Kapitel 7
Wer auch immer Montagmorgende erfunden hat, ist der Hölle entsprungen. Ich schleppe mich von meinem Bett ins Bad, wobei ich nicht weniger als drei Mal mit Tim aneinander gerate. Gott sei Dank gehen wir zumindest nicht auf die gleiche Schule. Andernfalls müsste ich meinen Nachnamen ändern, um bloß nicht mit ihm in Verbindung gebracht zu werden. So kann ich ein wenig später genervt, aber zumindest mit meinem Frieden für die nächsten sieben Stunden über den Schulhof schlürfen und mich bei meinen Freunden einordnen, bis wir ins Gebäude dürfen.
Es ist ganz witzig: Während Max, Rico, Allie und ich am Morgen kaum ein Wort rausbekommen, ohne zu murren, sind David und Eva bereits das pure Leben. Die beiden tauschen sich über irgendetwas peinliches aus, das jemand aus unserem Jahrgang gepostet hat, aber ich höre nur mit halben Ohr zu. Es dauert bis zur dritten Stunde, bis ich ein kommunikationsfähiges Wesen bin, aber das macht Eva wenig aus, die eigentlich immer neben mir sitzt. Glücklicher Weise sind wenigstens die Fächer bis zur Mittagspause angenehm. Mit Englisch und Geschichte komme ich gut zurecht. Umso schlimmer wird die zweite Tageshälfte mit Mathe und Chemie, was mich unweigerlich daran erinnert, dass ich dringend jemanden brauche, der mit mir Mathe aufarbeitet.
Ich verkneife mir das frustrierte Stöhnen, während ich mit den anderen in der Cafeteria sitze. So viel also dazu, dass ich das allein schaffe. Ein kleiner trotziger Teil von mir würde das Problem gerne einfach ignorieren. Allerdings sind wir erst am Anfang des Themenblocks und in der Klausur in einem Monat werden noch deutlich schwerere Aufgaben drankommen als im vergangenen Test. Also muss ich mir zumindest die Grundlagen irgendwie reinprügeln. Unmotiviert schiebe ich die letzten Reste meiner Kartoffeln auf dem Teller hin und her.
„Fängt das jetzt schon wieder an? May, Essen gehört in den Magen. Nicht zerstückelt auf den Teller."
Eva hat einen kritischen Lehrerblick aufgesetzt, aber ihre Mundwinkel zucken. Ich verdrehe gespielt genervt die Augen und schiebe mir mit großer Geste eins der Kartoffelstücke in den Mund. „,Besser Mama?"
„Nein, erst wenn du mir sagst, was los ist."
Obwohl Eva nun richtig lächelt, sind die Worte deutlich ernster gemeint als zuvor. Ihre Besorgnis rührt mich und bevor ich darüber nachdenken kann, purzeln die Worte schon aus meinem Mund.
„Es ist dieser verflixte Mathetest von letzter Woche. Ich habe keine Ahnung von dem Thema und check es allein auch einfach nicht."
Den Teil mit meinem Dad lasse ich aus, aber Eva kennt mich und meine Matheschwäche seit Jahren. Den Rest kann sie sich selbst zusammenreimen.
Voller Mitgefühl schaut sie mich an und ich muss den Blick senken, weil es mir unangenehm ist.
„Dann komm ich einfach am Mittwoch mit zu dir und wir büffeln ein bisschen. Es sollen ja sowieso die letzten zwei Stunden ausfallen."
Eva greift über den Tisch nach meiner Hand und ich werfe ihr ein dankbares Lächeln zu.
„Ihr zwei und Mathe? Wahrscheinlich habt ihr nach dem Nachmittag Pi neudefiniert. Das kann ich nicht mitanschauen. Ich bin auch dabei."
Überrascht schnalzt mein Blick zu Allie, die auf beteiligungslos tut. Aber ich weiß, was hinter ihrer abweisenden Körperhaltung steckt und hätte sie am liebsten geknuddelt. So sehr ich Eva auch liebe, wir beiden hätten uns wirklich kein Stück weitergebracht. Aber mit Allie... sie wurde schon in der Grundschule für ihr Mathetalent gefördert.
„Danke Allie, das bedeutet mir echt viel."
Meine Worte werden mit einer Handbewegung abgetan, doch die leichte Röte auf ihren Wangen, kann sie nicht so leicht verstecken und ich muss mir auf die Lippen beißen, um nicht zu grinsen. Das letzte was Allie will, ist als mitfühlend oder hilfsbereit geoutet zu werden. Also tue ich ihr den Gefallen und gehe nicht weiter darauf ein.
„Also bei Mathe bin ich raus, aber am Mittwoch sollen nochmal die 35 °C geknackt werden. Was haltet ihr von einer Abkühlung am See, wenn eure Köpfe dann rauchen?"
Rico klaut sich eine Karotte von Evas Teller und bekommt dafür eins auf seine Hand. Aber ansonsten löst sein Vorschlag zustimmendes Brummen aus und ich hätte meine Freunde am liebsten alle fest umarmt. Nicht nur, dass sie mir helfen, sie haben die Aussicht aufs Mathepauken sogar zu etwas Schönem verwandelt. Ich könnte niemanden mehr lieb haben als die fünf in diesem Moment.
Ansonsten verlaufen Montag und Dienstag weitestgehend unspektakulär. Die Lehrer bombardieren uns mit Lehrstoff und lassen keine Möglichkeit aus, uns daran zu erinnern, wie relevant ihr Fach fürs Abitur ist. Denkt eigentlich wirklich jeder Lehrer, dass sich die Welt um sein Fach dreht? Anders kann ich mir die schiere Menge an Übungsaufgaben nicht erklären, die wir von jedem mit nach Hause bekommen. Ich lasse die Arbeitsblätter eins nach dem anderen in meiner Tasche verschwinden, in der Hoffnung, dass sie damit auch aus meinem Gedächtnis verschwinden. Keine Ahnung, woher ich die Zeit oder die Motivation für all das hernehmen soll. Also lasse ich es das Problem der Zukunfts-May sein.
Da Mom die Woche Frühschicht hat und mittags daheim ist, erzähle ich ihr von den Lernplänen mit Eva und Allie und sie ist hellauf begeistert.
„Die beiden habe ich ja schon Ewigkeiten nicht mehr gesehen! Natürlich können sie herkommen. Du hast echt tolle Freundinnen, dass sie sich mit dir zusammensetzen."
Obwohl Mom es wahrscheinlich nicht so gemeint hat, stechen die Worte. Als wäre ich völlig minderbemittelt was Mathe angeht. Aber kann ich da denn widersprechen? Also habe ich nur gelächelt und genickt.
Glücklicher Weise vermitteln Eva und Allie mir nicht das Gefühl, mathedumm zu sein, als wir schließlich mittwochs draußen auf unserer Terrasse sitzen und büffeln. Na gut, Eva gibt mir nicht das Gefühl. Allie stöhnt in regelmäßigen Abständen über Evas und meine Inkompetenz. Aber das ist gerechtfertigt.
„Leute, was habe ich euch vor zehn Minuten zum Invertieren erklärt?"
Allie hat ihre Brille auf, die sie in der Schule niemals auspackt, selbst wenn wir ihr jeden Tafelaufschrieb diktieren müssen. Umso mehr hat der dicke schwarze Rahmen nun den Effekt, dass sie wie eine strenge Lehrerin wirkt, die uns gleich mit dem Lineal auf die Finger haut. Eva hat wohl den gleichen Gedanken, denn ich erwische sie dabei, wie sie sich heftig auf die Lippen beißt, um nicht loszulachen. Ich räuspere mich, um mein eigenes Kichern herunterzuschlucken und spicke für die richtige Antwort auf meine Notizen. Meine Erklärung scheint Allie zumindest zufriedenzustellen, denn sie nickt grimmig und will zu ihrer nächsten Lektion ansetzen, als meine Mom mit einem Tablett Eiskaffees rauskommt.
„So ihr Süßen, hier eine kleine Erfrischung bei der Hitze."
Eva stößt ein begeistertes Jauchzen aus und selbst Allie tauscht ihre sonst eher finstere Miene gegen ein Lächeln. Das lässt einen kleinen Teil der Anspannung, die sich in mir aufbaut sobald ich meine Mom sehe, von mir abfallen. Die Geste ist wirklich lieb von ihr.
Lächelnd nehme ich mein Glas entgegen. „Danke Mom."
Sie zwinkert mir zu und wirft ein Blick auf meinen Block. „Oh je, das sieht ja gruselig aus."
„Absolut!", pflichtet ihr Eva zu und schlürft glücklich an ihrem Eiskaffee. „Aber die gute Allie hat eine Engelsgeduld mit uns."
Evas Grinsen bringt Allie zum Augenverdrehen, denn wenn sie eins nicht hat, dann eine Engelsgeduld. Aber das weiß Mom ja nicht, also lacht sie nur herzlich. „Das ist wirklich sehr lieb von ihr. So ein Mathe-Genie hätte ich früher auch in meinem Freundeskreis gebrauchen können."
Ich rutsche unangenehm berührt auf meinem Stuhl hin und her. Wieso muss Mom immer alles kommentieren? Aber da es nur noch unangenehmer werden würde, wenn ich mich jetzt einschalte, bleibe ich still und starre konzentriert an Evas Kopf vorbei in den Garten der Millers. Wenn ich Mom ausblende, geht sie vielleicht irgendwann.
„Das stimmt. Dafür müssen wir dir später am See wohl eine Pommes ausgeben."
Allie, die alles andere als die Aufmerksamkeit genießt, gibt nur ein Gebrumme von sich und scheint ganz vertieft in ihren Eiskaffee. Das passt gar nicht zu ihrem sonst so taffen auftreten, aber wer sie etwas länger kennt, weiß dass Allie einen weichen Kern hat. Und wer sie so lange kennt wie ich, weiß, dass sie gelernt hat elterliche Aufmerksamkeit zu vermeiden. Egal, ob sie positiv oder negativ ist.
Also verpasse ich Eva einen kleinen Tritt unterm Tisch, damit sie aufhört Allie absichtlich zu sticheln. Aber Mom hat sich sowieso schon auf ein neues Thema eingeschossen.
„Oh, ihr wollt noch an den See! Das wusste ich bisher gar nicht."
Der letzte Satz ist ein Seitenhieb an mich, aber ich ignoriere ihn gekonnt und starre weiter gerade aus. Das erscheint mir die sicherste Variante. Zumindest bis sich plötzlich im Nachbargarten die Terrassentür öffnet und Noah heraustritt. Ich verschlucke mich sofort am Eiskaffee und huste erstickt, im Bemühen nicht zu laut zu sein. Aber zu spät – Noah dreht sich um und entdeckt uns über die halbhohe Hecke, die zwischen den Grundstücken verläuft. Während ich nach Luft ringe – natürlich wegen des Verschluckens und nicht wegen ihm – löst sich die Falte zwischen seinen Augenbrauen auf und weicht einem Lächeln.
„Oh, hallo Noah!"
Mom, die wie ich mit Aussicht auf das Grundstück der Millers steht, winkt erfreut und innerhalb einer Sekunde fliegen die Köpfe von Eva und Allie herum. Ich kann es aus meinem Blickwinkel nicht sehen, aber ich bin mir sicher, dass die beiden ihn einmal gründlich abchecken, und kann nichts gegen die Röte tun, die in meine Wangen steigt.
„Hi Susanne. Das ist ja eine richtige Versammlung bei euch. Habe ich was verpasst?"
Die Art, wie Noah zur Hecke schlendert hat nichts aufdringliches. Er wirkt ehrlich interessiert und ich will mich gerade dazu zwingen, mich mit einem tiefen Atemzug zu entspannen – immerhin wird er mich wohl kaum vor allen auf das, was er am Wochenende gesehen hat, ansprechen – da dreht sich Eva kurz zu mir und formt mit den Lippen ein „Wow!". Sofort sitze ich wieder kerzengerade da.
„Die Mädels haben sich getroffen, um etwas Mathe zu pauken." Halb erwarte ich, dass Mom noch so etwas anhängt wie „Du weißt ja, May hatte da schon immer ihre Schwierigkeiten." Aber dankbarer Weise hat sie wohl heute nicht das Bedürfnis, mich in Verlegenheit zu bringen. Stattdessen hebt sie nur ihr leeres Tablett an und ergänzt: „Ich bin nur die Eiskaffee-Beauftragte."
Noah lacht über Moms kleinen Scherz, während ich mir ein Stöhnen verkneifen muss, erst Recht als ich sehe, wie sie stolz grinst. So witzig war das jetzt auch nicht.
„Und was machst du an so einem schönen Sommertag? Kannst du deine Semesterferien genießen?"
Ich hätte nie gedacht, dass ich Mal lieber Mathelernen würde, als etwas anderes zu tun. Aber muss Mom jetzt ein Gespräch anfangen? Wir sind hier noch nicht fertig. Allerdings wirken weder Eva noch Allie so, als würde sie die Unterbrechung sonderlich stören. Stattdessen beobachten sie wie gebannt Noah und ich kann den Drang nicht länger unterdrücken, ihn unter halbgesenkten Lidern zu mustern.
Er sieht gut aus in seiner grauen kurzen Jogginghose und dem weißen Oversize-Shirt. Was einfach nur unfair ist. Wieso können Männer selbst in den simpelsten Sachen zum Anbeißen aussehen? Ich würde in dem Look völlig verwahrlost wirken.
„Naja, um ehrlich zu sein", mit einem verlegen Lächeln kratzt sich Noah am Kopf und es ist erschreckend, wie vertraut mir die Geste nach nur drei Begegnungen ist. „Mir fällt ein bisschen die Decke auf den Kopf. Meine alten Kumpels arbeiten alle unter der Woche, was es hier etwas eintönig macht."
Wieso reichen diese Worte, um mein Herz zu einem kleinen Satz zu bewegen? Es sollte mir egal sein, dass Noah sich langweilt. Stattdessen erwische ich mich dabei, ihn dazu einladen zu wollen mit uns...
„Oh! May will mit ihren Freunden noch an den See fahren. Ich bin mir sicher, du kannst dich anschließen wenn du willst."
Einsetzt schaue ich meine Mutter an, auch wenn sie nur die Worte ausgesprochen hat, die mir selbst durch den Kopf gegangen sind. Es ist nicht ihr Recht, eine solche Einladung auszusprechen und jetzt wo sie es getan hat, würde ich sie am liebsten zwingen, sie zurückzunehmen. Die Aussichten darauf werden jedoch noch bedeutend schlechter, als Eva sofort begeistert zustimmt und selbst Allie mit den Schultern zuckt. Dadurch richten sich alle Augen erwartungsvoll auf mich, was in erster Linie dazu führt, dass meine Wangen heiß werden.
Wie in Gottes Namen bin ich jetzt schon wieder in dieser Situation gelandet? Zögerlich schaue ich zu Noah, der mit einem kleinen Lächeln den Blick erwidert. Er sieht völlig entspannt aus, während ich mich in mein dreizehnjähriges Ich zurückversetzt fühle, das in seiner Anwesenheit kaum ein Wort rausbekommen hat.
„Ich kann euch auch eine kostenlose Autofahrt im Austausch anbieten." Sein Lächeln wird noch ein Stück charmanter und ich höre geradezu Evas Herz dahinschmelzen. Mich wiederum reißt es aus meiner Starre. Ich bin nicht mehr ein kleines unbedarftes Mädchen und ich werde mich nicht von ihm wieder in diese Rolle drängen lassen.
Stattdessen knipse ich ebenfalls mein süßtes Lächeln an und lehne mich entspannt in meinem Stuhl zurück. „Das hört sich nach einem fairen Deal an. Abfahrt in einer Stunde?"
Wahrscheinlich ist es unfair von mir, dass ich erwarte, Noah würde selbstgefällig reagieren. Zumindest fühle ich mich schuldig, als mich sein dankbares Lächeln überrascht.
„Perfekt, dann gehe ich noch kurz einkaufen. Wollt ihr etwas bestimmtes zu trinken oder essen? Also natürlich alkoholfrei."
Den letzten Satz hängt Noah mit einem Seitenblick zu meiner Mom an, die sich darauf mit einem kurzen Winken nach drinnen zurückzieht. Was... erstaunlich cool von ihr ist.
Eva schafft es kaum eine Sekunde zu warten, bis die Terrassentür hinter Mom zufällt, da wendet sie sich schon strahlend an Noah. „Könntest du ein paar Ciders kaufen? Die Jungs nehmen immer nur Bier mit."
Eva schüttelt sich und Noah lacht. „Klar, gerne. May, willst du noch etwas?"
Mein Name aus seinem Mund ist wie eine beiläufige Berührung: aufregend und angenehm zu gleich. In jedem Fall erwischt sie mich unerwartet und ich bin stolz auf mich ein leichtes, nichtssagendes Lächeln auf den Lippen zu behalten.
„Ich schließe mich dem Cider an, danke dir. Allie hast du noch etwas?"
„Ein zuckerfreier Energy Drink." Wie immer wirkt Allie auf lässige Art und Weise beteiligungslos, wie sie auf ihrem Handy herumtippt und nur kurz aufblickt. Sie rockt ihren Punk Style mit einem schwarzen Minirock und einem verwaschenen grauen Croptop, welches an der Seite mit Schnallen verziert ist. Obwohl sie deswegen in der Schule heute bestimmt fünf Mal verwarnt wurde, beneide ich sie gerade darum. Mit meinem locker fallenden T-Shirt und der kurzen Sweatshort, die ich mir hier zu Hause schnell übergeworfen habe, sehe ich gleich drei Jahre jünger aus.
„Alles klar, ist notiert. Dann ruft mich einfach an, wenn ihr los wollt. Hast du noch meine Nummer?"
Ich brauche eine Sekunde, bis ich verstehe, dass Noah mich meint, was ziemlich dumm ist. Denn wen sollte er sonst meinen? Entsprechend fällt mein Kopfschütteln, welches von einem wenig einfallsreichen „Ähm" begleitet wird, gehetzter aus, als beabsichtigt.
Das bringt Noah zum Schmunzeln, ich sehe das Aufblitzen in seinen Augen. Aber er besitzt den Anstand darüber hinwegzutäuschen. „Soll ich sie dir kurz geben?"
Mein Gehirn hat einen Aussetzer. Anders kann ich mir nicht erklären, weshalb ich nur ein kleines Nicken zustande bekomme, bevor ich aufstehe und zu Noah an die Hecke trete. Von der coolen, erwachsenen May, die ich ihm eigentlich gerne präsentieren würde, ist jedenfalls nicht viel übrig, während er viel zu entspannt wirkt.
Wortlos reiche ich ihm mein Handy und er tippt kurz darauf herum. Dass ich dabei Allies und Evas Blick im Rücken spüre, macht es mir leider nicht leichter, die kurze Verschnaufspause zu nutzen, um mich wieder zu sortieren. Ich kann Evas Gedanken geradezu hören. Oh mein Gott! Er gibt ihr seine Nummer. Die Gründe dafür sind völlig egal, sie wird es als halbe Liebeserklärung sehen.
Ich muss mir ein trockenes Lachen verkneifen, aber irgendwie hilft der Gedanke dabei, mich zusammenzureißen. Als Noah mir mein Handy zurückgibt, lächle ich ihn freundlich an und sage: „Na dann, bis gleich."
Dass die kurze Berührung unserer Finger mir einen kleinen elektrischen Schlag verpasst, lasse ich mir nicht anmerken. Und auch Noahs schiefes Grinsen bringt mich nicht aus der Bahn. „Bis gleich."
Ich drehe mich um und gehe zurück auf meinen Platz, ohne einen Blick über die Schulter zu werfen, auch wenn der Drang dazu groß ist. Es soll nicht so wirken, als wäre ich mir jeder seiner Bewegungen bewusst. Trotzdem rast mein Herz, als ich schließlich sitze und Noah gerade noch sehe, wie er wieder ins Haus verschwindet. Zittrig nehme ich einen tiefen Atemzug.
„Oh. Mein. Gott." Theatralisch schnappt sich Eva ihren Block und fächelt sich Luft zu. „Verdammt, war ich betrunken, um diesen Anblick zu vergessen. Wäre er nicht deiner, würde ich versuchen ihn mir zu schnappen."
Evas Worte bringen Allie zum Lachen, während meine Wangen Mal wieder glühen.
„Er ist nicht meiner."
Die Worte kommen weniger überzeugt aus meinem Mund, als ich das eigentlich wollte, und Allie betrachtet mich mit einer Augenbraue spöttisch hochgezogen.
„Süße, das Wort verknallt steht dir quasi auf die Stirn geschrieben."
Das habe ich leider befürchtet und so gerne ich mich gegen die Aussage verteidigen würde, entkommt mir nur ein verzweifeltes Stöhnen. Was soll ich tun? Mein Körper scheint auf Noahs Anwesenheit von ganz allein zu reagieren, egal wie vernünftig ich versuche, über die Situation nachzudenken.
„Na hallo, aber er flirtet auch nicht subtil. Und du May, kann ich dir noch etwas mitbringen? Meine Nummer gibt es kostenlos dazu." Eva verstellt ihre Stimme und lässt ihre Augenbrauen bedeutungsvoll wackeln. Am liebsten würde ich ihr den Mund zu halten. Aber ich kenne Eva, das würde sie nur noch lauter weiter machen lassen. Also belasse ich es dabei mich peinlich berührt zu vergewissern, dass Noah die Terrassentür hinter sich geschlossen hat.
„Erstens hat Noah das absolut nicht in diesem Tonfall gesagt. Und zweitens hat es nur Sinn ergeben, dass er mir seine Nummer gegeben hat. Das hatte absolut gar nichts mit flirten zu tun."
„Rede es dir ruhig ein", erwidert Eva wenig überzeugt und auch von Allie erhalte ich auf meinen hilfesuchenden Blick nur ein Schulterzucken. Na super, das kann später ja noch heiter werden.
Meine Konzentration ist die nächste dreiviertel Stunde jedenfalls eine Katastrophe und da auch Eva lieber über Gott und die Welt tratscht, gibt es Allie irgendwann auf. Dadurch bleibt mir etwas mehr Zeit als geplant, um mir Gedanken über mein Outfit zu machen, was mir sehr willkommen ist. Eva erklärt sich natürlich als Modeberaterin bereit und auch Allie gibt mit einem Nicken oder kritischen Stirnrunzeln ihre Meinung zu meinen verschiedenen Bikinis ab.
Letztendlich landen wir bei einem schlichten weißen Triangel, der jedoch durch den Kontrast meine braune Haut betont. Darüber ziehe ich ein lockeres T-Shirt-Kleid, was es wahrscheinlich noch lächerlicher macht, dass wir für dieses Outfit über eine Viertelstunde gebraucht haben. Hauptsache man sieht mir die Mühe nicht an. Die Haare mit einer Klammer hochgesteckt und mit meinen Birkenstock bewaffnet, bin ich schließlich fertig. Die anderen zwei ziehen sich ebenfalls noch kurz um, wobei sich Eva spontan entscheidet, doch lieber einen meiner Bikinis auszuleihen, anstatt ihren anzuziehen.
„Du hast so viel schönere Sachen!" Sie dreht sich einmal vor meinem Spiegel um die eigene Achse und ich muss sagen, dass ihr das Babyblau des Bikinis wirklich sehr gut steht. Er passt perfekt zu ihren blonden Locken.
„Stimmt nicht, an mir sehen sie nämlich nicht halb so gut aus."
Mit einem langgezogenen „Ohhhh!" fällt mir Eva um den Hals und ich erwidere lächelnd die Umarmung. Allies Würgegeräusche hätte ich nicht gebraucht, um zu wissen, dass sie sich über uns lustig macht. So ist das seit unserer Kindheit und wie immer, drehen Eva und ich uns grinsend zu ihr um und ziehen sie mit in die Gruppenumarmung, bevor sie sich wehren kann.
„Hört auf Leute!" Steif wie ein Brett versucht sich Allie rauszuwinden, aber wenn es um Umarmungen geht, entwickelt Eva Superkräfte.
„Hör auf dich so anzustellen und akzeptiere, dass wir dich mit all deinen Ecken und Kanten lieb haben. Egal, was du tust."
Evas ernster Tonfall passt überhaupt nicht zu dem Grinsen auf ihrem Gesicht, doch Allie ergibt sich stöhnend. „Ihr seid unmöglich."
„Wissen wir", antworten Eva und ich synchron und kichern beide drauf los.
„Und das ist gruselig." Allie verbiegt sich, bis sie genug Abstand hat, um uns einen beunruhigten Blick zu schenken. Der Anblick, den sie dabei bietet, bringt mich jedoch nur noch mehr zum Lachen, bis mein Bauch schmerzt und Allie ein fieses, jedoch gekonntes Ablenkungsmanöver einfällt.
„May, solltest du nicht so langsam mal deinen süßen Nachbar anrufen, damit wir loskommen?"
Eva beißt bei dem Köder sofort an und innerhalb von einer Sekunde hat sie sich aus der Umarmung gelöst und hüpft klatschend in meinem Zimmer auf und ab. „Oh ja!"
Wieso ist mir auf einmal so gar nicht mehr zu lachen zu mute? Aber rausreden kann ich mich nicht mehr. Also greife ich mit einem komischen Bauchgefühl nach meinem Handy auf dem Bett und öffne meine Kontakte. Noah ist schnell gefunden, indem ich nach seinem Namen suche, doch die Ergänzung, die er in seinen Kontakt reingeschrieben hat, lässt mich stutzen.
Noah Miller Burgenkiller
Meine Augen fliegen bestimmt ein dutzendmal über die Zeile, bis meine Mundwinkel unter einem unterdrückten Lachen zuckt. Wer hätte das gedacht...
„Was ist da? Ich will auch was zu lachen haben!"
Neugierig wie immer versucht Eva einen Blick auf mein Handy zu erhaschen. Doch ausnahmsweise versperre ich ihr die Sicht, indem ich mein Handy an die Brust drücke. Eigentlich gibt es nichts, was ich nicht mit ihr teile. Aber die Erinnerung daran, wie Noah früher immer Burgen gebaut hat, um sie dann zu zerstören – einschließlich derer, die ich gebaut habe – fühlt sich zu intim an. Es ist eine kleine Erinnerung, die nur zwischen uns existiert, und nun durch seinen Kontakt auf meinem Handy verewigt ist.
Ich verliere endgültig gegen das Grinsen auf meinen Lippen und so ist das „Nichts" aus meinem Mund wohl mehr als nur ungläubig. Das bringt Eva zum Schmollen, aber sobald ich Anstalten mache, Noah anzurufen, ist sie schon wieder darüber hinweg. Stattdessen stellt sie sich direkt neben mich und macht mit ihrer hibbeligen Art meine Nervosität nur noch schlimmer. Ich habe Noahs Nummer. Ich rufe ihn an. Mein vierzehnjähriges Ich wäre völlig außer Rand und Band. Meinem siebzehnjährigen Ich geht es nicht viel besser, aber es reißt sich zusammen, als das Tüten von einer tiefen Stimme abgelöst wird.
„Hey."
„Hi, May hier." Logischer Weise. Wahrscheinlich erwartet er nicht allzu viele Anrufe von einer fremden Nummer in den nächsten Minuten.
„Hi May." Das Lachen ist seiner Stimme anzuhören und lässt sie warm klingen. Sofort läuft mir ein Schauer über den Rücken und Eva beißt sich neben mir heftig auf die Lippe, um ein Quietschen zurückzuhalten.
„Seid ihr soweit? Wenn ihr wollt, könnt ihr einfach rüberkommen und wir fahren los."
Noahs Worte erinnern mich daran, dass ich mit einer Antwort dran gewesen wäre und ich schlucke das peinlich berührte Stöhnen runter, welches in mir hoch kommt.
„Ja genau, wir sind so weit. Dann schnappen wir uns unsere Sachen und treffen uns bei euch in der Auffahrt?"
„Hört sich perfekt an." Wieder dieser warme Tonfall, der sein Grinsen verrät. Gott, wie können mich fünf Sätze am Telefon bereits so einlullen? Ich muss mich dringend wieder in den Griff bekommen.
„Prima, dann bis gleich."
Ich beende das Telefonat genauso ungeschickt, wie ich es begonnen habe, und wäre ich allein, hätte ich den Kopf für einen verzweifelten Schrei in meinen Kissen vergraben. So lächle ich wacker, als wäre das nicht das unangenehmste Telefonat seit Jahren gewesen, zu meinen Freundinnen. „Na dann, los geht's ."
Dass Allie in schallendes Gelächter ausbricht, hilft leider nicht dabei, meine Gesichtsfarbe von Tomate zurück auf menschlich zu schrauben.
Kein Wort gegenüber seinem Schwarm rausbekommen... wer kennt das auch? 😬🙋♀️ Aber May hat sich doch insgesamt ganz gut geschlagen 😊
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