Ein ganz normales Koma

Als ich die Augen aufschlage, werde ich sofort von einem hellen Licht geblendet. Alles ist weiß und da ist dieses grelle, warme Licht, das mir direkt ins rechte Auge blendet. Jetzt ins Linke.
Das ganze wird mir zu bunt und tut ehrlich gesagt auch ein bisschen in meinem unterbelichteten Hirn weh, weil es diese Beleuchtung nicht gewohnt ist und so beschließe ich kurzerhand nach dreißig Sekunden Reaktionszeit, meine Augen wieder zu schließen.
Eigentlich will ich danach direkt einen zweiten Versuch starten, dummerweise war mein untrainiertes Gehirn jetzt so lange ausgeschaltet, dass es sich erst wieder an den normalen Betrieb gewöhnen muss und so schlafe ich wieder ein.
Geweckt werde ich genau zehn Minuten und zweiundvierzig Sekunden später (keine Ahnung, woher ich die genaue Zeitangabe hab) durch ein Räuspern.
Dieses Mal bekomme ich es sogar hin, meine Augen aufzumachen und sehe einen ganz in Weiß gekleideten Mann im weißen Raum stehen.
„Sind Sie Gott?", frage ich, weil das jeder minderbemittelte Protagonist in jeder klischeehaften Story fragt, „bin ich tot?"
Gott verdreht die Augen und rückt seine Brille zurecht. Warum hat Gott eine Glatze und eine Brille?
„Ich glaube nicht, dass Ihr IQ ausreicht, um an einen Gott, geschweige denn an irgendwas zu glauben, im Gegenteil, durch die medizinisch nachweisbare Abwesenheit eines Gehirns stellt sich sogar die Frage, wie Sie überhaupt lebensfähig sind.
Nun ja, wie auch immer, Sie lagen 20 Jahre im Koma, Ihr Körper wurde aber auf rätselhafte Weise konserviert, weshalb sie immer noch 13 Jahre alt sind.
Alle, die Sie kannten, sind Tod (das ist kein Schreibfehler, sondern ein anerkannter Beruf in dieser Zukunft) und Sie sollen nun auf ein Internat, um ihre persönliche Begabung rauszufinden.
Wo die so genau herkommen soll, weiß ich auch nicht so genau, vor dem Koma konnten Sie ja auch nichts."
„Also sind sie doch nicht Gott?", ist die einzige Information, die ich aus diesem Monolog herausfiltern und verstehen kann.
Mit einem lauten Klatschen macht die Handfläche Nicht-Gottes Bekanntschaft mit seinem Gesicht.
Hoffentlich ist die Brille versichert.
Da fällt mir doch noch etwas ein. Etwas Wichtiges. Und es ist auch absolut nicht so, dass mir das normalerweise direkt beim Aufwachen hätte einfallen müssen.
„Tobias!", rufe ich, das Koma scheint mein Namensgedächtnis auf magische Weise eingerenkt zu haben, „was ist mit Tobias?"
Nicht-Gott sieht mich eine Weile lang fragend an. Dann scheint ihm ein Licht aufzugehen: „Ach so, der Typ, der Sie ins Koma gebracht hat und dem Sie nur hinterherrennen, weil er heiß ist und Sie wie Dreck behandelt, was ihn in Ihren dummen, naiven Augen zu einem sogenannten ‚Badboy' macht! Der ist als einziger nicht Tod, sondern tot. Wurde vor zehn Jahren von einem herabfallenden Ziegelstein erschlagen. Tut mir leid für Sie, jetzt müssen Sie sich einen neuen Lebensinhalt suchen."
Das Gesagte lässt mich nach fünf Minuten zu dem Schluss kommen, dass Tobias nicht mehr unter uns ist. Ich fühle mich, als würde meine Welt zusammenbrechen, er war doch die Liebe meines Lebens, 4evaa und so!
Nachdem Nicht-Gott das Zimmer verlassen hat, heule ich mir für mindestens zwei Minuten die Augen aus dem Kopf. Mein Körper ist durch das lange Weinen völlig dehydriert, ich bin am Rande meiner Kräfte. Also beschließe ich, damit aufzuhören und meinen Schmerz hinter mir zu lassen.
Wie jede einigermaßen minderbemittelte Protagonistin werde ich „die Liebe meines Lebens" bald vergessen haben und dem nächsten Vollidioten hinterherrennen. Das wird lustig.

[Autorenanmerkung, die hier nichts verloren hat: Dieses Exemplar der Gattung „Literarisches Meisterwerk" hat inzwischen schon 100 Reads. Ihr seid cool.]

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