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Beim Mittagessen traute ich mich dieses Mal an etwas Neues heran und probierte Lasagne. Ich hatte noch nie etwas so Gutes gegessen. Am liebsten hätte ich eine zweite Portion bestellt, doch da ich nicht wusste, ob das erlaubt war, ließ ich es sein. Eigentlich hatte ich sowieso mehr als genug gegessen.

Nach dem Essen sah ich auf die Uhr und stellte fest, dass es schon halb drei war. In einer Stunde würde der zweite Test stattfinden. Intelligenz.

Meine Mutter war früher Beta, deswegen war sie zur Schule gegangen und hatte mich eine Zeit lang zu Hause unterrichtet. Gammas hatten nämlich kein Geld für schulische Bildung. Dennoch - oder eben gerade deswegen - sah ich dem Test recht optimistisch entgegen.

"Gehen wir ins Zimmer?", fragte ich Lia, um mich von dem Gedanken abzulenken.

Sie schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. "Savannah geht mir auf die -" Sie brach ab und schaute sich hektisch um. Als sie eine kleine, schwarze Kameralinse in der rechten oberen Ecke des Raums sah, sah sie mich einen Moment lang schweigend an.

"...Giraffe", stieß sie dann plötzlich hervor. "Sie geht mir auf die Giraffe."

Es kostete mich meine ganze Selbstbeherrschung, nicht laut loszuprusten. "Auf die was?"

"Die Giraffe", antwortete sie überdeutlich, als wäre ich schwer von Begriff. "Der Slang-Ausdruck der Gammas für Sie ist wirklich nett, aber ich will sie jetzt nicht stören, weil ich glaube, dass sie lieber ihre Ruhe haben möchte, erinnerst du dich?"

Ich nickte schnell und konnte nur hoffen, dass wer auch immer da hinter der Kamera saß meiner besten Freundin glaubte.

"Wir könnten in den Aufenthaltsraum gehen und ein Kartenspiel oder so was spielen", schlug ich vor, um die Stille, die daraufhin zwischen uns herrschte, zu durchbrechen.

"Gute Idee", stimmte sie sichtlich erleichtert zu.

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Die Zeit verstrich schnell, schon bald war halb Vier und wir gingen zurück in den großen Saal. Von dort aus folgten wir Crystal in den Warteraum.

Wieder musste ich eine Ewigkeit warten.

"Das ist so was von unfair dass die Alphas immer bevorzugt werden. Wetten die haben auch grössere Zimmer?", beschwerte sich Deanna, die neben mir sass. Am liebsten hätte ich sie für ihre unüberlegte Äußerung zurechtgewiesen - bestimmt wurden wir auch hier überwacht. Und so was zu sagen brachte einem sicher keine Pluspunkte ein. Doch ich ließ es bleiben. Deanna war meine Freundin und ich wollte nicht, dass sie sich schlecht fühlte.

Sie geht mir auf die... Giraffe., fiel mir Lias Satz von vorhin wieder ein und ich wusste nicht, ob ich lachen oder besorgt sein sollte.

Einmal trafen sich Jase' und mein Blick zufällig, doch ich schaute schnell weg. Er sah gut aus, diesen Gedanken konnte ich nicht verhindern. Doch für ihn war ich ohnehin nur eine namenlose Gamma, die es nicht verdiente, überhaupt angesehen zu werden. Ich ballte die Hände zu Fäusten und hoffte, dass die Kameras das nicht einfingen. Wie ich die Arroganz der Alphas verabscheute.

Schliesslich kam endlich ich dran.

Im Raum, es war die zweite Tür von links, warteten Crystal, ein Mann mit blonden Haaren und blauen Augen (ich habe keine Ahnung, warum ich das überhaupt noch beschreibe. Waren doch eh alles Alphas da drin) und ein gepolsterter, leicht nach hinten geneigter Stuhl auf mich. Oben an dem Stuhl war eine Art Haube befestigt. Er erinnerte mich irgendwie an ein modernes Folterinstrument.

"Ich bin Xander. Setz dich bitte auf den Stuhl", bat mich der Mann. Er wirkte jung, jünger als Crystal, trotzdem war er mir auf Anhieb unsympathisch. Weil er ein Alpha war.

Dennoch tat ich, was er sagte. Als ich auf dem Stuhl lag, trat er neben mich und setzte mir die Haube auf. Der Kunststoff fühlte sich kühl auf meiner Haut an.

"Ich schalte den Stuhl jetzt an. Bist du bereit?", fragte Xander.

"Ja", antwortete ich und versuchte, selbstsicher zu klingen.

Ein leises Surren ertönte und ein Kribbeln ging durch meinen Körper. Kurz wurde mir schwarz vor Augen, doch dann war es vorbei und Xander nahm die Haube von meinem Kopf.

Crystal hielt mir ein Glas Wasser hin. "Keine Sorge, das ist bei allen so", beruhigte sie mich, als sie meinen verschreckten Gesichtsausdruck bemerkte. "Die Technologie ist noch nicht ganz ausgereift." Trotzdem verharrte ihr Blick einen kurzen Moment zu lange auf mir.

Ich wusste nicht, ob ich ihren Worten Glauben schenken sollte, doch ich fragte nicht nach. Stattdessen verließ ich den Raum, so schnell wie meine zitternden Beine es zuließen.

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Der Intelligenztest war schon wieder beinahe vergessen, als ich an diesem Abend vor dem Spiegel stand und mir die Zähne putzte. Ich war fast fertig, als Lia hereinkam und fast ihre Zahnbürste fallen ließ. Als ich hochschaute, um sie anzusehen, erkannte ich im Augenwinkel mein Spiegelbild.

Zuerst hielt ich es für einen Fleck auf dem Spiegel, doch als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass es wirklich passiert war. Das, was ich die ganze Zeit befürchtet hatte.

Das Mädchen im Spiegel hatte zerzauste, blonde Haare, leichte Schatten unter den Augen, hervorstechende Wangenknochen, ein schmales Gesicht. Und ein blaues und ein braunes Auge.

Lia sah mich mit großen Augen und sie so erschrocken zu sehen, machte meine Angst noch größer. "Du hast eine Kontaktlinse verloren", flüsterte sie.

Mir fiel der Blick wieder ein, mit dem mich Crystal beim Intelligenztest angesehen hatte.

Nein.

Nein.

Nein.

Das durfte nicht passiert sein.

"Was mache ich denn jetzt?" Meine Stimme klang schrill und die Worte kamen lauter als gedacht aus meinem Mund. So laut, dass Caitlyn die Badezimmertür öffnete und hineinschaute.

"Alles okay?", fragte sie.

Ich versuchte vergeblich, mein Gesicht zu verbergen. Caitlyns Blick fiel auf meine Augen und es dauerte einen Moment, bis sie es begriff. "Kontaktlinsen?", flüsterte sie. "Oh. Du bist klug."

"Aber nicht klug genug, um sie nicht zu verlieren", entgegnete ich bissig.

Caitlyn atmete tief ein und wieder aus. Dann nahm sie die Sonnenbrille ab und blaue Augen kamen zum Vorschein. "Ich will nicht, dass die Leute mich ansehen wie eine zukünftige Alpha", erklärte sie, als sie meinen fragenden Blick bemerkte. "Das bin ich nicht. Das will ich nicht sein. Aber ich glaube, wenn du dich von diesem System freiwillig gefangen nehmen lassen willst, dann musst du einen guten Grund dafür haben."


Ich nahm die Sonnenbrille, die sie mir hinhielt, entgegen und setzte sie auf. "Meine Mutter ist krank", sagte ich. "Und wenn ich eine Alpha werde, kann ich genug Geld verdienen, um die Medikamente für sie zu bezahlen."

Caitlyn lächelte. "Das ist ein guter Grund. Behalte sie, bis der Test zu Ende ist. Den Test des Aussehens hast du ja schon hinter dir, nun sollte es niemanden mehr interessieren, ob man deine Augen sieht."

"Danke", flüsterte ich.

An diesem Abend schlief ich lange nicht ein. Lag nur da, die Augen geschlossen, und tat so, als würde ich schlafen, weil ich Angst hatte, dass ich sonst auffiel. Doch wahrscheinlich war ich ja schon aufgefallen.

In meinem Kopf spielte sich der Intelligenztest wieder und wieder ab. Crystals Blick. Sie hatte es gesehen.

Jeden Moment rechnete ich damit, dass gleich jemand hereingestürmt kam und mich festnahm. Vielleicht die Männer aus meinem Albtraum, dachte ich. Die Bilder wollten mir nicht mehr aus dem Kopf gehen.

Doch es geschah nichts. Die ganze Nacht lang nicht. Und das wusste ich so genau, weil ich bis zum Morgen wachlag.


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