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KEIGHAN
„Was denkst du, was du hier tust?"Das fragte der Elf ausgerechnet ihn? Er war nicht derjenige, der mit dem Rücken zur Wand stand und die scharfe, kalte Spitze eines Schwertes mit seinem eigenen Familienwappen am Griff an seiner Kehle spürte. Kee schluckte vorsichtig, damit die Klinge sich nicht noch mehr in seine Haut bohrte. Er erwiderte den glühenden Augen des älteren Elfen mit einem kühlen Blick.
„Oh, ich habe dich auch vermisst, Ker."
Der Druck an seiner Kehle verstärkte sich und die Augen des anderen Elfen wurden dunkler. Gut, vielleicht war es kein guter Zeitpunkt, Witze zu machen.
„Nenne mir einen Grund, warum ich dir nicht hier und jetzt die Kehle durchschneiden sollte", zischte sein Gegenüber. Definitiv kein guter Zeitpunkt.
Kee bewegte seinen Kopf vorsichtig enttäuscht zur Seite. „Autsch. So viel zu Blut ist dicker als Wasser."
„Ich habe keine Ahnung, wovon du redest, mein Bruder." Kee entging nicht, wie gehässig sein Gegenüber das Wort Bruder aussprach. Würde Kee ihn besser kennen, hätte das vielleicht mehr wehgetan. Oder er war mittlerweile abgestumpft.
Kee verdrehte die Augen. Natürlich kannte sein Bruder das Sprichwort nicht. Es kam von Menschen und wie es in der Natur eines Elfen lag, verabscheute er alles, was mit der Menschenwelt zutun hatte. „Egal. Ich brauche deine Hilfe, Keryth."
„Mein Hilfe?", echote sein älterer Bruder ungläubig und lachte hohl. Die scharfe Klinge des Schwertes wackelte gefährlich an seiner Kehle. „Alleine, dass ich hier stehe und mit dir rede, könnte mich meinen Kopf kosten", spuckte er, sobald er aufgehört hatte, zu lachen.
Kee betrachtete seinen Bruder einen Moment lang. Es war merkwürdig. Sie waren nur vier Jahre auseinander und doch sah er viel älter aus, als er selbst. Vielleicht lag es an seinen schulterlangen, grauen Haaren. Kee hatte sich daran gewöhnt, diese Haarfarbe nur bei alternden Menschen zu sehen. Dass grau eine gewöhnliche Haarfarbe und kein Zeichen für Alterung in seiner Welt war, hatte er schon fast verdrängt.
„Und trotzdem bist du hier." Kee reckte trotz des Schwertes sein Kinn und starrte seinem Bruder aus schmalen Augen entgegen.
„Ich war neugierig", gab Keryth zu. „Aber gerade beginne ich das zu bereuen."
Kee schloss die Augen und sank mit seinem Kopf zurück gegen die Wand. „Ist es wirklich so schlimm?" Keryth blieb ruhig. Solange, dass Kee stirnrunzelnd seine Augen wieder öffnete. Sie schauten sich einen langen Augenblick lang in die Augen. Kee hatte das Gefühl, sein Bruder würde versuchen, in seinen Augen die Antworten auf all seine Fragen zu finden. Aber da würde er lange suchen müssen. Kee hatte in den letzten Jahren gelernt, seine Emotionen wegzuschließen und nur dann auflodern zu lassen, wenn er sich sicher war, dass er komplett alleine war. Wie hätte er sonst all die Monate lang überleben sollen? Plötzlich wurden Keryths Gesichtszüge weicher, ein tiefes Seufzen folgte. Der unangenehme Druck verschwand von Kees Kehle, als Keryth das Schwert wegnahm und zurück in die Scheide an seiner Hüfte schob. Keryth trat einen Schritt zurück und gab Kee Freiraum.
„Er ist wütend. Das ganze Land ist wütend. In der letzten Woche hat es dreimal geregnet, die Felder sind schwer betroffen. Ganze Dörfer müssen hungern. Drei Elfen und fünf Pixies mussten bereits sterben. Und das alles nur, weil Er wütend ist. Keighan, du musst dem Ganzen endlich ein Ende bereiten."
Kee drehte sich von seinem Bruder weg und schaute durch die Höhlenöffnung hinaus in den dunklen Wald. Ihm war kein sichererer Ort eingefallen, als mitten in der Nacht im Wald. Niemand würde auf die Idee kommen, zu dieser Tageszeit hierherzukommen. Die Baumnymphen jagten meistens nachts. Und er wollte nicht wissen, was sich hier noch für Kreaturen herumschlichen. Kee schluckte und rieb sich mit einer Hand über den Hals. „Und wie? Wie soll ich das anstellen, wie stellst du dir das vor?"
„Du bist der Mactator!", hörte er seinen Bruder hinter sich sagen. Als würde das alles erklären.
Kee schnaubte sarkastisch. „Richtig."
Keryth trat einen Schritt näher und Kee drehte sich wieder zu ihm um. „Keighan... Wenn du Ihm nicht bald den Kopf vorlegen kannst, wird Er seine Truppen losschicken und nach dir suchen lassen. Es wird keine Gnade geben. Er wird dich als Verräter hinrichten lassen. Willst du wirklich so in Erinnerung bleiben? Willst du unsere Familie wirklich so entehren?"
Da war es wieder, die Elfen und ihre Ehre. Es gab nichts Wichtigeres in dieser verdammten Welt. Wie Kee dieses Wort hasste. „Ich habe mir das alles nicht ausgesucht. Ich wollte das alles nicht, ich habe nichts falsch gemacht. Mein einziger Fehler war es, geboren zu werden." Es gab wirklich Zeiten, in denen sich Kee fragte, was für einen Sinn sein Leben überhaupt noch machte. Er hatte sich gegen die einzige Sache verschworen, wegen der er überhaupt erst geboren war. Und das würde ihm früher oder später sein Leben kosten. Sein Dasein war komplett wertlos. Kee hatte nichts mehr.
Keryth schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. „Ich verstehe nicht. Du musst ihn nur umbringen. Mehr nicht."
Kee lachte freudlos. „Du sagst das so, als würde ich mir damit nicht selbst ein Schwert in die Brust rammen."
Sein Bruder schüttelte wieder den Kopf. „Ich verstehe nicht."
Kee rieb sich mit einer Hand durch das Gesicht, plötzlich unglaublich erschöpft von der ganzen Unterhaltung. Er fühlte sich, als wäre er soeben um zehn Jahre gealtert. Deswegen vermied er es, über dieses Thema nachzudenken. Es tat ihm einfach nicht gut. „Ich kann ihn nicht töten, Ker", sagte er schließlich kopfschüttelnd und drehte sich von seinem Bruder weg. Er kämpfte mit den richtigen Worten, suchte fast schon verzweifelt nach einem Weg, ihm zu erklären, warum er nicht der Held seiner Familie sein konnte. Doch Kee fand keinen. „Ich kann ihn nicht töten", wiederholte er leiser.
„Warum nicht? Was kann wichtiger sein, als unser Land? Als deine Bestimmung?" Kee wollte lachen. Es gab so vieles, das wichtiger war, als das. Aber das konnte sein Bruder nicht sehen und Kee konnte ihm das nicht einmal verübeln.
Kee drehte sich wieder zu Keryth um, lehnte sich dabei für Halt gegen die Höhlenwand an. „Ich kann ihn nicht töten. Genauso wenig, wie du Nym töten könntest." Er hoffte inständig, sein Bruder würde ihn jetzt endlich verstehen.
Keryth starrte ihn perplex an. „Was hat Nym...?" Er hatte den Satz langsam angefangen, doch als ihm plötzlich die Erkenntnis kam, stand ihm der Schock wie ins Gesicht geschrieben. „Oh, Kee. Nein." Er schüttelte den Kopf.
„Ich kann nichts dafür", erwiderte Kee und noch mitten im Satz brach seine Stimme. Er drehte seinen Kopf beschämt zur Seite.
Ker blieb eine ganze Weile lang still. Kee schloss in der Zeit die Augen und lauschte dem Wind, der durch die Blätter raschelte. Er erinnerte sich an die Ausflüge mit seinem Vater, als er noch kleiner war. Er erinnerte sich daran, wie sein Vater ihm riet, dem Wind immer zuzuhören. Denn manchmal hatte er ihnen wichtige Dinge zu sagen, Dinge, die ihnen weiterhelfen würden. Jetzt gerade hatte der Wind ihm nichts zu sagen.
„Ich verstehe", durchbrach sein Bruder schließlich die Stille. Kee konnte nicht wirklich heraushören, wie er darüber fühlte. „Aber warum erzählst du mir das? Es könnte dein Tod bedeuten, Keighan."
Kee starrte einen Moment lang gedankenverloren in den Wald hinein. Er entschied sich für die Wahrheit. „Von all unseren Brüdern bist du derjenige, dem ich am meisten vertraue."
Er hörte ein schweres Seufzen. „Was willst du nun von mir?"
Kee drehte seinen Kopf wieder zurück und schaute seinem Bruder direkt in die Augen. „Du musst mir einen Gefallen tun. Bitte."
„Kee... Ich kann nicht. Alleine, dass ich hier mit dir rede-"
„Und doch bist du hier", sagte er nochmal mit Nachdruck. Kee setzte einen flehenden Gesichtsausdruck auf. Er hatte sowieso nichts mehr zu verlieren. „Bitte. Ich muss dir noch was bedeuten. Irgendwas."
Keryth strich sich eine Strähne seines dunkelgrauen Haares hinter sein spitzes Ohr. „Natürlich bedeutest du mir etwas. Du bist mein Bruder. Auch wenn ich dich nicht mehr gesehen habe, seitdem du fortgeschickt wurdest."
Kee war damals sechs Jahre alt gewesen. In Menschenjahren gezählt. Heute war er achtzehn.
„Also, was willst du von mir?", drängte Keryth.
Kee konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal ehrlich gelächelt hatte. Wüsste er nicht, dass das unmöglich war, hätte er gedacht, er wäre nicht mehr fähig dazu. Es gab nur ein Lebewesen im ganzen Universum, das ihn zum Lächeln bringen konnte, und das kam nicht aus dieser Welt. Aber jetzt gerade schlich sich ein kleines Lächeln auf seine Lippen. Ein Kleines, aber dafür ein Ehrliches.
„Danke."
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