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Tame und Maelor

"Tame, du kommst noch zu spät!", rief meine Mutter munter die Treppe rauf.
"Ja!", rief ich knapp zurück.
Ehrlich jetzt? Meine Mom war viel aufgeregter als ich damals an meinem ersten Schultag auf der High School. Dabei waren es nur die Sommerkurse, die jetzt anfingen. Die bekanntlich nur belegt wurden, um neue Leute kennenzulernen, wie mir Holly weismachen wollte. Und daran musste ich auch beim obligatorischen Abschiedskuss auf die Wange denken. Ich umarmte meine Mom und grinste. "Hab dich lieb."
Im Auto dann wurde ich erstmals leicht nervös. Total überflüssig natürlich. Nur weil zwei Menschen von meiner Schule in so kurzer Zeit ein Unglück widerfahren war, hatte das nicht gleich eine Bedeutung. Ich hatte zwar oft darüber nachgedacht, aber es ergab alles keinen Sinn. Schon gar nicht einen Zusammenhang.
Eben. Du belegst einfach nur einen Sommerkurs, sagte ich mir laut vor.
Ich stand an einer Ampel und mir war, als würde mich jemand beobachten. Jemand in einem offenen Cabriolet, wie ich gleich darauf bemerkte.
"Was?", zischte ich durch mein zur Hälfte herabgelassenes Fenster.
Der Mann in dem Cabriolet zog seine Augenbrauen zusammen, hatte aber so viel Anstand, wegzusehen. Nun konnte ich mich wieder meinen verklärten Gedankengängen widmen.
Tapp, tapp, tapp.
Ich trommelte ungeduldig mit den Fingern aufs Kenkrad und wartete darauf, dass es grün wurde. Blöde Ampel. Ich war ohnehin schon spät dran. Dann, endlich, schaltete sie um. Das grelle grüne Licht blendete mich und ich war bemüht, nicht an Kenneth zu denken, um nicht abgelenkt zu werden. Diese Augen ...
Mich schüttelnd fuhr ich los. Wahrscheinlich kam mir alles nur etwas komisch vor, weil Holly nicht dabei sein würde, sinnierte ich. Wir hatten in der Schule immer nebeneinander gesessen und hatten wie klassisch beste Freundinnen alles zusammen gemacht. Aber gut, du wirst jetzt erwachsen, beruhigte ich mich weiter, da kann Holly nicht ständig dein Händchen halten.
Schwungvoll bog ich auf den Parkplatz ein, stellte mein Auto ab und packte meinen Rucksack. Absperren war ja nicht mein Ding und da ich dafür sowie keine Zeit mehr hatte, hielt ich mich nicht unnötig damit auf. Ich rannte los, froh über die Wahl der Turnschuhe, die ich heute Morgen getroffen hatte. Beim schwarzen Brett hielt ich kurz an und suchte nach der Liste mit den Klassenräumen für die Ferienkurse. Ich kannte den Schulgebäude-Komplex in- und auswendig, so dass ich auf direktem Weg zu dem Klassenzimmer mit meinem Kurs weiterlaufen konnte. Keuchend kam ich an und jubelte in mich hinein: Fast pünktlich!
Ich sammelte mich, drückte die Klinke, trat ein -
Und wäre am liebsten fast rückwärts wieder gegangen.
Nein. Dies war nicht normal, denn dafür waren in letzter Zeit schon zu viele merkwürdige Dinge geschehen. Es war der neu zum Leben erwachte Albtraum meiner Kindheitserinnerungen.
"Sie sind dann wohl Miss ...", empfing mich eine scharf schneidende Stimme. Mein Magen zog sich zusammen und mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Das hatte ich so nicht erwartet.
Leicht panisch versuchte ich mich zu beruhigen. Tief durchatmen, Tame.
Der Mann, der gesprochen hatte, stand mit dem Gesicht zu mir gewandt vor der Tafel. Als ich seinem Blick begegnete, machte er eine kunstvolle Pause und zog mit seinen Fingern vom Pult eine Namensliste zu sich heran; es war niemand geringerer als Emory Foster, der Besitzer des gruseligen Foster Anwesens. Und ich starrte ihn entgeistert an. Konnte es noch schlimmer werden?
"Theresa Jayden, aber ich werde Tame genannt", brachte ich dann doch noch mit zartem Stimmchen hervor.
Emory Fosters Züge blieben ausdruckslos auf mir ruhen. "Schön. Sie sind zu spät."
Wortlos nickte ich, um die peinliche Situation nicht weiter hochzuschaukeln. Wozu mit ihm diskutieren? Ich war minimal zu spät gekommen, aber die Zeit zurückdrehen konnte ich nicht. Genauso wenig, mich in Luft auflösen.
Da ich aus seiner Sicht definitiv im Unrecht war und nicht gleich am ersten Tag negativ dastehen wollte, steuerte ich also zum nächstgelegenen Stuhl, einem unliebsamen Platz in der ersten Reihe, als mich der nächste Schock ereilte.
Wumm.
Wie von einem hinterhältigen Schlag ins Gesicht getroffen, zuckte ich zusammen: Ich hatte einen Jungen mit leicht gewelltem, dunklem Haar und fast schon unnatürlich grünen Augen erblickt. Kenneth.
Ich wollte mich wirklich nicht unbeliebt machen, aber mir fiel seine anziehende Präsenz auf und so starrte ich ihn an. "Kenneth?"
Kenneth lächelte zurück. "Hi."
Ein leises Raunen war von den weiblichen Schülern zu hören. Gut gemacht, Tame. Da ich soeben zugegeben hatte, den heißen Neuzugang zu kennen, über den bereits die ganze Stadt Bescheid wusste, war ich ab sofort eine Geächtete an meiner Schule. Doch es war unmöglich, jemanden, dessen Gesicht so perfekt geschnitten und dessen ganze Erscheinung so anziehend war, in dieser kleinen Klasse zu übersehen. Da würde einfach jedes Mädchen schwach werden.
Freundlich, aber kaum merklich lächelte Kenneth immer noch in meine Richtung, etwas, das ihn deutlich von seinem Onkel unterschied, obwohl ihre kantigen Gesichter eine unübersehbare Ähnlichkeit aufwiesen.
Der Ältere der beiden Fosters war eindeutig kaltblütiger als der Jüngere, denn er sah so penetrant zu mir rüber, dass ich seinen bohrenden Blick förmlich auf mir spüren konnte. Emory Foster, der Schrecken einer jeden Halloween-Nacht in Henley Falls, hatte eine vollkommen aufrechte, nahezu steife Haltung und strahlte eine mir befremdlich vorkommende Unnahbarkeit aus, die ihn von seinem höflichen Neffen abgrenzte wie bei zwei Menschen, zwischen denen tausend Jahre Geschichte lagen. Er besaß den Körperbau eines zähen Asketen, trug einen perfekt sitzenden schwarzen Anzug und war, wie schon ein paar Jahre zuvor, eine furchteinflößende Erscheinung, unter der man beim bloßen Blickkontakt zusammenschrumpfte. Emory mochte vielleicht so alt wie mein Vater sein; das und der Anzug war aber auch schon alles, was ihn in unsere Zeit passen ließ. Er war ein Relikt, eine aussterbende Sorte Mensch, die es heute höchstens noch in gruseligen alten Filmen zu sehen gab.
Während ich mir meinen Stuhl zurechtrückte, fühlte ich mich von beiden Fosters gleichermaßen beobachtet. Kenneth hinter mir amüsierte sich wahrscheinlich prächtig, ohne es sich anmerken zu lassen, sein Onkel dagegen machte einen äußerst mürrischen Eindruck auf mich. Anscheinend hatte ich erheblichen Anteil an seiner düsteren Stimmung, denn er sah auch noch in meine Richtung, als er mit seinem Vortrag darüber begann, was uns in seinem Kurs erwarten würde. So passierte es selbstredend, dass ich abgelenkt war.
Willkommen im Sommerkurs für Mystische Geschichte. Danke Holly.

© OakBark
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