Ein ganz normales, böses Erwachen

[Triggerwarnung für die Leute mit Emetophobie.]

Als ich am nächsten Morgen die Augen aufschlage, dröhnt mein Kopf.
Vor meinen geschlossenen Augenlidern sehe ich tausend grelle Lichtblitze und als ich sie aufschlage und seitlich meine Beine aus dem Bett schwinge, trifft mich die Übelkeit wie eine Tür mit Schließautomatik, wenn man zu langsam durch sie hindurchgeht.
Während ich versuche, nicht auf mein viel zu teures Smartphone zu kotzen, das irgendwie vor meinen Füßen gelandet ist fällt mir auf, dass Letztere noch in meinen ledernen Overknees stecken.
Allgemein scheine ich noch in voller Montur zu sein, denn als mein Blick auf den Spiegel am Kleiderschrank fällt, blitzt mir mein silbernes Paillettenkleid entgegen, sowie meine ehemals akkurat schwarz umrandeten Augen, die nun mehr an einen Waschbär erinnern.
Schemenhaft drängen sich Erinnerungen an gestern Abend in mein Gedächtnis, wie nach der erfolgreichen Aktivierung meiner Gabe die allgemeine Partystimmung ausgebrochen ist, wie meine neuen Freundinnen und ich zusammen in den Waschraum gestürmt sind und uns in preisverdächtige Outfits geworfen haben und an die Bowle, die plötzlich jemand in der gekaperten Internatsküche zusammengepanscht hatte.
Die Bowle. Heilige Scheiße. Bei der Erinnerung schlage ich mir die Hand vor den Mund und muss tief durch die Nase ein- und ausatmen.
Mit der selben Vorsicht wie die, mit der man einen randvollen Eimer mit Dreckwasser über einen cremefarbenen Teppich balanciert, schleiche ich durchs Zimmer und sammle irgendeine Jeans und ein Shirt ein, auch um Julietta nicht zu wecken, die noch immer schläft.
Mit den Kleidern unter dem Arm und meiner Beautybag über der Schulter wanke ich aus dem Zimmer und um die Ecke zum Waschraum, um mich erst mal zu duschen.
Das heiße Wasser spült zumindest etwas von der Übelkeit weg, die hämmernden Kopfschmerzen allerdings bleiben mir erhalten.
„Meine Güte, Faith, du siehst aber gar nicht gut aus, bist du über Nacht krank geworden?"
Das Mitleid der Person, die eben aus dem Duschbereich des Waschraums spaziert ist und mein Spiegelbild mustert, wie ich in einem Anfall von Schwindel auf das Waschbecken gestützt stehe, wirkt aufrichtig. Es ist die Blonde. Marie-Susanne, wenn ich mir das richtig gemerkt habe.
„Mary Sue", erklärt sie auf meinen vermutlich doch fragenden Blick hin, „wir hatten gestern Abend die Ehre."
Naja. Immerhin fast richtig gemerkt.
„Ich erinnere mich", versuche ich zu sagen. Meine Stimme ist rau und kratzig. Aber nicht irgendwie sexy wie die von Elianor, sondern eher wie die eines dreizehnjährigen Jungen, der durch die ganze Schule krakeelt um die Welt wissen zu lassen, dass er im Stimmbruch ist.
Mary Sue bedenkt dies nur mit einem sorgenvollen Stirnrunzeln.
„Es ist ja recht spät geworden heute Nacht. Ich bin selbst noch ein wenig müde."
Zur Bekräftigung ihrer Worte streckt sie sich ein wenig. Das reicht allerdings nicht um zu verhindern, dass ich bei ihren Anblick Komplexe bekomme.
Ihr Teint ist rosig, die vom Duschen leicht geröteten Wangen würden selbst jemanden, der noch nie von Jane Austen gehört hat vermuten lassen, dass Mary Sue bereits einen erfrischenden Morgenspaziergang mit Mr. Darcy hinter sich hat. Dazu die perfekten Proportionen ihres Gesichts, die Nase, die leicht stupsig ist aber nicht zu sehr und die einzelnen blonden Strähnen, die sich in perfekter Anzahl beim Duschen aus ihrem in idealer Weise unordentlichen Dutt gelöst haben lassen mich augenblicklich zu einem Wattepad greifen in der Absicht, den leicht vom Wasser angelösten Waschbären aus meinem grünlich-blassen Gesicht zu wischen.
Plötzlich erstarre ich. Mary Sue, die inzwischen das Waschbecken neben mir in Besitz genommen hat und dabei ist, ihr makelloses Gesicht mit Rosenwasser zu betupfen, zieht fragend eine Augenbraue hoch. Natürlich kann sie auch das.
„Was ist heute Nacht passiert?"
Mein Tonfall lässt ihr leicht amüsiertes Beinahe-Grinsen augenblicklich einem sorgenvollen Gesicht weichen.
„Bist du ganz sicher, dass du das jetzt wissen willst? Du scheinst noch nicht ganz auf der Höhe zu sein. Bisher hast du noch noch nichts Dummes gesagt oder gemacht."
Sie hat Recht. Mein Gehirn scheint durch den Restalkohol fast ordnungsgemäß zu funktionieren, was mir Angst macht. Hoffentlich normalisiert sich das im Laufe des Tages noch.
„Mary-Sue. Sag's mir. Jetzt.", bitte ich und trotz des Kratzens duldet meine Stimme fast keinen Widerspruch.
Sie seufzt und holt tief Luft.
„Ich lasse die unwichtigen Einzelheiten weg. Jedenfalls hattest du ein Problem damit, wie Tobias dich hochgehoben hat und hast deswegen vor allen anderen ein Drama der allerfeinsten Sorte veranstaltet, bis er beleidigt bis peinlich berührt verschwunden ist. Daraus, dass du es nicht mehr weißt schließe ich, dass du zu dem Zeitpunkt schon mehr als leicht angetrunken warst."
Mein erschrockenes Luftschnappen ignorierend fährt sie fort: „Einige Gläser Bowle später schien es dir plötzlich leidzutun. Jedenfalls hattest du plötzlich eine Gitarre in der Hand, die irgendwer hat rumstehen lassen und hast ‚Wonderwall' gespielt. Und dabei geweint. Mit Schrecken stellte ich fest, dass all deine Freundinnen bereits außer Gefecht waren und ich die einzige war, die Interesse hatte, dich aufzuhalten, bevor... naja, Schlimmeres passiert. Ich musste mich durch die gesamte, grölende Menge kämpfen und hab es gerade noch geschafft dir die Gitarre wegzunehmen, nachdem du verkündet hast, dass du als nächstes ‚Breathe me' von Sia spielen wirst."
Das ist zu viel für mich. Ich schaffe es gerade noch so, mich übers Waschbecken zu beugen, als ich mich doch noch übergeben muss.

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