- 10 -
KEIGHAN
„Für Baumnymphen wirkt die Blüte der Bugriander wie Gift. Es wird sie aber nicht lange davon abhalten, euch zu töten. Jean hat eine der ihren verletzt", sagte Kee, ohne dem Jungen vor ihm eines Blickes zu würdigen. Er beugte sich zu dem kleinen, bewusstlosen Mädchen hinunter und wusste nach einer kurzen Berührung ihrer Hand, dass sie so schnell nicht wieder aufwachen würde. Und das hatte nichts mit den Baumnymphen zutun.
„Du musst sie hier rausbringen, wenn du willst, dass sie überlebt", sagte Kee monoton und stand wieder auf. Es brauchte alles, wirklich alles in ihm, um sich nicht anmerken zu lassen, was gerade in ihm vorging. Er vergrub seine zitternden Hände in den Taschen seiner Jeans, schloss seine Finger um den kleinen Elfenkrieger, dessen rechtmäßiger Besitzer genau vor ihm saß und bewegungslos zu ihm hochstarrte. Er konnte seinen Blick nicht erwidern.
„Keighan", wisperte der Junge atemlos. Es war nur ein Wort, und trotzdem zog sich Kees ganzer Körper vor Schmerz zusammen.
„Du musst sie hier rausbringen", sagte Kee noch einmal. Jede weitere Minute, die sie hier verbrachte, war lebensgefährlich. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt solange durchgehalten hatte.
„Kee... Du-"
„Ash, bitte", rutschte es ihm heraus. Er dachte, zu hören, wie Ash ihn bei seinem Spitznamen nannte, war unerträglich. Aber da hatte er sich getäuscht. Viel schlimmer war es, Ashbels Spitznamen auszusprechen. Es war, als würden damit sämtliche Erinnerungen, alle Gespräche zwischen ihnen – die sorglosen bei der alten Weide; die tiefsinnigen auf dem Dach des Waisenhauses; die schwachsinnigen, eingelullt zwischen Decken und Kissen in ihren Zimmern – auf seiner Zunge liegen und darauf warten, wieder über seine Lippen zu wandern. Aber so würde es nie wieder sein. „Bring sie hier einfach raus. Es ist hier nicht sicher. Für beide von euch."
"Ich verstehe nicht... Wie kannst du... Wo warst du?", stammelte Ashbel, ohne auf das einzugehen, was Kee gesagt hatte.
"Ich bin nicht hier, um zu bleiben, Ash."
"Du bist nicht hier, um zu...", wiederholte Ashbel seine Worte und brach ab. "Was zur Hölle soll das bedeuten?" Der Faeven-Junge richtete sich auf und plötzlich war das kleine Mädchen auf dem Boden für einen kleinen Moment vergessen.
Kee schaute auf. Es war das erste Mal seit über zwei Jahren, das erste Mal seit seinem Verschwinden, dass er Ashbel gegenüber stand und ihm direkt ins Gesicht schaute. Kee war nicht darauf vorbereitet, nicht im geringsten. Unter anderen Umständen hätte er Ash nie wieder gesehen. Doch nun, wo er vor ihm stand und in Ashs zweifarbigen Augen blickte, in denen ein Sturm aus Zorn und Verwirrung tobte, wusste er, dass er ohne Ash nicht lange überlebt hätte. Er hätte sich für die nächsten Jahrzehnte verstecken und bis an sein Ende ein Leben in Einsamkeit führen müssen und damit hatte er sich abgefunden, denn er hätte es für Ash getan. Damit er in Sicherheit war und ein normales Leben leben konnte. Aber die Wahrheit war, dass Kee daran kaputt gegangen wäre. Nicht weil er verbannt aus seiner eigenen Welt ein Leben in stetiger Einsamkeit hätte führen müssen, nein. Die Einsamkeit machte ihm nichts aus, Kee war schon immer ein Einzelgänger gewesen. Es war der Gedanke daran, Ash nie wieder sehen zu können, der ihn mit der Zeit innerlich zerrissen hätte. Ash war der Grund, warum er überhaupt lebte. Und bis jetzt dachte er, er würde auch der Grund sein, warum er sterben würde. Aber nicht so.
Wenn Kee also ehrlich mit sich selbst war, war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie sich wiedergesehen hätten.
„Das ist also alles?", sagte Ash plötzlich, seine Stimme klang hohl, überhaupt nicht so, wie Kee sie in Erinnerung hatte. „Das ist alles, was ich von dir bekomme? Stille?"
Es tat weh, aber vielleicht war Stille die einzige Möglichkeit, Ash hier rauszubekommen. Und es war nicht so, als könnte er Ash irgendetwas erzählen.
„Ash, hör mir zu", sagte er. „Du musst Jean-"
„Sag du mir nicht, was ich zutun habe!", unterbrach Ash ihn plötzlich schreiend.
Kee zuckte erschrocken zurück. In all den Jahren hatte Ash ihn noch nie angeschrien. „Hast du eigentlich eine Ahnung, was ich, was wir", fuhr Ash unbeirrt fort, zeigte wütend auf Jean. „die letzten zwei Jahre durchgemacht haben? All die kalten schlaflosen Nächte, die Tage voll Hunger und ständig auf der Flucht vor irgendwelchen Banden, die uns umbringen wollten. Ich dachte, dir wäre was passiert, ich dachte du wurdest entführt und du brauchst meine Hilfe, ich dachte, Kee hätte mich niemals einfach ohne ein Wort zurückgelassen. Nicht du!"
Kee war geschockt, als er plötzlich die glitzernden Tränen in Ashs Augen bemerkte. Er musste schlucken.
Ash hasste ihn.
„Und jetzt stehst du vor mir, nach all der Zeit, und ich weiß, dass du es bist, aber ich erkenne dich nicht wieder. Wer bist du? Was machst du an so einem Ort, warum geht es dir gut, warum bist du nicht gefangen und läufst frei herum, warum stehst du nicht auf meiner Seite?"
„Ich stehe auf deiner Seite", erwiderte Kee leise. Was für eine Lüge.
Eine Träne löste sich aus Ashs Augenwinkel und rollte quälend langsam über seine Wange. Kee schaute weg. Er hatte Ash Wiedersehen wollen, hatte er wirklich. Aber nicht so. Ihm war nicht klar gewesen, was er Ash angetan hatte und ihn jetzt so verletzlich, so zerrissen zu sehen, war schlimmer, als wenn er ihn nie wieder gesehen hätte.
„Ich kann-", fing Kee an, ohne zu wissen, was er überhaupt hatte sagen wollen. Es gab nichts, was die Situation besser gemacht hätte. Aber er konnte seinen Satz nicht beenden, denn plötzlich ertönte ein leises, qualvolles Stöhnen und sein Blick zuckte zu dem kleinen Mädchen auf dem Boden, das sich mit geschlossenen Augen und vor Schmerz verzerrtem Gesicht hin und herwand, als hätte sie einen schlimmen Albtraum, dem sie nicht entkommen konnte.
Sie hatte nicht mehr viel Zeit.
„Du musst sie hier wegbringen", sagte Kee mit Nachdruck. „Ihr Kopf ist nicht-"
„Du jetzt auch?", unterbrach Ash ihn, während er sich hinunter zu dem Mädchen beugte und mit so einer Vorsicht und Sanftheit ihre Stirn berührte, dass Kee wegschauen musste. „Was zur Hölle ist hier eigentlich los? Was ist mit ihr?"
„Sie kämpft gegen ihre eigenen Dämonen. Einen Kampf, den sie nicht gewinnen kann. Ich... Ich kann dir das alles erklären, wenn wir wieder zurück sind, aber-"
„Wir?", wurde er fassungslos unterbrochen, ein trostloses Lachen rutschte über Ashs Lippen. „Nein. Ganz bestimmt nicht. Ich gehe alleine mit Jean zurück."
„Verstehst du es denn immer noch nicht?", rief Kee wütend, lauter, als er es eigentlich beabsichtigt hatte. Verdammt, wie konnte Ash so naiv sein? „Sie wird hier nicht wieder aufwachen, genauso wenig wie du es hier alleine rausschaffen wirst! Bugriander wird die Baumnymphen nicht lange aufhalten, sie werden wieder zurückkommen und euch töten und ich hab nichts hier um euch zu beschützen!"
Ash richtete sich auf, sein Gesichtsausdruck hart wie Stein. Es hatte nicht den Anschein, als wären Kees Worte zu ihm durchgedrungen. Kee wollte schreien.
„Wir brauchen deinen Schutz nicht, Keighan", erwiderte Ash mit kalten Augen.
Kee wollte etwas sagen, wollte ihm klarmachen, was für einen Schwachsinn er von sich gab, doch bevor er das tun konnte, spitzten sich seine Ohren bei einem vertrauten, angsteinjagendem Geräusch.
Kee riss vor Panik die Augen auf – die königliche Garde.
Wie als würden sie seinen Gedanken bestätigen wollen, ertönte das tiefe Grummeln des Hornes noch einmal, diesmal viel näher als beim ersten Mal.
„Nein, nein, nein, nein!" Kee drehte sich panisch um seine eigene Achse, versuchte sich auf das Geräusch zu konzentrieren, um herauszufinden, aus welcher Richtung es kam und wie viel Zeit sie noch hatten, bevor man sie entdecken würde.
„Kee, was ist... Deine Ohren-"
Kee ignorierte den geschockten Ausdruck auf Ashs feinem Gesicht und fuhr ihn an. „Sei still, verdammt!"
Kees Herz setzte einen Schlag aus, als er das tiefe Donnern von dutzenden schweren Hufen wahrnahm, das direkt in ihre Richtung zu rasen schien.
Kee wirbelte zu Ash herum, sein Gesicht kreidebleich. „Ash, ich weiß du vertraust mir nicht, aber wenn die königliche Garde uns erwischt, sind wir alle tot. Ich kenne mich hier aus, hier in der Nähe gibt es einen Tunnel, der euch wieder zurück führen wird. Bitte lass mich euch helfen", flehte er. In diesem Moment war es ihm egal, wie verzweifelt er klang. Es gab keinen anderen Weg.
„Königliche Garde?", fragte Ash. „Wovon redest du, ich sehe hier nie-"
„Ash!", unterbrach Kee ihn fast schreiend. „Wir müssen hier weg!" Kee war sich im Klaren darüber, dass Ash die Gefahr nicht bemerken konnte. Das Horn der königlichen Garde gab Töne in Frequenzen von sich, die für das menschliche Gehör nicht zu erfassen waren. Und das Traben der Hufen der unaussprechlichen Kreaturen, auf denen die königliche Garde ritt, war nur für diejenigen zu hören, die etwas zu befürchten hatten. Und das hatte Kee auf jeden Fall, sollte man ihn erwischen.
Vielleicht war es die Panik in Kees Stimme gewesen, vielleicht war es aber auch einfach nur sein Überlebensinstinkt, der schließlich dazu führte, dass Ash sich zu Jean hinunterbeugte und ihren schlaffen, kleinen Körper über seine Schulter hievte. Was auch immer es war, Kee war unendlich dankbar dafür.
Ash nickte ihm mit angespanntem Kiefer knapp zu. Kee drehte sich ohne ein Wort herum und schlug sich durch das dunkle Dickicht, weg von der königlichen Garde und mit Ash auf seinen Fersen.
Sie erreichten ihr Ziel schneller als gedacht – es konnte nicht mehr als eine halbe Stunde gewesen sein, die sie durch den finsteren Wald gerannt waren.
Das steinerne Tor der Höhle ragte über ihnen, innen drinnen blickten sie einem endlosen, schwarzen Loch entgegen.
Kee lauschte einen Moment lang in die Stille hinein, doch das einzige Geräusch, das er vernehmen konnte, war Ashs schwerer Atem hinter ihm. Das Geräusch von donnernden Hufen war verschwunden. Aber für wie lange?
Kee drehte sich zu Ash um, der Jean gerade sanft auf dem Waldboden ablegte. Seine rabenschwarzen Haare waren zerzaust und einzelne Strähnen klebten an seiner verschwitzten Stirn. Und trotzdem hatte Ash nie schöner ausgesehen, als in diesem Moment.
Kee fühlte sich plötzlich seltsam leer und räusperte sich leise. „Du musst einfach nur geradeaus gehen, dann kommst du zurück. In ein paar Stunden sollte sie wieder aufwachen. Es kann sein, dass sie sich an nichts mehr erinnern wird, aber ich würde dir raten, es auch dabei zu belassen."
Kee war sich nicht sicher, ob Ash ihn überhaupt gehört hatte. Sein Blick galt nur dem kleinen Mädchen auf dem Boden. Selbst als er schließlich seinen Mund öffnete, würdigte er Kee keines Blickes.
„Das war's also?", fragte er mit heiserer Stimme. „Du wirst nicht mitkommen?"
Kees Herz sank in seiner Brust. „Ich kann nicht." So sehr er auch bei Ash bleiben wollte, es ging nicht.
„Hab ich mir gedacht", antwortete Ash leise.
„Es tut mir leid."
Ash blickte auf. Seine einzigartigen Augen durchbohrten Kee, als würden sie nach einer Antwort suchen, die er selbst nicht hatte. „Kann ich dich etwas fragen?"
Kee nickte leicht. Mehr brachte er unter Ashs Blick nicht zustande.
„Hast du mich jemals vermisst?"
Oh Ash, dachte Kee und meinte zu hören, wie sein Herz brach. Jeden einzelnen verdammten Tag. Und in der Nacht noch mehr.
Aber das konnte er nicht sagen.
Ash wandte enttäuscht seinen Blick ab und Kee konnte ihn nicht länger anschauen. Das war zu viel.
„Dann hoffe ich, dass wir uns nie wiedersehen werden." Ash hob Jean wieder hoch und betrat die Höhle, ohne einen letzten Blick zurückzuwerfen.
Das war's dann wohl endgültig. Es war besser so.
Kee blieb noch eine ganze Weile lang dort stehen. So lange, bis selbst seine Ohren die Schritte seines alten Freundes nicht mehr wahrnehmen konnten.
Schweren Herzens drehte er sich um und war nicht einmal zwei Schritte gegangen, als plötzlich ein verzweifeltes Schreien aus der Höhle echote.
Kee wirbelte herum – Ash schrie nach ihm.
Er zögerte nicht. Ohne zu wissen, was ihn erwarten würde, stürzte er sich in das tiefe, schwarze Loch der Höhle, welches ihn vollkommen verschluckte.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top