Kapitel 26
Am nächsten Morgen werde ich wohl zum ersten Mal nicht von Mom geweckt, obwohl es bereits nach zwölf ist und durch die Lamellen des Rolllandens Sonnenlicht strömt. Was daran liegen könnte, dass Mom selbst noch schlafend neben mir in ihrem Bett liegt.
Mit einem Lächeln betrachte ich ihr Gesicht, welches mir friedlicher vorkommt als seit Monaten. Genauso wie ich mich so gelöst fühle, wie seit der Trennung meiner Eltern nicht mehr.
Nach all den Emotionen gestern Nacht hat Dad bestimmt entschieden, dass es für uns alle an der Zeit ist, eine Mütze Schlaf zu bekommen. „Alles weitere lässt sich auch noch morgen besprechen", hat er gesagt und mir liebevoll über den Scheitel gestrichen, bevor er sich ins Auto gesetzt hat und nach Hause gefahren ist. Es hat sich falsch angefühlt, ihn gehen zu lassen. Aber gut, zu wissen, dass er keine halbe Stunde entfernt ist.
Als nächstes ist Tim kommentarlos verschwunden und so sind nur Mom und ich übriggeblieben. Wir haben uns angeschaut, dann hat Mom die Augen verdreht und „Männer. Kaum kommen Tränen ins Spiel, ziehen sie sich aus der Affäre" gemurmelt, bevor wir beide in Gelächter ausgebrochen sind. Es war wie früher und weil ich dieses Gefühl nicht gehen lassen wollte, bin ich oben an den Schlafzimmern angekommen einfach zu Mom unter die Bettdecke gekrochen. Sie hat ohne einen Kommentar die Decke um mich herum festgesteckt, wie ich es früher immer zum Einschlafen gebraucht habe, und ist dann neben mir eingeschlummert.
Jetzt winde ich mich ungeschickt aus dem Deckenknäul, in dem Versuch Mom nicht zu wecken. Sie hat sich den Schlaf verdient. Scheiß auf Zeiten, zu denen man nicht schlafen sollte. Diese Regel fand ich schon immer bescheuert. Auf Zehenspitzen schleiche ich mich aus dem Zimmer und recke mich, während ich die Treppen runter tapse. Eigentlich wollte ich mir nur ein Glas Wasser holen, aber bei der Musik, die mir aus der Küche entgegenklingt, halte ich überrascht inne. Ich glaube ich träume noch.
Fest zwicke ich mich in den Oberarm, während ich ungläubig meinen Bruder dabei beobachte, wie er ein Stapel Toast zum Esstisch balanciert. Aber nein, ich bin wach. Und das hier grenzt an einem achten Weltwunder.
„Willst du Mom und mich jetzt auch noch auf Toast-Diät setzen, oder was wird das?"
Bei meinen Worten zuckt Tim erschrocken zusammen. Über seinen Gangsterrap hinweg, hat er mich nicht kommen gehört. Glücklicher Weise rettet er den Toast jedoch mit einem kleinen Hechtsprung auf den Tisch, bevor der Turm in sich zusammenfällt.
„Mann May! Schleich dich doch nicht so an."
Ich bin mir nicht sicher, ob es Empörung oder Verlegenheit ist, die Tim eine zarte Röte auf die Wangen zaubert, aber ich beschließe meinen Bruder ausnahmsweise vom Haken zu lassen und inspiziere, was er vorbereitet hat.
Drei Gläser Orangensaft stehen bereits auf dem Tisch neben verschiedensten Aufschnitt und Aufstrich. Dazu hat er eine Schale Beeren angerichtet und weil ich die Geste so süß finde, weise ich ihn nicht darauf hin, dass ich diese eigentlich für meinen Joghurt geholt habe. Stattdessen lasse ich ihn weiterzappeln, während ich wortlos durch die Küche laufe, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und das köstlich duftende Rührei inspiziere, das auf dem Herd wartet.
„Wie du siehst gibt es nicht nur Toast, Ms Hohe-Ansprüche."
Trotz der Stichelei ist Tims Stimme die Nervosität anzuhören. Er wartet auf mein Urteil und der Moment ist zu göttlich, um ihn nicht noch ein bisschen auf die Folter zu spannen. Also nehme ich mir, das Gesicht zu einer undeutbaren Miene versteinert, einen Löffel von dem Rührei und will ihm gerade schon ein Kompliment für die ganze Mühe machen, da entfährt mir ein Fluch.
„Heilige Scheiße, Tim! Das ist ja viel zu viel Salz."
Ich schaffe es gerade so bis zum Spülbecken, bevor ich den Biss ausspucke und mir gleich ein Glas mit Wasser fülle, um gründlich nachzuspülen. In der Zwischenzeit hat sich die Röte auf Tims Wangen verfestigt, während er es mir gleichtut und ein Löffel von dem Rührei probiert, ohne auch nur die Miene zu verziehen. „Weiß nicht, was du meinst. Schmeckt doch gut. Nicht so lasch, wie das was du immer kochst."
Ungläubig starre ich ihn an, bevor ich den Kopf schüttle. „Mit was hast du denn deine Geschmacksknospen abgetötet?"
Doch bevor mein Bruder antworten kann, kommt Mom mit einem Gähnen herein. „Wenn meine zwei Kinder sich am Morgen kabbeln, dann ist alles wieder in Ordnung."
Für einen Moment kann ich Moms Tonfall nicht lesen. Klingt sie genervt? Frustriert? Erschöpft? Doch dann schleicht sich ein Lächeln auf ihr Gesicht und sie drückt uns nacheinander einen lauten Schmatzer auf die Stirn.
„Guten Morgen meine Kinder!" Über Moms glücklichen Tonfall ist Tims genervtes „Mom!" fast zu überhören. „Wer hat denn das tolle Frühstück angerichtet?"
Ich schnaube und verschränke die Arme, doch eigentlich muss ich mir ein Lächeln verkneifen. „Freu dich nicht, bevor du Tims Rührei probiert hast. Das Tote Meer ist Nichts im Vergleich."
„Habe ich schon Mal erwähnt, dass Geschwister überbewertet werden? Ich wäre deutlich lieber ein Einzelkind." Tims finster Blick bringt mich nur zum Grinsen, und als er sich mit einem beleidigten Naserümpfen wegdrehen möchte, sehe ich ganz genau, dass auch an seinen Mundwinkeln eins zupft.
„Ich bin mir sicher es ist köstlich! Vielen Dank mein Großer." Wie um zu zeigen, dass sie ihre Worte ernst meint, schaufelt sich Mom eine große Portion Rührei in den Mund und ich verkneife mir das Lachen, als ich die roten Flecken entdecke, die ihren Hals hochkriechen, während sie ihr Bestes gibt, ihr Lächeln beim Kauen aufrecht zu halten. Sie hält sich wacker. „Mhhm, köstlich."
Unauffällig schiebe ich ihr mein Glas zu, dass sie dankbar ergreift, als Tim sich murrend abwendet, um die letzten Dinge aus dem Kühlschrank zu holen. Als wir uns schließlich an den Esstisch setzen verdünnt Mom Tims Salz-Rührei stets mit zwei Bissen Toast. Aber sie hält bis zum Ende durch.
„Kinder." Gerade spült sie den letzten Krümel Rührei mit einem großen Schluck Orangensaft runter und lehnt sich im Stuhl zurück. „Ich möchte gerne mit euch ein paar Dinge durchsprechen, bevor ich mich gleich mit Matthias treffe."
Damit hat Mom sofort meine volle Aufmerksamkeit. Sie trifft sich mit Dad?
„Euer Vater und ich hatten gestern viel Zeit um uns über so einiges zu unterhalten. Ich befürchte, wir haben noch immer viel aufzuarbeiten, damit wir als Familie auf neue Art und Weise wieder funktionieren, aber", mit einem Seufzen trommelt sie mit den Fingern auf dem Tisch. „Ich denke wir haben einen guten Anfang gefunden."
Mom lächelt kurz in die Runde, doch die Falte zwischen ihren Augen will trotzdem nicht ganz verschwinden.
„Das Haus alleine zu unterhalten ist... nun ja, schwer, wie ihr selbst mitbekommen habt. Mit der Vollzeitstelle und allem drum und dran bin ich einfach überfordert, auch wenn es mir schwerfällt, das einzugestehen." Moms Blick bleibt an mir hängen und ich sehe die Entschuldigung in ihren Augen. „Wir müssen alle anpacken, damit das funktioniert, weshalb ich gerne mit euch durchgehen würde, wer welche Aufgaben übernehmen kann."
Tim und ich schauen zueinander, bevor wir asynchron nicken. Es fühlt sich gut an, gefragt zu werden. Wir alle wollen in diesem Haus bleiben und ich habe kein Problem, einen Teil dazu beizutragen. Solange ich selbst auch eine Stimme bei dem Thema habe.
Mom entkommt ein erleichtertes Seufzen, bevor sie uns dankbar anlächelt.
„Euer Vater will auch seinen Teil dazu beitragen. Er hat angeboten, uns mit einer Putzkraft zu unterstützen, die uns hier unter die Arme greift. Was sehr... nett von ihm ist."
Ich beiße mir auf die Wange, um nicht zu lachen, als Mom angestrengt die Stirn runzelt. Etwas positives zu Dad zu sagen sieht bei ihr aus, wie Gewichtstämmen. Aber das Lachen vergeht mir, als Mom sich im nächsten Moment mit ernstem Gesichtsausdruck an mich wendet.
„Und May, es tut mir leid, wenn du das Gefühl hattest, ich nehme dir dein Leben oder die Dinge, die dir Freude bereiten, weg. Das war nie meine Absicht, ich hoffe das weißt du."
Ich schlucke schwer und fühle mich schlecht, Mom diese Worte an den Kopf geworfen zu haben. Natürlich weiß ich das. Mit dem Hausarrest und der Aufführung, die mir Mal wieder vor Augen geführt hat, wie sehr ich das Tanzen vermisse, hat sich alles nur nach Weltuntergang angefühlt.
„Deshalb und auf Anregung eines besorgten Nachbars", Moms Augenbrauen wandern nach oben, während sie mir einen bedeutungsvollen Blick zu wirft, als wolle sie wortlos sagen: Was habe ich da eigentlich nicht mitbekommen? „Möchten wir dir das Tanzen wieder ermöglichen."
In der einen Sekunde, will mir wegen Noah noch die Röte in die Wangen kriechen, in der nächsten steht mir der Mund offen und alles ist vergessen. Ich starre Mom an, in der Erwartung, dass sie gleich zu lachen anfängt oder ihre Worte relativiert. Aber sie blickt mir nur entschlossen entgegen und ohne eine bewusste Entscheidung zu treffen, stehe ich plötzlich hinter ihr und umarme sie fest.
„Danke, danke, danke!"
Bei jedem Wort vollziehe ich einen kleinen Hüpfer, sodass Mom ordentlich durchgerüttelt wird, aber sie lacht nur fröhlich und erwidert so gut wie möglich die Umarmung. Trotzdem befürchte ich, nicht vermitteln zu können, wie viel mir das bedeutet.
Nach dem Frühstück verziehe ich mich hoch in mein Zimmer. Aber ausnahmsweise lasse ich die Tür offen, während ich mich an meine Hausaufgaben setze und parallel mit Eva schreibe. Natürlich musste ich ihr sofort erzählen, dass ich wieder ins Tanzen komme. Ihre Antwort besteht aus einem „Ahhhhhhhhhhh!" mit so vielen H's, dass es zwei Zeilen einnimmt, und einer Vielzahl an Emojis. Danach muss ich ihr erklären, wie es dazu gekommen ist, und mir scheint es selbst absurd, wie viel in nur einer Nacht vorgefallen ist.
Ich versuche die Panne und meine Flucht an den See möglichst harmlos zu schildern. Aber Eva kennt mich viel zu gut und nachdem sie mir droht, die Freundschaft zu kündigen, wenn ich ihr das nächste Mal nicht Bescheid gebe, wenn ich in der Klemme stecke, schwöre ich ihr, dass ich sie das nächste Mal als erstes anrufe. Nicht dass ich vor habe, allzu bald wieder mit einem Platten am Straßenrand zu stehen.
Ich beiße mir auf die Unterlippe, um das Lächeln zu unterdrücken, als meine Gedanken weiterwandern. Zu Noahs besorgtem Gesichtsausdruck, der Art wie er mich fest in die Arme geschlossen hat und seinen Worten bevor ich mich meinen Eltern gestellt habe. Vielleicht habe ich Eva doch angeflunkert. Vielleicht würde ich auch das nächste Mal jemand anderen zuerst anrufen. Wenn dieser jemand dann nicht mehrere zig Kilometer von hier entfernt wäre.
Ein Stein legt sich in meinen Magen und plötzlich fehlt mir jegliche Konzentration für die Matheaufgaben. Ist Noah schon gefahren? Nur wegen mir hat er seinen Zug gestern verpasst. Bestimmt hat er direkt heute morgen den nächsten genommen und ist nun wieder so unerreichbar wie eh und je. Dabei habe ich so viele Fragen. So viele Dinge, die es noch zu klären gibt.
Der Gedanke knockt mich aus, als hätte mich ein Güterzug mit Vollgas erwischt. Ich kann nicht fassen, dass dieser Monat mit all seinen Hoch und Tiefs vorbei sein soll. Ich meine, ich habe Noah geküsst! Und das nicht nur einmal. Wir haben gelacht, wir haben geredet... wir waren Freunde. Und jetzt?
Werden wir wieder entfernte Bekannte, die Erinnerung an was war als traurige Ballade im Hinterkopf, wann immer wir uns sehen? Die Vorstellung macht mich traurig, bis ich mich am liebsten im Bett verkriechen und nie wieder hervorkommen würde. Dabei hat Noah so vieles bewegt. Er hat mich den ersten Schritt auf meinen Vater zugehen lassen. Er hat mir den Mut geschenkt, meiner Mom zu sagen, wie es mir geht. Und jetzt hat er mir auch noch das Tanzen zurückgegeben.
Ich starre mein Handy an, hin und her gerissen, ob ich ihm schreiben soll. Dabei weiß ich gar nicht, wie ich meine Dankbarkeit in ein paar getippte Worte verpacken soll. Wie ich ausdrücken kann, was ich für ihn empfinde, und ihm gleichzeitig klar machen kann, dass er sich deswegen nicht zu irgendetwas gedrängt fühlen muss. Aber wenn ich es jetzt nicht los werde, dann wird es immer in meinem Herzen sitzen und mich mit seinem leisen Was wäre wenn quälen.
Mit dem tapferen Mut einer verliebten Vollidiotin schnappe ich mir mein Handy und öffne Noahs Kontakt, als Moms Stimme von unten erklingt. „May!"
Mit einem langgezogenem „Uff" entkommt mir die Luft, während ich in mich zusammensinke, wie ein Luftballon, in den man ein Loch gestochen hat. Ihr Timing könnte doch wirklich nicht besser sein.
Da ich zu lange für meine Antwort brauche setzt meine Mom nach: „Kommst du bitte mal?"
Ich öffne die Augen, die mir in stummer Verzweiflung zugefallen sind, und stehe ergeben auf. Der Moment meiner Entschlossenheit ist sowieso vorbei. Enttäuscht, erleichtert und alles dazwischen schlürfe ich auf den Flur und stapfe langsam die Treppen runter. „Ja, was ist?"
Mom steht im Flur bereits in ihren Mantel eingepackt und Aufbruch bereit. Das freudige Funkeln in ihren Augen will jedoch nicht so ganz dazu passen, dass sie sich gleich mit Dad trifft.
„Ich glaube, da wartet jemand auf dich."
Ihre Worte erreichen mich gerade als ich die letzte Stufe nehme und um die Ecke biege. Sie bereiten mich jedoch trotzdem nicht darauf vor, mit einem Mal Noah gegenüber zu stehen, der mich verlegen anlächelt.
Er sieht zum Niederknien aus. Mit der babyblauen Mütze auf dem Kopf, die so gut zu seinen Augen passt, und den braunen Locken, die darunter hervorspitzeln. Dazu ein schwarzer Packer, der seine Schultern noch breiter wirken lässt, und weiße Sneaker, die beeindruckend sauber sind. Meiner Meinung nach, könnte er genauso Modell für dieses Outfit sein. Während ich in einer Leggings stecke, dicke Kuschelsocken darüber gezogen habe und einen weiten Sweater trage, der mir gute drei Größen zu groß ist.
„Hi." Noahs Stimme beschert mir eine Gänsehaut und wenig einfallsreich erwidere ich seinen Gruß. Danach wird es still, während Noahs und mein Blick nicht voneinander loskommen. Es ist als würde ich selbst aus der Entfernung in den blauen Tiefen versinken. Zumindest bis sich Mom lautstark neben mir räuspert.
„Nun, ich muss jetzt los, aber so schön wie das Wetter ist, würde ich euch empfehlen einen Spaziergang zu machen. Habe gehört, dabei redet es sich gut."
Moms Zwinkern könnte absolut alles heißen, aber es ist nicht das, was mich überrascht zu ihr schauen lässt. „Ist mein Hausarrest etwa vorbei?"
Die letzten Sachen in ihre Tasche packend, schmunzelt Mom. „Solange es nicht deine neue Taktik wird, mir einen halben Herzinfarkt zu bescheren, um dem Hausarrest zu entkommen: ja, er ist vorbei. Du hast es dir verdient, Schatz."
Perplex lasse ich mir einen Kuss auf die Stirn drücken, bevor sich ein breites Lächeln auf mein Gesicht schleicht. Endlich, Freiheit!
Mom schüttelt lachend den Kopf über das räuberische Grinsen auf meinen Lippen, dann winkt sie ein letztes Mal und verschwindet raus auf die Auffahrt, um wenige Sekunden später mit den Auto abzudüsen. Dadurch kann sie nicht mehr Zeugin meines kleinen Freudentanzes werden, doch zumindest Noah scheine ich damit herrlich zu amüsieren. Sein Lachen macht mir nicht einmal etwas aus, so glücklich bin ich in diesem Moment.
Als sich unsere Blicke wieder treffen, funkeln seine Augen warm. „Schön zu sehen, dass zwischen euch wieder alles gut ist."
„Gut?" Mit einem kleinen Hüpfer trete ich direkt vor Noah und wippe vor kribbeliger Energie auf und ab. „Wegen dir, du absolut fantastischer Nachbar, darf ich wieder ins Tanzen!"
Ich würde so gerne so viel anderes außer fantastischer Nachbar sagen. Gleichzeitig ist mein Heldenmut wieder winzig klein geworden, jetzt da ich Noah wirklich gegenüberstehe. Wie kann das überhaut sein? Wieso ist er noch hier?
Als hätte er die Frage in meinen Augen gesehen, lächelt Noah sanft. „Das freut mich sehr zu hören. Ich konnte nicht gehen, ohne vorher nochmal nach dir gesehen zu haben. Vielleicht können wir wirklich eine kleine Runde spazieren? Ich würde mich sehr freuen, etwas Zeit mit dir zu verbringen."
Er würde sich freuen? Ich verstehe nicht mal, weshalb Noah fragt. Ich würde ihm überall hin folgen. Überwältigt von der Flut an Emotionen, die in mir aufkommt, nicke ich nur und nutze die Pause zum Schuhe anziehen, um einen tiefen Atemzug zu nehmen. Das hätte ich mir aber gleich sparen können, denn sobald Noah mir vorsichtig eine Hand in den Rücken legt, um mich raus zu begleiten, ist das mit dem Atmen schon wieder vergessen. Aus, ein. Aus, ein. So geht das, May.
Mom hat recht. Das Wetter ist herrlich. Wie es sich für einen wunderschönen Herbsttag gehört. Die Sonne scheint, das Laub auf den Bäumen strahlt in den verschiedensten Farben und eingekuschelt in einen Pullover und Jacke ist es weder zu warm noch zu kalt. Diese Beobachtung hilft, um meinen Herzschlag zu beruhigen, während wir einige Meter laufen und ich Noahs Hand noch immer sanft in meinem Rücken spüre.
„Also konnten du und deine Eltern die Dinge gestern ins Reine bringen?" Noahs Stimme ist weich und voller ehrlichem Interesse. Ich spüre seinen Blick auf mir, aber da ich Sorge habe, zu vergessen wie man spricht, wenn ich ihn erwidere, lasse ich meinen auf das bunte Laub zu unseren Füßen gerichtet.
„Nicht alles, aber wir haben einen Anfang gemacht. Einen guten. Und ich glaube, dafür schulde ich dir ein großes Dankeschön."
Nun wende ich doch den Kopf zu ihm, um ihm ein aufrichtiges Lächeln zu schenken. Ich weiß nicht, was gestern vorgefallen ist, während ich nicht da gewesen bin. Aber was auch immer Noah zu meinen Eltern gesagt hat, scheint Früchte getragen zu haben. Dieses Mal ist er derjenige, der den Blick abwendet.
„Ich habe nichts gemacht, außer ihnen klipp und klar meine Meinung zu sagen. Es war an der Zeit, dass die beiden sich zusammennehmen und endlich wieder Eltern sind. Mir tut es nur leid, dass ich nicht früher das ganze Bild gesehen habe. Dich ganz gesehen habe."
Er zuckt mit den Schultern, als wären seine Worte keine große Sache. Dabei rutscht seine Hand von meinem Rücken und hinterlässt sofort eine kalte Leere. Mir schnürt es den Hals zu. Denn seine Worte sind eine große Sache. Für mich. Und für den Teil in mir, der seit Monaten nach Hilfe geschrien hat.
„Rede das bitte nicht klein. Nicht wenn es mir so viel bedeutet." Das Gewicht der Worte, lässt meine Stimme beben und Noah erstaunt zu mir blicken. Doch der überraschte Ausdruck in seinen Augen wird schnell von etwas Weicherem, etwas Beängstigenderem abgelöst.
„Wie könnte ich, wenn du mir doch so viel bedeutest?"
Seine Worte rauben mir den Atem. Den Verstand. Einfach alles. Ich kann ihn nur ungläubig anstarren, während Noah mit einem schweren Seufzen den Blick nach vorne richtet, als hätte er für das kommende nicht den Mut, solange er mich direkt ansieht.
„Ich war nicht ehrlich zu dir." Er schluckt und die Unsicherheit in seiner Stimme lässt mein Herz sich zusammenziehen. „And dem Tag, als du nach dem Ausflug mit deinem Dad vor meiner Tür standest. Als du... naja, du weißt schon was." Wieso ist es nur so niedlich, wie Noah sich verlegen über den Nacken fährt? Und wieso erwische ich mich auf einmal selbst dabei, wie ich nervös die Hände ringe? „Da war ich nicht ehrlich zu dir. Ich war überrumpelt. Überfordert. Mit dir und mit dem, was du in mir auslöst. Anna, sie war erst wenige Minuten zuvor abgereist, nachdem ich ihr sagen musste, dass zwischen uns... naja, dass zwischen ihr und mir nichts mehr laufen kann."
Noah verzieht das Gesicht und allein der Name Anna lässt mich beinahe aus dem Schritt kommen.
„Sie war verletzt. Zurecht! Weil ich ihr nicht mal erklären konnte, weshalb ich nichts mehr von ihr wollte. Weil ich mir selbst nicht eingestehen konnte, was der Grund dafür war. Und dann kamst du und hast all diese Fragen gestellt und ich... ich... naja, ich habe mich wie ein Vollidiot verhalten, weil es leichter war diese Grenze zu ziehen, als mich auf das einzulassen, was zwischen uns war. Auf das, was mir solche Angst eingejagt hat, weil ich es nie für möglich gehalten hätte. Ich hoffe du verstehst, was ich meine."
Noah zieht eine Grimasse, als er sich endlich wieder an mich wendet, und mein Herz schlägt gefährlich laut in meiner Brust. Weil ich weiß, was er meint und gleichzeitig nicht glauben kann, dass es ihm genauso gehen soll. Weil die Wahrscheinlichkeit mir höher erscheint, zu Tagträumen, als dass Noah genauso empfindet wie ich. Also kann ich nur stumm bleiben, während seine Augen tief in meine blicken.
„Als du mich gestern angerufen hast, als ich für einen Moment dachte, dir sei etwas zugestoßen." Er schluckt schwer. „Da war ich in Panik. So etwas habe ich noch nie empfunden. Als würde mir etwas alle Luft aus der Lunge pressen. Und ich konnte nur noch an dich denken, während ich über die Straßen gerast bin. An dich und die süße Art, mit der du den Kopf schräg legst, wenn du lächelst." Als müsste er mir zeigen, was er meint, neigt Noah den Kopf und lächelt mich zärtlich an. „Wie du dich cool gibst, während dich die Röte auf deinen Wangen verrät." Er lacht leise und wie auf Kommando spüre ich die Wärme in mein Gesicht kriechen. „Und dein Auftreten, das mir jedes Mal den Atem raubt. Gott May", ich tue es Noah gleich und bleibe mitten auf dem Gehweg stehen, als er innehält. Keine Sekunde kann ich mich von diesen wunderschönen Worten lösen, die über seine Lippen kommen. „Als du für dieses dämliche Familienessen vor mir standest, in diesen verdammten Hosen, von denen ich kaum den Blick wenden konnte, und diesem sturen Ausdruck auf deinem Gesicht, ich glaube, da wollte ich das erste Mal küssen."
Die Luft entkommt mir in einem leisen Keuchen und so sehr sich mein Gehirn auch ranhält, es kommt nicht nach, das Gehörte zu verarbeiten. Nur eine Sache bildet sich klar und deutlich in meinem Kopf. „Wieso hast du es nicht getan?"
In Noahs Augen schimmert Frucht gleichermaßen wie Hoffnung. Aber die Ehrlichkeit und Verletzlichkeit des Momentes erlaubt es weder ihm noch mir einen Rückzieher zu machen. „Vielleicht weil ich nicht glauben konnte, wie dieses verrückte Mädchen von nebenan, mit dem ich Sandburgen gebaut und auf Drachen den Weiher erobert habe, auf einmal so viel mehr werden konnte."
Meine Atmung setzt aus. So fühlt es sich zumindest an, als ich mit all meinem Mut die entscheidende Frage stelle: „Und wieso tust du es jetzt nicht?"
Zuerst huscht Überraschung über Noahs Gesicht, doch dann ist da nur noch dieselbe Sehnsucht, die ich auch in meinem Herzen pochen fühle, und seine Lippen auf meinen.
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