Kapitel 9


Die Jungs nehmen Noah herzlich in ihre Mitte auf, spätestens als er einen Sixer Bier auspackt, den er neben unserem Cider gekauft hat. Tatsächlich scheinen sich David und Noah sogar blendend zu verstehen und Eva ist nicht die Einzige, die sich deswegen ein Kichern verkneifen muss. Aber es ist schön und wie immer lässt der Weiher mich für ein paar Stunden alles drum herum vergessen.

Die Bucht, die die anderen ergattert haben, stellt sich tatsächlich als perfekt heraus. Der Einstieg ins Wasser ist nicht zu steil und durch das Schilf rechts und links bekommen wir von den anderen Besuchern kaum etwas mit. Wir sind also völlig ungestört, als wir mit einem Trinkspiel beginnen, wobei Noah gewissenhaft bei Wasser bleibt. Ich wiederum bemühe mich um große Schlucke von meinem Cider, in der Hoffnung Noah irgendwann nicht mehr anstarren zu müssen. Aber leicht ist es nicht, erst recht, seitdem er sein Shirt ausgezogen hat. Ich hätte nicht gedacht, dass man die paar Jahre unterschied zu David und den anderen merkt, aber Noah sieht erwachsener aus. Seine Schultern sind breiter, seine Muskeln definierter. Er wirkt nicht mehr, wie ein Junge, der im letzten Jahr einen Kopf größer geworden ist. Und ich weiß wirklich nicht wohin mit meinen Augen. Besonders als er nach Ende des Spiels anfängt, Edgar mit einer Luftpumpe aufzupumpen, und sein Bizeps eine magische Anziehung auf mich ausübt.

„Erde an May?"

Erschrocken zucke ich zusammen, als Allie mir einen kleinen Stoß versetzt. Sie grinst wissend und ich fahre mir frustriert über das Gesicht. Der Cider hat zwar nicht viel Alkohol, aber bei dem Wetter fühlt sich mein Kopf trotzdem wie in Watte gepackt an. Und leider scheint es meine Noah-Problematik nur schlimmer zu machen.

„Sorry, was hast du gesagt?"

„Ob du mit ins Wasser willst. Ich meine, ich kann dich auch weiter N..."

Ich schlage Allie auf den Arm, bevor sie weiterreden kann und sie bricht in schallendes Gelächter aus. Das kümmert mich jedoch nicht weiter, dafür bin ich zu sehr damit beschäftigt, unauffällig zu Noah zu linsen, ob er uns gehört hat. Das klappt nicht ganz gut, da er sich ausgerechnet diesen Moment aussucht, um sich mit einem stolzen Grinsen und Edgar unter den Arm geklemmt, zu uns zu drehen.

„Edgar ist dann auch fürs Wasser bereit."

„Edgar?", fragt Eva verwundert und blickt von ihren Armen auf, die sie gerade eincremt. Sie ist neben uns die Einzige, die noch am Ufer steht. David, Rico und Max befinden sich bereits in einer ernsthaften Wasserschlacht und bekommen glücklicher Weise nichts davon mit, wie ich am liebsten im Boden versinken würde.

Noahs Grinsen wird noch etwas breiter und er tätschelt dem grünen Drachen den Kopf. „Mays und mein treuer Wasserdrache. May war früher kaum aus dem Wasser zu bekommen und ist mit Edgar den ganzen Weiher lang gepaddelt. Im Übrigen hat er diesen grausamen Namen nicht mir zu verdanken. Ich hätte ihn Blitz getauft."

Meine Wangen leuchten wahrscheinlich wie Alarmsirenen, aber ich schaffe es Noah Edgar zu entziehen und den Drachen eng an mich zu drücken. „Wer nennt einen Drachen schon Blitz? Das passt so gar nicht."

„Stimmt, da ist Edgar deutlich besser." Allies Worte sind trocken, aber ihr ist anzusehen, wie sehr sie sich amüsiert. Dabei bringt mein Mörderblick sie nur noch breiter zum Grinsen.

„Also ich finde den Namen total niedlich." Eva kommt mit großen Augen zu mir rüber und tätschelt Edgar, als wäre er ein lebendes Wesen und nicht nur mit Luft aufgepumpt. „Ich kann mir so gut vorstellen, wie May und Noah als Kinder damit im Wasser geplanscht haben. Ihr wart bestimmt so süß."

Ich gebe ein ersticktes Stöhnen von mir. Gott, Eva hört sich ja fast wie meine Mutter an, wenn sie alte Bilderalben auspackt. Dabei ist das letzte, woran ich denken will, wie Noah und ich früher zusammen gespielt haben, wenn ich jetzt am liebsten ganz andere Dinge mit ihm machen würde. Der Gedanke treibt mir endgültig das Blut ins Gesicht und ich beschließe, dass es dringend Zeit für eine Abkühlung wird.

„Macht euch nur weiter lustig. Edgar und ich gehen jetzt ins Wasser."

Dann laufe ich mit so viel Stolz los, wie man nun mal mit einem grünen Drachen im Arm haben kann. Dass ich es schaffe mich elegant vom Ufer aus auf Edgar gleiten zu lassen, während eine Wasserfontäne David und Rico trifft, steigert den Coolheitsfaktor etwas und lässt mich mit einem entspannten Grinsen weiter auf den Weiher hinaustreiben.

Ich lege mich rückwärts auf Edgar, sodass mein Kopf gemütlich auf seinem Hals ruht und winkle ein Bein an, in der Hoffnung aus der Entfernung entspannt und sexy auszusehen. Tatsache ist jedoch, dass Edgar mir früher deutlich größer vorkam und ich mir Mühe geben muss, nicht seitlich runterzurutschen. Dabei schenkt mir wahrscheinlich sowieso niemand Aufmerksamkeit.

Eva wird gerade quiekend von Allie ins Wasser gezogen, die kein Erbarmen für unsere kälteempfingliche Freundin zeigt. Die beiden geraten direkt in Schusslinie der Jungs und während Eva sofort versucht wieder an Land zu fliehen, macht Allie ihrem Berufswunsch alle Ehre und stürzt sich mitten ins Gefecht. Ich bin so abgelenkt von dem lustigen Anblick, dass wir die entscheidende Frage zu spät einfällt. Wo ist Noah?

Mit einem Schrei rutsche ich von Edgar, als dieser plötzlich Schräglage bekommt und tauche samt Kopf im Wasser ab. Prustend strample ich mich wieder an die Luft und schaue mich für einen Moment orientierungslos um, bis ich Noah entdecke, der grinsend mit dem Oberkörper auf Edgar hängt.

„Du kannst Edgar doch nicht einfach so für dich beanspruchen."

Ich bekomme Noahs spaßhaft anklagenden Worte kaum mit. Zu sehr bin ich davon abgelenkt, wie seine nassen Haare in der Sonne glitzern, während sich eine einzelne Locke auf seine Stirn verirrt hat. Sie gibt ihm ein verwegenes Aussehen, das viel zu gut zum Funkeln seiner Augen passt. Und dann ist da noch diese verdammte Kette im Army Style, die um seinen Hals hängt und mir den letzten Nerv raubt. Am liebsten hätte ich daran seinen Kopf zu mir gezogen, bis unsere Lippen...

Platschend schlägt das Wasser erneut über meinem Kopf zusammen, als ich dieses Mal absichtlich abtauche. Sowas darf ich nicht denken. Das kann nur in einer absoluten Katastrophe enden, die wahrscheinlich damit zu tun hat, dass ich mich absolut zum Affen mache. Es ist schon offensichtlich genug, wie ich Noah anschaue. Wenn ich jetzt mir auch noch ausmale, wie wir uns küssen... ich könnte mir auch gleich ein Schild mit verknallt um den Hals hängen. Nein, so dumm dastehen will ich nicht nochmal. Noah ist nicht der Einzige, der in den letzten Jahren erwachsener geworden ist. Ich bin kein Kind mehr, dass für ihren älteren Nachbarn schwärmt. Und wenn Noah Spielchen spielen will, kann ich das auch.

Mit kräftigen Schwimmzügen tauche ich um Edgar rum und sehe gebrochen durchs Wasser, wie Noah sich verwirrt umschaut. Also passe ich die Sekunde ab, in der er genau in die andere Richtung blickt, schieße aus dem Wasser hoch und lande mit einer Wasserfontäne auf seinem Rücken.

Während ich einen triumphierenden Schrei von mir gebe, flucht Noah heftig und gibt sein bestes Edgar vom Kentern abzuhalten. Dabei greift er mit einer Hand hinter sich und hält mich am Oberschenkel fest, um mein Gewicht besser austarieren zu können. Die Berührung ist weder unsanft noch unangebracht, trotzdem brennt sie sich in meine Haut. Ich beiße mir gerade noch rechtzeitig auf die Lippe, um keinen verräterischen Laut von mir zu geben. Auch nicht als Noah sich von seinem Schock erholt und mit einem Auflachen den Kopf zu mir wendet, während sein Daumen langsame Kreise auf meiner Haut zieht. Holy... nun vielleicht fällt mein nächster Atemzug doch zittriger als gewollt aus.

„Okay, okay. Edgar ist groß genug für uns beide."

Noahs Augen funkeln im Licht der Sonne so absurd blau, dass ich mich nicht davon losreißen kann. Wieso bekomme ich den Gedanken einfach nicht aus meinem Kopf, wie nah unsere Lippen beieinander sind? Mein Blick huscht für eine Sekunde von seinen Augen hinunter zu seinem Mund und als ich zu dem strahlenden Blau zurückkehre, habe ich den Eindruck, als wären wir uns noch ein Stück näher gekommen. Mein Atem stockt. Will er es vielleicht auch? Spürt er diese Anziehung zwischen uns, genauso wie ich?

Ich habe fast genug Mut zusammengekratzt, um es herauszufinden, als uns beide frontal ein Stoß Wasser trifft und ich erschrocken nach hinten zucke. Das bringt Edgar endgültig ins Ungleichgewicht und ich kann gerade so noch nach Luft schnappen, bevor mein Kopf ins Wasser taucht.

Noah ergeht es nicht besser. Ich spüre seinen Körper an meinem wie er sich unter Wasser dreht, und will mich schon nach oben strampeln, als sich seine Hände um meine Taille schließen und er mich dicht an sich zieht. Seine warme Brust an meiner ist ein starker Kontrast zum Kühl des Wassers und wie von selbst schließen sich meine Beine um seine Hüfte, während er uns mit kräftigen Schwimmzügen durchs Wasser gleiten lässt. Der Moment fühlt sich wie eine Ewigkeit an und ich versuche mir jedes Detail einzuprägen. Von Noahs breiten, wohlgeformten Schultern unter meinen Händen zu dem berauschenden Gefühl in meinem Bauch. Aber irgendwann brauchen wir beide Sauerstoff und die Unendlichkeit des Moments zerspringt mit unseren Köpfen, die die Wasseroberfläche durchbrechen.

Begierig schnappe ich nach der Luft und versuche den zotteligen Vorhang, der sich meine Haare nennt, aus meinem Gesicht zu streichen. Ich sehe wahrscheinlich wie eine Mumie aus, die in ihre eigenen Haare eingewickelt wurde. Klar, dass es in den wichtigen Momenten nicht wie bei den Hollywood-Stars funktioniert, die mit perfekt nach hinten gespülten Haaren aus dem Wasser auftauchen.

Da ich immer noch nicht wirklich etwas sehe, kann ich nur hören, wie Noah lacht, kurz bevor seine großen rauen Finger dabei helfen, mein Sichtfeld zu lichten. „Warte, ich glaube so geht das schneller."

Ich erhasche gerade einen Blick auf ihn, da lehnt er mich in seinen Armen nach hinten, bis mein Kopf wieder halb unter Wasser ist und meine Haare mich sanft umspülen. Dabei wird mir erst bewusst, dass ich meine Beine immer noch um ihn geschlungen habe, und die Intimität der ganzen Situation, lässt mir die Röte in die Wangen steigen.

Aber ich zwinge mich zu entspannen, während Noahs Finger vorsichtig über mein Gesicht gleiten, um die letzten Strähnen zu bändigen. Danach richtet er mich sanft wieder auf und für eine Sekunde ist mein Gehirn auf Standby. Ich nehme weder die anderen wahr, deren Wasserschlacht Edgar erreicht und uns zum Kentern gebracht hat, noch formt sich auch nur ein anständiger Satz in meinem Kopf, obwohl ich dringend etwas sagen sollte, um Noah nicht nur wie eine Verrückte anzustarren. Wenigstens scheinen seine Augen genauso jedes Detail meines Gesichts abzutasten. Ich meine fast etwas wie Überraschung in ihnen aufblitzen zu sehen, als er mich plötzlich loslässt und mit einem Schwimmzug Abstand zwischen uns bringt.

„Komm, den zeigen wir's."

Der Körperkontakt ist so unvermittelt verschwunden, dass meine Beine für eine Sekunde nicht mehr wissen, wie man schwimmt. Ich plansche daher eher unbeholfen, während Noah sich umdreht und mit kräftigen Zügen zu den anderen aufschließt. Erst als mein Gehirn und mein Körper sich wieder gefangen haben, schaffe ich es Worte zu formulieren, auch wenn Noah schon zu weit entfernt ist, um sie zu hören.

„Ja klar, den zeigen wir's."

Doch um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, wer es hier gerade wem gezeigt hat.

Eine ausgiebige Wasserschlacht später, in der ich vermieden habe, Noah nochmal zu nahe zu kommen, entspannen Allie, Eva und ich auf unseren Handtüchern, während die Jungs einen Ball hin- und herwerfen. Glücklicherweise scheint niemand die Situation zwischen Noah und mir im Wasser mitbekommen zu haben, auch wenn Eva auffällig oft den Namen „Edgar" fallen lässt. Dadurch habe ich Zeit, mich erstmal selbst mit dem Wirrwarr in meinem Kopf auseinanderzusetzen, als ich mich in die Sonne lege und entspannt die Augen schließen will. Die Ruhe währt allerdings nur kurz.

„Oh May, ich habe ganz vergessen, dir unsere neue Choreo zu zeigen!"

Evas Ausruf lässt mich blinzelnd wieder die Augen öffnen und die Bedeutung ihrer Worte braucht einen Moment, bis sie mein Gehirn erreicht. Dann sinkt mein Herz allerdings sofort, denn was Eva meint, ist der erste Tanz, den ich nicht mehr in unserer Gruppe mitlerne. Obwohl... unsere ist wohl auch nicht mehr der richtige Begriff.

„Ach alles gut. Ich...", um ehrlich zu sein, bin ich mir selbst nicht sicher, welche Ausrede mir als nächstes aus dem Mund gepurzelt wäre, aber Eva überhört meinen Einwand sowieso.

„Wir haben letzte Woche eine ziemlich gute Aufnahme hinbekommen. Hier schau Mal!"

Und schon wird mir ihr Handy unter die Nase gehalten und die ersten Töne von Believer – Imagine Dragons erklingen. Ich unterdrücke einen schweren Seufzer, trotzdem fesselt mich die Choreografie von Sekunde eins an. Sie ist fantastisch. Anspruchsvoll und gefühlvoll und ich würde nichts lieber machen, als sie selbst zu tanzen. Eva steht in dem Video ganz vorne. Das war im Training schon immer so. Sie hat einfach eine Begabung für Tanz und Gesang. Früher habe ich neben ihr gestanden, wir haben uns angelächelt, wenn eine besonders schwere Drehung geklappt hat, und sind uns jauchzend in die Arme gefallen, sobald die Gruppe den Tanz fehlerfrei konnte. Jetzt steht da Ella und obwohl ich mich immer gut mit ihr verstanden habe, hätte ich am liebsten angemerkt, dass sie die Rolle auf dem Boden immer noch nicht richtig macht.

„Die Choreo ist echt toll. Sieht aus, als würde sie richtig Spaß machen." Die Worte fühlen sich zäh in meinem Mund an und ich spule nochmal ein Stück zurück, um zu vermeiden, Eva anschauen zu müssen. Aber wahrscheinlich hätte Eva meine Bedrückung nicht Mal bemerkt, so aufgekratzt ist sie mit einem Mal.

„Nicht wahr? Und weißt du was: ich habe sogar einen Teil davon entwerfen dürfen. Es war so cool, als alle synchron meine Schritte nachgemacht haben." Aufgeregt springt sie auf und ich muss gegen die Sonne anblinzeln, um zu sehen, wie sie in die Hände klatscht.

„Komm, ich zeig dir wie es geht. Du bekommst das easy hin."

Ich fühle mich wie gelähmt, als Eva mich auf die Füße zieht. Das letzte, was ich will, ist jetzt tanzen. Für was auch? Ich werde nicht mehr mit den anderen auftreten und bin mir auch so schmerzhaft bewusst, was ich verloren habe. Allerdings bin ich nicht bereit, das laut vor den anderen zuzugeben.

„Das macht hier doch gar keinen Sinn. Der Boden ist viel zu uneben und..."

„Ach komm, das hat dir noch nie etwas ausgemacht. Weißt du noch, wie wir auf Klassenfahrt allen den Freestyle beigebracht haben?" Kichernd zieht sich Eva ihr Shirt über den Bikini. „Wir standen Mitten in Berlin und haben einen richtigen Flashmob ausgelöst."

Das war tatsächlich ziemlich cool. Sobald David, Rico und Max dabei waren, hat sich auch die restliche Klasse überzeugen lassen. Selbst unsere Lehrerin hat mitgemacht. Eva und ich hatten so viel Spaß, dass ich am nächsten Morgen Bauchmuskelkater vom Lachen hatte.

Ich zögere mit weiteren Widerworten, was Eva anscheinend als Zustimmung nimmt und mir mein Kleid zuwirft. Das landet bei meinen Reflexen direkt in meinem Gesicht und bis ich mich wieder sortiert habe, spielt bereits die Musik, während Eva mich zu sich winkt. Hilfesuchend blicke ich zu Allie. Die hat es sich allerdings bereits auf unserer Picknickdecke bequem gemacht und gibt mir mit einer Handgeste zu verstehen, dass sie bereit für die Show ist. Klasse.

Ein kurzer Seitenblick zu den Jungs verrät mir, dass auch sie uns neugierig beobachten, und ich gebe mich innerlich geschlagen. Mich jetzt zu weigern, würde alles nur noch peinlicher machen.

Frustriert stapfe ich zu Eva und murre ein „Ich hasse dich" während ich mein Kleid überziehe.

„Tust du nicht", zwitschert Eva und dann liegt ihre volle Aufmerksamkeit darauf, mir die Schritte zu zeigen. Dabei singt sie die Melodie, um nicht ständig das Lied neustarten zu müssen, und mir wird Mal wieder bewusst, wie talentiert meine Freundin ist. Ihre Stimme ist wie flüssiger Honig und wird rau und kantig, an den richtigen Stellen. Auf die Art und Weise haben wir schon so oft Tänze zu Hause geübt, dass ich mich gar nicht wehren kann.

Widerwillig mache ich ihre Bewegungen nach und komme schnell in den Rhythmus rein. Eva hat Recht: auch wenn kompliziertere Elemente in der Choreo enthalten sind, gehen sie mir leicht von der Hand. Genau genommen bin ich selbst überrascht, wie die Abfolgen nach all den Monaten immer noch ganz automatisch ablaufen.

Es dauert keine zehn Minuten und wir können die erste Minute durchtanzen. Dabei erwische ich mich selbst bei einem Lächeln und kann nicht anders, als ein kleines Extra einzubauen und in einem handlosen Rat durch die Luft zu wirbeln – ein Überbleibsel meiner Turnerkarriere als Kind - bevor ich im Gleichtakt mit Eva in eine Bodenrolle übergehe. Der Tanz fühlt sich an, wie von Ebbe und Flut hin und her gerissen zu werden. Er drückt Leid und Hoffnung zu gleich aus und ich vertiefe mich in den Bewegungen, bis ich einfach nur noch bin.

Es ist fantastisch und ich werde mir unserer Zuschauer erst bewusst, als David laut „Wuhhh May!", brüllt und alle in begeistertes Klatschen verfallen.

Erschrocken blicke ich aus der Abschlusspose auf, in der wir mitgenommen von dem Lied auf dem Boden liegen. Die Jungs sitzen mit Allie auf der Picknickdecke, dabei habe ich nicht Mal mitbekommen, wie sie den Ball weggelegt haben. Ich kann nichts dagegen tun, dass mein Blick wie magisch angezogen zu Noah wandert und merke, wie meine Wangen glühen, als ich die Bewunderung in seinen Augen sehe. Er lächelt mich strahlend an und nimmt zwei Finger zwischen die Lippen, um einen lauten Pfiff auszustoßen.

Ich beiße mir auf die Lippen, um ein breites Grinsen zu unterdrücken. Aber das ändert nichts an meinem schnell schlagenden Herzen oder dem freudigen Kribbeln in meinem Körper. Das liebe ich am Tanzen. Ich fühle mich vollkommen losgelöst und das Lachen, mit dem ich Eva aufhelfe, nachdem ich mich selbst aufgerappelt habe, fühlt sich seit langem Mal wieder ehrlich an.

„Die Choreo ist genial. Du kannst richtig stolz auf deinen Part sein."

Eva sieht wie ein fünfjähriges Mädchen aus, dem man versprochen hat, ins Disneyland zu fahren. Und ich kann es verstehen. Sie ist eine Künstlerin mit Leib und Seele.

„Das war unglaublich, ihr zwei. Könnt ihr mir einen Socken von euch mit Autogramm geben? Dann kann ich ihn verkaufen, wenn ihr berühmt seid."

Rico grinst uns an und Eva verpasst ihm augenverdrehend einen Schlag auf die Schulter, bevor sie sich neben ihn auf die Decke fallen lässt. Damit bleibt genau ein Platz zwischen Noah und David übrig. Perfekt.

Zögerlich gehe ich auf die zwei zu und bekomme von beiden Platz gemacht. Sie wirken dabei so ähnlich, wie sie lächelnd zu mir aufblicken und dann ein Stück zur Seite rücken, dass ich beinahe ein hysterisches Lachen von mir gegeben hätte. Dabei gibt es gar keinen Grund, die Situation unangenehm zu empfinden. Zwischen David und mir ist schon lange alles geklärt. Und zwischen Noah und mir... naja, da war nie mehr als eine Fantasie in meinem Kopf.

Also gebe ich mein Bestes, das losgelöste Gefühl vom Tanzen nicht zu verlieren, und lasse mich mit einem unverbindlichen Lächeln neben sie fallen.

„Das war echt beeindruckend. Ich wusste gar nicht, dass du tanzt."

Noah schaut ehrlich interessiert, während ich möglichst beteiligungslos mit den Schultern zucke und mir ein Stück Wassermelone schnappe, die die anderen inzwischen aufgemacht haben.

„Getanzt habe. Aber ist doch nichts Besonderes dabei."

„Nichts Besonderes? Du hast dich einmal in der Luft überschlagen und bist so elegant in die nächste Bewegung übergegangen, als wäre es das normalste der Welt." David rempelt mich freundschaftlich mit der Schulter an und ich verstecke ein verlegenes Lächeln hinter dem Stück Wassermelone.

„Da schließ ich mich an. Nichts Besonderes ist Inlineskater fahren können oder Mandalas ausmalen. Das sah verdammt besonders aus."

Von beiden Seiten mit Komplimenten überhäuft zu werden überfordert mich dezent. Ich schaffe es kaum Noahs Blick zu begegnen, während mich beide erwartungsvoll anschauen.

„Also ich finde Inlineskater fahren gar nicht so leicht", murmle ich letztendlich und schnappe mir schnell ein neues Stück Melone, um beschäftigt zu sein.

„Typisch May", schnaubt David, legt jedoch gleichzeitig einen Arm um mich. Ich weiß, für ihn ist damit das Thema durch und es gibt mir eine gewisse Sicherheit, meinen Kopf an seine Schulter zu lehnen, auch wenn ich mir Noahs Aufmerksamkeit nur zu bewusst bin. Er betrachtet uns beide neugierig und obwohl ich etwas in seinen Augen aufblitzen sehe, wirkt seine Miene ganz entspannt, als er mich wieder direkt anschaut.

„Wieso tanzt du nicht mehr? Man hat gesehen, wie viel Spaß du hattest. Und ob du es annehmen willst oder nicht – du warst verdammt gut."

Sofort glühen meine Wangen wieder. Aber ich besinne mich auf den ersten Teil seiner Worte und das wirkt ähnlich, wie ein Eimer Eiswasser. Sofort legt sich die altvertraute Schwere auf mich und ich zucke bedeutungslos mit den Schultern.

„Scheidungen sind teuer."

Mehr sage ich nicht, aber Noah scheint auch so zu verstehen. Ein Schatten legt sich auf sein Gesicht und als ich das Mitleid in seinen Augen sehe, muss ich mich abwenden, damit mir nicht die Tränen kommen. Es reicht, ihm gezeigt zu haben, wie viel mir das Tanzen bedeutet. Er muss nicht auch noch wissen, wie tief der Schmerz sitzt, es verloren zu haben.

„Tja, genug von mir. Der eigentliche Star ist hier Eva. Wie kann in einer so kleinen Person eigentlich so viel Talent stecken?"

Ich schalte um auf mein Fake-Lächeln und kuschle mich noch näher an David, um ganz klar zu signalisieren, dass ich an keinem Gespräch interessiert bin. Es dauert trotzdem einen Moment, bis ich Noahs Blick nicht mehr auf mir ruhen spüre. Und nochmal deutlich länger, bis mein Herzschlag sich beruhigt hat.

„Also ich sehe auf jeden Fall keinen Grund, weshalb du nicht stickreich werden solltest." Noah wechselt genauso schnell wie ich von der ernsten Stimmung zwischen uns, auf seine lockere Art. Die Anspielung auf unser Gespräch im Auto, lässt Eva lachen, bevor sie lässig abwinkt.

„Klaro, ich lade euch dann in meine Strandvilla in Malibu ein."

Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie Noah sein Zahnpastalächeln zeigt, das wohl jedes Mädchen in die Knie zwingt. „Darauf verlasse ich mich. Aber nein wirklich, du könntest der nächste Social Media Star werden. Hast du einen Account, dem man folgen kann?"

Es ist selten, dass ich Eva verlegen sehe, aber bei der Frage beginnen ihre Wangen zu glühen.

„Nene, nur meinen privaten Account. So gut bin ich auch wieder nicht." Als sie dieses Mal lacht und abwinkt, wirkt es schon deutlich weniger lässig, was mich aufmerken lässt. Wann auch immer es in unserer Schulzeit die Möglichkeit gab, auf einer Bühne zu stehen, hat sie Eva ergriffen. Und davor war sie nie nervös, eher ein Bündel voller freudiger Energie. Doch die Idee, ihr Talent im Internet zu zeigen, macht sie eindeutig verlegen.

„Das ist eigentlich eine klasse Idee. Du könntest dich einfach dabei filmen, wenn du zu Hause übst, und ein bisschen auf Social Media präsent werden. Ich bin mir sicher, die Leute werden dich lieben und wer weiß, was sich dann ergibt."

Vorsichtig beobachte ich Evas Reaktion. Ich finde die Idee wirklich klasse, aber ich will sie hier vor allen nicht zu etwas drängen, das sie nicht will. Und die Art und Weise, wie sie die Augenbrauen zusammenzieht und auf ihre Hände schaut, sagt mir, dass sie kein Interesse hat, das Thema zu vertiefen.

„Kann schon sein. Oder alle finden es absolut lächerlich und es kursieren mein Leben lang peinliche Videos von mir im Internet."

Die Worte sind nur ein leises Murmeln, trotzdem sind die Zweifel laut herauszuhören. Und Eva so still und klein zu sehen, tut weh. Das ist nicht sie. Also unterbreche ich das Gespräch, bevor Rico, der bereits den Mund aufgemacht hat, tiefer bohren kann.

„Oh, ich kann mich da an ein Video von zwei zehn Jährigen erinnern, die sich einen Einkaufswagen gestohlen haben, und dann menschliches Bowling mit Mülltonnen spielen wollten."

Mit hochgezogenen Augenbrauen mustere ich Max und Rico, kann mir das Schmunzeln aber nicht verkneifen, als die beiden bei der Erinnerung breit zu grinsen beginnen.

„He, hätte Max' seine Mom uns nicht in letzter Sekunde erwischt und verboten es zu machen, wären wir jetzt Internetstars."

„Genau, dann würden wir uns nicht mehr mit so Losern wie euch abgegeben."

Die beiden klatschen sich über Allies Kopf hinweg ab, was ein herrliches Bild ergibt, als diese zugleich die Augen verdreht.

„Ihr könnt uns auch gerne so den Gefallen tun und gehen." Allie bedenkt die zwei mit einem scharfen Lächeln und ich sehe genau, als Max und Rico sich einen bedeutungsvollen Blick zuwerfen. Manchmal kommt es einem so vor, als würden sie sich ein Gehirn teilen. Anders kann ich mir zumindest nicht erklären, wie sie, ohne ein Wort auszutauschen, sich zeitgleich Allie packen und Richtung Weiher tragen.

Die Arme trampelt und kreischt, aber kann nichts gegen die Jungs tun, bis sie mit einem Platsch im Wasser landet.

„Ihr seid tot!", ist das letzte, was ich von ihr höre, bevor ich selbst mit Quietschen und strampeln beschäftigt bin, weil David mich hochgehoben hat.

„Wasserschlaaaaacht!"

Mit diesem Kampfschrei werde ich durchgerüttelt, während David ins Wasser joggt. Mein letzter Blick gilt Noah, der mich mit schief gelegtem Kopf beobachtet, bevor trübes Weiherwasser sich über meinem Kopf zusammenschließt.

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