Kapitel 23 - Avery (neu!)

Wie so oft in den letzten Tagen, konnte ich nicht schlafen und lag deshalb wach. Meine Gedanken hielten mich wach und obwohl mich das sanfte Meeresrauschen, das durch die geöffnete Balkontür zu mir hereindrang mich schläfrig machte, war ich innerlich viel zu aufgewühlt. Der Mond schimmerte immer wieder durch die weißen Vorhänge hindurch und der leichte Wind brachte den Geruch von Salz und Meer mit sich. Ich seufzte und drehte mich auf die Seite. Ich musste an Giulia denken, die jetzt vermutlich auch wieder wach lag.

In diesem Moment ertönte ein Schrei und ich fuhr augenblicklich hoch. Scheiße was war denn das gewesen?
Zuerst dachte ich an Mord und Totschlag, doch dann ertönte nochmals ein quälendes Geräusch und mir wurde bewusst, dass es von neben an kam. Von Tyler...
Ohne nachzudenken stand ich auf und schlich barfüßig hinaus auf die Terrasse. Vor der ebenfalls geöffneten Balkontür zögerte ich einen Moment, doch dann schob ich die Vorhänge zur Seite.
Ich schluckte als ich Tyler im Bett liegen sah. Er schien zu träumen, denn seine Augen waren geschlossen und hinter seinen Lidern zuckte es. Sein Gesicht wurde vom Mond beleuchtet und auf seiner Stirn bildeten sich Schweißtropfen, während sein gesamter Körper bis zum zerreißen angespannt war. Seine Kiefermuskeln stachen so stark hervor und als er, ohne sich zu bewegen, ein quälendes Geräusch von sich gab, musste ich dem ganzen ein Ende setzten. Vorsichtig trat ich näher und rüttelte leicht an seiner Schulter. Augenblicklich fuhr er hoch und packte mich so fest, dass ich vor Schmerz leise aufstöhnte. Doch als mein Blick in seine Augen fiel, wusste ich, dass ich jetzt nicht gehen , geschweige denn mich währen durfte. Ich erkannte jede einzelne Emotion darin.
Schmerz.
Schuld.
Selbsthass.
Scham.
Angst...
Das letzte Gefühl überrumpelte mich am meisten. Tyler Black hatte keine Angst...
Er atmete heftig, während sein Griff fester wurde. Sein Blick schien noch immer weit weg, denn ich hatte das Gefühl er sah durch mich hindurch.
"Tyler...Ich bins. Avery."Meine Stimme zitterte, weil die Situation mich so beängstigte. Er schluckte und sein Griff wurde weicher. Langsam schien er richtig aufzuwachen, denn sein Blick klärte sich und wurde fest.
"Scheiße, was machst du hier?"Als habe er sich verbrannt, lies er mich los und fuhr sich über sein schweißnasses Gesicht.
"Du hast im Traum so laut geschrien, dass ich es gehört habe und da dachte ich..."Er unterbrach mich harsch.
"Ja, was dachtest du dir da?Dass du mich mitten in einem Albtraum wecken musst?"Ich fuhr zurück und spürte einen Stich in meiner Brust, weil er mich schon wieder so von sich stieß. Mittlerweile war mir klar, dass er irgendetwas erlebt haben muss, dass er noch nicht verarbeitet hatte, doch es tat trotzdem weh, vor allem wenn man ihn auch anders kannte.
"Ich wollte doch nur nicht..."Ja, was wollte ich eigentlich? Als ich ihn so schreien gehört hatte, wollte ich ihm einfach nur helfen.
"Was wolltest du nicht, mmh?"Fuhr er mich erneut an und richtete sich währenddessen aggressiv  auf. Ich wich einen Schritt zurück, doch nicht weil er so bedrohlich wirkte, sondern weil in diesem Moment die Decke gänzlich von seinem Oberkörper rutschte und seine nackte Haut darunter hervorkam. Mein Herzschlag setzte für einen Moment aus, als ich die Narben sah...Auf seinem gesamten Oberkörper waren tiefe Furchen und Brandnarben. Kaum ein Hautstück war noch unverletzt, nur einige Tattoos verdeckten die größten Narben, sodass man sie nur noch erahnen konnte.
Als mein Blick wieder in seine Augen fiel erkannte ich darin...gar nichts mehr. Er war so kalt und als er die Decke mit einem Ruck wieder hochzog und somit seinen Körper verdeckte, wusste ich das ich einen Fehler begangen hatte, als ich rübergekommen war.
"Raus!Verschwinde!"Fuhr er mich an und ich zuckte zurück, spürte eine heiße Träne auf meiner Wange und öffnete den Mund um irgendetwas entschuldigendes zu sagen, doch als er mich ansah, wusste ich das ich gehen sollte.
Und das tat ich. Als wäre der Teufel hinter mir her stürmte ich aus dem Zimmer und erreichte über die Wendeltreppe den Garten.
Tränen überströmten mittlerweile mein ganzes Gesicht und in mir zersprang etwas, während ich nur das Bild von seinem Oberkörper vor mir hatte.
Irgendwann erreichte ich den kleinen Strand und lies mich in den Sand fallen. Ich froh leicht, weil der Wind die warme Nachtluft bewegte, doch es war mir egal.
Mit dem Kopf auf den Händen abgestützt beobachtete ich wie der Himmel sich am Horizont langsam begann zuerst hellblau und dann rot zu färben, während die aufgehende Sonne die Nacht langsam vertrieb. Meine Tränen versiegten irgendwann aber das schmerzliche Gefühl, als hätte mir jemand etwas entrissen, blieb. Es machte mir klar, wie eng die Bindung, die ich zu Tyler in den letzten Wochen und vor allem in der Zeit in der ich am Boden war und er der Einzige war, der da war, geworden ist.  Ich erinnerte mich an all die vertrauten Momente, in denen er seine Gefühle zugelassen hatte und mir zeigte wer er wirklich war. Ich schluckte das Gefühl des Verlustes herunter und versuchte mir einzureden, dass er diesem Moment vielleicht wieder vergessen würde, doch mein Bauch sagte mir etwas anderes. In diesem Momenten wo ich hinter seine Facette blicken durfte, war es weil er es erlaubt hatte. Jetzt war ich unerlaubt in seine Privatsphäre eingedrungen und hatte etwas gesehen, was er sonst so gut gewusst hatte zu verstecken. Ich war zu weit gegangen....Auch wenn ich das nie gewollt hatte.

An diesem Tag verließ ich den Raum nicht. Ich verkroch mich in meinem Bett und kämpfte neben der Sache mit Tyler auch noch mit der Tatsache, dass in vier Tagen der Todestag von Chris war. Ich hatte es versucht so lange wie möglich zu verdrängen, doch jetzt holte mich die Realität rasend ein. Obwohl es jetzt schon neun Jahre waren, schmerzte es noch immer genauso. Neun mal hatte ich diesen Tag schon überstanden. Ich würde ihn auch dieses Mal wieder überstehen. Unter all diese großen Sorgen mischte sich meine Angst vor dem ersten Schultag und egal wie sehr ich versuchte mich im Griff zu behalten, nachdem was in der Nacht passiert war, war das unmöglich.
Meine Gedanken kreischten laut in meinem Kopf, redeten durcheinander und vermischten sich mit Erinnerungen. Während ich an Chris dachte, fragte ich mich was Tyler wohl passiert war und während ich an seine Narben dachte, pochte mein eigener Körper , der nur zugut wusste wie es sich anfühlte misshandelt zu werden. Auch wenn seine Narben von noch etwas viel schlimmeren sprachen.

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