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ASHBEL
Jean war nervös, das konnte Ash spüren. Mit jedem weiteren Schritt die Straße hinunter, wurden ihre Schritte schwerer, ihre Atmung schneller und ihr Griff um ihren Beutel stärker. Sie tat ihm leid. Es waren Momente wie diese, wo er sich fragte, ob es nicht doch besser für sie gewesen wäre, hätte er sie damals zwischen den sicheren Mauern des Waisenhauses zurückgelassen. Aber dann erinnerte er sich egoistischerweise daran, dass er dann die letzten beiden Jahre komplett alleine gewesen wäre und das hätte ihm sicherlich nicht gut getan.
Die Höhle war nicht schwer zu finden. Hook hatte die Wahrheit gesagt; sie war am anderen Ende der Straße und in ihr wartete schon jemand. Von der Gestalt ging eine seltsame Dunkelheit aus, die Ash sich nicht erklären konnte. Vielleicht lag es daran, dass die Gestalt einen langen schwarzen Umhang trug, der bis knapp über den Boden schwebte und dessen Kapuze das Gesicht des Fremden vollkommen verhüllte. Jean schritt instinktiv näher an ihn heran.
Ash räusperte sich.
„Mensch", knurrte eine leise, heisere Stimme angewidert. Bevor Ash antworten konnte, entblößten die Ärmel des Umhangs erschreckend weiße, knorrige Finger, die die Kapuze von dem Kopf herunterzogen. Ash spürte Jeans Atem neben ihm kurz stocken. Er konnte es ihr nicht verübeln.Das Gesicht, das sich ihnen nun offenbarte, bestand hauptsächlich nur noch aus Narbengewebe. Die dunklen Augen waren tief eingesunken und glitzerten im Feuer der Fackel gefährlich. Der Mann besaß kein einziges Haar mehr, weder auf dem Kopf, noch dort, wo eigentlich Wimpern oder Augenbrauen sein sollten. Selbst der Mund sah aus, als hätte man ihn zugenäht und dann mit Gewalt wieder aufgerissen. Es war ein grauenvoller Anblick.
Ash versuchte sich von dem Hass in seinen eingesunken Augen nicht beirren zu lassen und nickte mit dem Kinn zu der Steinwand direkt vor ihnen. Hier war kein Durchgang. Hatte Hook sie in eine Falle gelockt?
„Hook hat uns geschickt. Er sagte, wir würden Orrian hier antreffen. Bist du Orrian?"
Der Mann kräuselte seine Oberlippe zurück, fast so wie eine Katze, die ihn anfauchte. „Nimm meinen Namen noch einmal in den Mund, und ich werde dafür sorgen, dass ihn nie wieder Worte verlassen werden, Proditor."
Ash blinzelte nur. „Proditor?"
Die Augen seines Gegenübers wurden noch dunkler und Ash redete schnell weiter, bevor er noch irgendetwas von sich geben würde, dass ihren Deal mit Hook gefährden könnte. „Also?"
Der Blick des vernarbten Mannes wanderte über Jeans Erscheinung. Dann schüttelte er den Kopf. „Sie nicht."
„Was soll das heißen?", drängte Ash und hielt seinen Arm schützend vor Jean. Er würde nirgends ohne sie hingehen. Das war nicht Teil der Abmachung.
Würde Ash denken, dass er mit seinem Mund dazu fähig wäre, hätte er meinen können, dass der Mann lächelte. „Sie kann nicht hinübergehen. Ihr Kopf ist nicht dafür geschaffen."
Ashs Gedanken rasten. Ihr Kopf war dafür nicht geschaffen? Weil sie zu jung war? Nein. Egal, was es war, er würde Jean nicht zurücklassen. Ash wurde wütend. War das doch eine Falle? Hatte Hook sie um seine drei Goldstücke betrogen? Er trat einen Schritt vor, das Messer gelang wie aus dem Nichts in seine Hand. Er hatte nicht einmal daran gedacht.„Hör zu, ich werde-"
„Ash", sagte Jean leise, ihre Stimme zitterte leicht. Abgelenkt, drehte sich Ash kurz um. Sie war bleicher, als er sie je zuvor gesehen hatte. „Vielleicht sollten wir-"
„Nein." Er ließ sie nicht ausreden. Das war die erste richtige Spur seit zwei Jahren und das würde er sich nicht nehmen lassen. Egal, was ihm dazwischen kam. Er drehte sich wieder zu dem völlig entstellten Mann um, das Messer fest entschlossen in der Hand. Er würde es benutzen, wenn er es musste. „Sie kommt mit." Er betonte jede einzelne Silbe.
Die vernarbten Mundwinkel des Mannes hoben sich zu einem abwertenden, kalten Lächeln. Dabei wurden zwei Reihen spitze Zähne entblößt, bei denen Ash im Normalfall innegehalten hätte – aber jetzt gerade interessierte ihn das nicht.
„Gut", sagte der Mann leise und zog sich die Kapuze des Umhangs wieder über den Kopf, sodass Ash sein hässliches Gesicht nicht mehr sehen konnte. „Aber sollte deinem Mädchen etwas geschehen, denke an meine Worte. Ich habe dich gewarnt."
Bevor Ash etwas antworten konnte, schrie Jean hinter ihm plötzlich auf. Ash wirbelte panisch herum – und blinzelte der heißen Sonne an einem strahlend blauen Himmel entgegen. Jean stand vor ihm, im hüfthohen Gras, unversehrt, auf ihrem Gesicht spiegelte sich derselbe erstaunte Ausdruck, den er auch auf seinem Gesicht haben musste. Er drehte sich kurz um, doch sie waren alleine. Die Kapuzengestalt war verschwunden. Genauso wie die steinernden Wände der kalten Höhle um sie herum, in der sie nur Augenblicke zuvor noch gestanden hatten.
„Was zur Hölle...", murmelte Ash ungläubig und ließ sein Messer langsam sinken. Wo um alles in der Welt waren sie? Und wie sind sie so schnell hierhergekommen?
„Ash", atmete Jean fasziniert und deutete in den Himmel. Ash folgte mit seinem Blick ihrem Finger und entdeckte mit fast schon kindlichen Erstaunen die Massen an schillernden Federn, die langsam auf sie hinunterregneten. Ash öffnete seine Hand und ließ fasziniert eine silberne glänzende Feder auf seiner Handfläche landen. Sie war schwerer als er erwartet hatte und hinterließ einen feinen, silbernen Staub auf seiner Haut, als ein leichter Windstoß sie wieder davonschweben ließ. Er zerrieb den Staub zwischen seinen Fingern und spürte ein leichtes, angenehmes Kribbeln. Als er wieder zu Jean schaute, drehte sie sich gerade lachend um ihre eigene Achse, auf ihrer Wange glänzte ein goldener Staubfilm. Ihre hellen Augen glänzten, als sie ihm eines ihrer seltenen strahlenden Zahnlückenlächeln schenkte.
„Was ist das?", fragte sie atemlos, doch Ash wusste das erste Mal keine Antwort auf ihre Frage. Es war das erste Mal, dass er ihr nichts von seinem Wissen geben konnte, denn er hatte keine Ahnung.
Ash erinnerte sich plötzlich an Hooks Worte von gestern. Er ist einfach... magisch, wenn du verstehst, was ich meine. Ash glaubte, nun zu verstehen. Aber das führte nur dazu, dass sich ein ungutes Gefühl in seiner Magengegend breit machte. Er hatte keine Ahnung, wo sie waren. Er hatte nicht mal wirklich eine Ahnung, wonach er hier genau suchen sollte, was ihn zu Kee führen würde.
Ash schaute sich um, während Jean zu sehr damit bechäftigt war, die gefallenen Federn zu inspizieren.
Sie standen auf einem kleinen Hügel, mitten auf einer Wiese. Um sie herum war nichts außer hüfthohes Gras, diese seltsamen schillernden Federn, und über ihnen der unglaublich strahlende, blaue Himmel. Er schirmte seine Augen vor dem stechenden Sonnenlicht ab und blickte in die Ferne. Weiter hinten konnte er Berge ausmachen, die Spitzen so hoch, dass sie bis in den Himmel ragten und in den Wolken verschwanden. Er drehte sich langsam um seine eigene Achse, scannte vorsichtig die Umgebung ab. Es schien ein friedvoller Ort zu sein, weit und breit keine Zivilisation oder mögliche Gefahr in Sicht. Trotzdem gefiel ihm der Gedanke nicht, so offen und schutzlos auf einer Wiese zu stehen, wo man sie schon aus kilometerweiter Entfernung entdecken konnte. Er wollte keine Aufmerksamkeit erwecken, bevor er nicht wusste, wo sie waren und womit sie es hier zutun hatten. Ash war fast schon erleichtert, als er hinter sich einen Wald entdeckte, der nicht weit von ihnen entfernt war. Er beschloss in dem Moment, dass das erstmal ihr nächstes Ziel werden würde. Zwischen den schützenden Kronen der Bäume fühlte er sich auf jeden Fall sicherer, als so offen und ungeschützt auf der Wiese, dazu auch noch auf unbekannten Terrain.
Ash drehte sich wieder zu Jean um, die mittlerweile ihre Schiffermütze abgesetzt hatte und in ihr die Federn um sie herum sammelte. Wenigstens sind es diesmal keine Tiere, dachte Ash.
„Magpie?"Jean hob bei ihrem Spitznamen fragend ihren Kopf, in der strahlenden Sonne glänzten ihre kurzen, blonden Locken wie ein goldener Heiligenschein.
„Siehst du den Wald dort hinten?" Ash zeigte hinter sich.
„Ja?"
„Wer als Erstes da ist."
Und so rannten sie lachend durch das Gras.
Spätestens als sich Jean mit einem erschöpften Stöhnen auf eine hochgewachsene Baumwurzel fallen ließ, begann Ash seine Entscheidung zu bereuen. Er konnte nicht genau sagen, wie lange sie sich schon durch das dicke Dickicht schlugen und verlassene Pfade entlangwanderten, aber da es langsam immer dunkler um sie herum wurde, mussten es mindestens drei Stunden gewesen sein. Er konnte spüren, wie seine eigenen Muskeln langsam nachließen und konnte nur ahnen, wie sich Jean gerade fühlen musste. Und sie hatten nicht einmal ein genaues Ziel vor Augen. Ashs einziger Gedanke gerade war, den Wald zu durchqueren und zu schauen, was sie auf der anderen Seite erwarten würde. Aber wie es aussah, hatte er die Größe des Waldes unterschätzt. Er konnte mit einem Blick in Jeans Richtung nur hoffen, dass sie noch vor Einbruch der Dunkelheit Unterschlupf fanden. Und wenn es nur eine kleine, kalte Höhle war. Alles war besser, als unter freiem Himmel in einem fremden Wald eines völlig unbekannten Ortes zu schlafen. Hier könnte sich alles Mögliche herumtreiben – hungrige Tiere oder irgendwelche Leute, die es für eine gute Idee hielten, sie auszurauben und völlig schutzlos zurückzulassen.
Ash schaute Jean in Gedanken versunken dabei zu, wie sie mit ihrem kleinen Messer kleine Kerben in das Holz der Baumwurzel unter ihr schnitzte.
„Du brauchst etwas zutun, huh", sagte Ash nach einer Weile, in der er ihr nur dabei zugeschaut hatte. Inzwischen hatte sie ein kleines Muster in das Holz geschnitzt. Es war hübsch. Nicht perfekt, aber hübsch.
Jean schaute auf, ließ das Messer sinken und seufzte. „Ash, ich glaube, es war ein Fehler hierherzukommen."
Es waren nicht ihre Worte, die wehtaten. Es war auch nicht der Fakt, dass sie ausgerechnet von ihr kamen. Sie taten weh, weil Jean nur seine eigenen Gedanken laut ausgesprochen hatte. Denn wenn er ehrlich mit sich selbst war, wusste er nicht einmal, wonach genau er hier eigentlich suchte. Er war einfach blind Hooks Spur nachgegangen, ohne überhaupt zu hinterfragen, was Kee an einem Ort wie diesem wollen sollte. Ash war immer davon ausgegangen, dass Kee so einfach verschwunden war, weil irgendetwas passiert sein musste. Irgendetwas Schlimmes, wobei Kee seine Hilfe brauchte. Ash hatte nie auch nur daran denken wollen, dass Kee damals freiwillig gegangen war. Er hätte Ash nie einfach so zurückgelassen. Aber mit jeder weiteren Spur, die sich am Ende im Sand verlief, geisterten unerwünschte Gedanken in seinem Kopf herum. Was, wenn Keighan damals wirklich freiwillig gegangen war? Was, wenn Jean recht hatte, und er gar nicht gefunden werden wollte? Sein Leben würde keinen Sinn mehr ergeben, denn Kee zu finden war sein einziges Ziel. Ohne dieses Ziel hatte Ash nichts mehr, für dass es sich zu leben lohnte.
Nein, dachte Ash mit einem Blick in Jeans Richtung. Er hatte einen neuen Grund dazugewonnen. Er konnte Jean nicht alleine zurücklassen, das konnte er ihr nicht antun. Er wusste, wie sich so etwas anfühlte. Für Jean lohnte es sich zu leben.
Ash stand vom Boden auf und reichte Jean seine Hand hinunter. „Komm. Wir müssen weiter."
Ash sah die Erschöpfung in ihren großen Augen, die Müdigkeit, die an ihren Muskeln zerrte. Und trotzdem riss sie sich zusammen und nahm seine Hand, ohne sich ein einziges Mal zu beschweren. Das war es, was er so an ihr bwunderte. Nach all den Sackgassen in ihrer Suche nach einem Jungen, den sie nicht einmal kannte, beschwerte sie sich nie. In all der Zeit hatte sie nie auch nur einen Mucks von sich gegeben.
Sie gingen weiter. Zumindest war es das, was Ash vor hatte, bis Jean hinter ihm plötzlich leise aufkeuchte und ein dumpfes Knallen folgte. Ash drehte sich in Alarmbereitschaft um und wollte schon sein Messer zücken, als er sah, dass sie einfach nur mit ihrem Fuß in der Baumwurzel hängengeblieben und gestolpert war.
Ash verdrehte die Augen. „Hinlegen kannst du dich nachher."
Jean fluchte leise, rappelte sich auf - und fiel wieder hin. Ash war kurz davor, noch etwas Sarkastisches hinterherzuwerfen, als er Jeans irritierten, leicht panischen Gesichtsausdruck sah. Sie versuchte, wieder aufzustehen, doch im selben Moment schien sie eine unsichtbare Kraft über den Waldboden nach hinten zu ziehen. Nur dass es keine unsichtbare Kraft war, wie Ash feststellen durfte, als er panisch hinter ihr herhastete. Es war die Baumwurzel. Sie war lebendig. Und sie war drauf und dran, Jean umzubringen.
Jean schrie. Ihr Schrei hallte durch den ganzen Wald, Vögel flatterten erschrocken aus den Baumkronen, während plötzlich wie aus dem nichts eine zweite Baumwurzel wie eine Schlange über den Boden schoss und sich um Jeans Hals ringelte.
„Nein!", hörte sich Ash selbst schreien, bevor er eine Sekunde später reagierte und mit seinem Messer auf die Wurzel um ihren Hals einschlug. Er versuchte panisch, das Holz zu durchhacken, bevor es Jean erwürgte, doch sobald Ashs Messer Schaden angerichtet hatte, regenerierte sich die Baumwurzel wieder. Ash hörte das Blut in seinen Adern rauschen, im entferneten Unterbewusstsein nahm er Jeans Röcheln war. Nein, nein, nein. Das durfte nicht passieren. Nicht Jean. Wenn, dann sollte er derjenige an ihrer Stelle sein, aber nicht Jean, nicht seine kleine, süße Jean, mit ihrem Zahnlückenlächeln und den kleinen, flinken Händen, die sich jetzt verzweifelt nach Luft ringend um ihren Hals schlangen, um den Druck von ihrer Luftröhre zu lößen. Ash bemerkte erst, dass er weinte, als Jeans Hände plötzlich schlaff wurden und er nur durch einen Schleier aus Tränen in ihr blauangelaufenes Gesicht schauen konnte.„Nein!", rief er hektisch und rammte rasend vor Wut sein Messer in das Holz. „Nein, nein, nein!"
Plötzlich war es, als hätte die blanke Verzweiflung in seiner Stimme etwas bewirkt. Die Baumwurzeln wurden unter seinen Händen mit einem Mal weich, fast wie Gummi, bevor sie ringelnd und zischend von dem kleinen Mädchen abließen, als wäre es plötzlich giftig. Ash sah mit Entsetzen und einem Funken Faszination dabei zu, wie sich die Baumwurzeln langsam schwarz verfärbten und sich, in Qual hin und herrangelnd, vor seinen Augen in Luft auflösten.
Das war unmöglich.
Ash drehte sich zu Jean um und konnte nicht in Worte fassen, wie erleichtert er war, als er sah, dass ihr Gesicht wieder ihre natürliche, blasse Farbe angenommen hatte. Ihr Brustkorb hob und senkte sich langsam, aber stetig. Sie war zwar noch bewusstlos, aber am Leben. Ash wischte sich mit zitternden Händen die nassen Tränen auf seinen Wangen weg und legte Jeans zierlichen Kopf sanft in seinem Schoß ab. Sein Herz raste immer noch, während er langsam mit seinen Fingern durch Jeans Locken fuhr. Der Schock saß noch tief in seiner Magengegend. Hätte er doch bloß besser aufgepasst, wäre er doch bloß-
„Hier ohne Bugriander oder echtes Silber herumzulaufen, endet in den meisten Fällen tödlich."
Als Ash die Schritte hinter sich hörte, war es, als reagierte sein Körper auf die Stimme, bevor sein Kopf überhaupt verarbeitet hatte, was das bedeuten würde. Er schoss herum, seine Augen noch immer rot, auf seinen Wangen noch die Spuren seiner Tränen zu erkennen.
Das war unmöglich.
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