinab. "Ich ging auf eine normale Schule mit normalen Kindern. Aber mit dieser Geschichte wollten sie mir zeigen, dass ich, obwohl ich anders bin, meinen Platz hier auf der Erde habe. Meine Familie ist sehr alt, Tame. Wir haben Kräfte, die uns stärker als andere Menschen machen. Ich glaube, keiner weiß wirklich, woher diese Kräfte kommen, aber wir wissen, dass sie nur sehr selten vorkommen. Vielleicht wurden sie ja bei der Geburt eines Sterns frei und sind über Umwege auf die Erde gelangt. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls sind sie da und ich habe sie. Genau wie meine Mutter und Emory. Das Einzige, was uns drei unterscheidet, ist unsere Natur, unser Temperament, was im übertragenen Sinne nichts anderes ist, als das, was die Menschen als gut und böse bezeichnen, engelsgleich und dämonisch. Engel tendieren zur Sanftmut und dazu, ein Gleichgewicht zu schaffen, Dämonen dagegen zur Herrschsucht und zum Chaos. Aber auch sie sorgen auf ihre Art für ein Gleichgewicht. Und dann gibt es Mischwesen wie mich. Ich bin beides, zur Hälfte Engel, zur Hälfte Dämon. Darum fällt es mir in der Regel leichter, mich zu kontrollieren, als einem Wesen mit reinem Dämonenblut. Manchmal jedoch spüre ich etwas Dunkles in mir auflodern, das Chaos und Zerstörung will. Aber bisher konnte ich diese Seite immer bekämpfen."
Zurückhaltend und mit klopfendem Herzen hörte ich mir alles an. Ich war zugegeben fasziniert, als er fertig war. Ob das alles auch einen Sinn ergab oder nicht, wagte ich fast nicht infrage zu stellen. Ich spürte einfach, dass es so sein musste. Daher fragte ich mich vielmehr, warum den anderen Menschen nichts auffiel. Vielleicht beobachteten sie ihre Umgebung ja nicht so aufmerksam wie ich, dachte ich. Oder sie waren nicht bereit, sich dem Übernatürlichen zu öffnen - hatte nicht Holly mir vorgeworfen, dass ich mich endlich richtig auf einen Jungen einlassen sollte? Ich mutmaßte, dass sie nicht ganz so glücklich damit wäre, wenn sie wüsste, wie ich ihren Rat umsetzte.
"Du lächelst ja", stellte Kenneth verunsichert fest.
"Ja, sieht wohl so aus. Ich bin zwar kurz vor dem Hyperventilieren, aber sonst geht's mir gut. Hat Emory die gute oder die böse Seite abgekriegt?"
Ich konnte selbst nicht fassen, dass ich das gesagt hatte; dass ich unser Gespräch tatsächlich wieder auf Emory zurückgebracht hatte. Aber es war alle Mal besser, als kreischend davonzulaufen. Mit einem Dämonen und seinen übernatürlichen Kräften konnte ich ohnehin nicht mithalten und schon alleine der Versuch würde mich ziemlich kläglich nach Versagerin aussehen lassen.
"Emory ist ein Dämon. Aber er hat sich im Griff. Meistens."
Seine leicht verzerrte Antwort bestätigte meine Vermutungen. Ich sah ihn skeptisch an. "Wenn du etwas so sagst, ist es nicht überzeugend. Du musst dich mehr anstrengen, wenn du deine Familienehre retten willst."
Ein bitteres Schnauben entfuhr ihm, verärgert über sich selbst. "Vermutlich", stimmte er mit schwankender Tonlage zu.
Säuerlich bahnte sich mein Wunsch nach Gerechtigkeit nach oben. Ich wollte Aufklärung und wurde ihm gegenüber langsam wieder etwas mutiger. "Du bist also ein halber Dämon? Ein Ding, das für Chaos sorgt?", hakte ich sicherheitshalber nochmal nach. Das Atmen fiel mir etwas schwer, aber Kenneth verstand mich schon.
"Ich finde, Halbdämon klingt besser."
"Das ist doch egal! Du bist neu in der Stadt und seit du hier bist, hat es zwei Unfälle gegeben. Beide Male hat es jemand von unserer Schule erwischt, einer von ihnen ist sogar gestorben. Mit seiner Verlobten zusammen. Er war ein guter Mensch. Er war unser Dozent für Mystische Geschichte, für den jetzt dein Onkel einspringt. Das ist übrigens ein bemerkenswerter Zufall, wenn du mich fragst. Beim zweiten Mal ist ein Junge angefahren worden, der ein Freund von mir ist. Wie willst du das erklären? Mit einem Ausrutscher?"
"Warte mal. Du denkst, ICH habe das gemacht?" Er wirkte fassungslos mit seinen weit aufgerissenen Augen und versetzte mir so einen sehr schmerzlichen Stich in der Brust.
"Nein", entgegnete ich schnell. "Nein, ich denke, das ist vielmehr Emorys Gebiet. So kenne ich ihn schließlich."
"Du weißt nicht, was du da sprichst, Tame", sagte er händeringend und setzte sich blitzschnell neben mich auf den grauen, glatten Felsen. "Emory würde nicht einfach so einen Menschen verletzen. Deshalb ist er im Unterricht ja auch rausgegangen, bevor er jemanden verletzen konnte. Vielleicht hat er sich von dir brüskiert gefühlt. Dämonen und Engel spüren Emotionen viel stärker als ihr; wir haben sozusagen einen übernatürlichen Sinn dafür."
"Das ist eine echt müde Ausrede. Ich dachte mir schon die ganze Zeit, dass er anders ist. Als er dann den Projektor heranholte, war das wie ein Zeichen. Ich fühlte mich bestätigt", kommentierte ich kühl.
Kenneth runzelte die Stirn. "Keine Ausrede. Was genau hast du während des Unterrichts gedacht?"
"Spielt das eine Rolle? Emory hat bewiesen, dass er durchgeknallt ist. Der Projektor ist jedenfalls erst mal hinüber."
"Schön, was den Projektor angeht, hast du recht. Aber Emory hatte es nicht auf dich abgesehen. Der Projektor war nur ein Ventil, eine Ablenkung. Behalte nächstes Mal einfach deine Gedanken für dich, ja? Vertrau mir, Tame. Emory ist sehr stark. Ich verspreche dir, dass er dir nichts tun wird."
"Wer ist dann für die Unfälle verantwortlich? Hast du eine Erklärung dafür?"
Er rang mit sich, ich konnte es deutlich sehen. Als er dann antwortete, waren es schwere, zähe Worte, die aus ihm herausflossen. "Es ist mein Vater. Aldon, so heißt er, ist ebenfalls ein Dämon - ein viel schlimmerer."
Niedergeschlagen senkte er den Kopf. Nur eine Sekunde später sah er mich wieder an, ein Hoffnungsschimmer in seinen grünen Augen, und ich war so befangen, dass ich schlicht und ergreifend nichts sagte.
In diesem Moment erinnerte ich mich daran, wie er mir erzählt hatte, dass er erst hergezogen war. Er hatte offenbar alles hinter sich gelassen, was sein bisheriges Leben bestimmt hatte; es musste sehr schwer für ihn sein und da ich ihn irgendwie tief in mir drinnen mochte, hatte ich Mitleid mit ihm.
Ich atmete lange ein. "Aldon." Der Name brannte auf meiner Zunge. Ich war wütend auf jemanden, den ich nicht kannte. Jemanden, den ich nicht kennenlernen wollte. "Aldon ist also Schuld an allem. Nicht Emory und nicht du. Ist das die Wahrheit?"
"Die Wahrheit ist", sagte er stockend, "dass diese Dinge nicht passiert wären, wenn ich in New York geblieben wäre. Er ist meinetwegen hergekommen."
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